Jahrhundertepos ungekürzt

Leo Tolstoi hat in „Krieg und Frieden“ das Russland Anfang des 19. Jahrhunderts wie in einem Brennglas eingefangen. Zu seinem zehnjährigen Jubiläum legt der Audio-Verlag das Jahrhundertepos als ungekürzte Hörbuchfassung auf. Ulrich Noethen liest 67 Stunden auf 53 CDs. Wer die opulente Box kauft, findet darin einen Gutschein für einen MP3-Download.
Zu einem Jahrhundertepos gehören Superlative, und damit kann „Krieg und Frieden“ aufwarten, egal wie man´s dreht und wendet, beispielsweise die Seitenzahlen der Buchausgaben: 1087 oder 1536, und die Diogenes-Ausgabe bringt es sogar auf 2122. Aber verliert solch Zahlenwerk nicht an Abstraktheit, wenn bei dem Hörbuch jetzt die Rede ist von einer Lese- respektive Hörzeit von sage und schreibe 67 Stunden? 67 Stunden Eintauchen – ungekürzt – ins alte Russland zusammen mit rund 250 Personen, die Tolstois Epos bevölkern, vor allem aber natürlich die Begegnung mit Natascha und den Fürsten Pierre und Andrej:

„In diesem Augenblick trat eine neue Person in den Salon. Diese neue Person war der Fürst Andrej Bolkonski, der Gatte der kleinen Fürstin. Fürst Bolkonski war ein sehr hübscher, junger Mann von kleiner Statur mit kantigem magerem Gesicht.“

Krieg und Frieden, Schrecken im Pulverdampf und Tanz im Ballsaal, Teestunden, Bälle, Jagden, die Schlacht bei Austerlitz oder die von Borodino: Leo Tolstoi hat das Russland dieses Anfangs des 19. Jahrhunderts wie in einem Brennglas eingefangen. Das Leben und den Tod:

„Die im Wald überfallenen Infantrieregimenter waren fliehend aus dem Wald herausgestürzt, und die Mannschaften der einzelnen Kompanien waren durcheinander geraten und zogen in unordentlichen Haufen weiter. Einer der Soldaten stieß in seiner Angst die im Krieg so schrecklichen, in diesem Fall aber sinnlosen Worte ´Wir sind abgeschnitten!´ heraus.“

Also Ulrich Noethen. Schauspieler. Der Vorleser. Dem Stunde um Stunde zuzuhören: kein Problem. Im Gegenteil. Gerade weil Ulrich Noethen weniger einen expressiven, sondern eher gelassenen Ton anschlägt. Weniger also das „1000-Stimmen-Hörspiel“, für das sich Rufus Beck bei den Harry-Potter-Lesungen entschieden hat, nein, Ulrich Noethen präsentiert „Krieg und Frieden“ als traditionelle Lesung. Präzise in Betonungen und Spannungsbögen. So wie schon bei der Lesung von Margaret Mitchells Trivialschinken „Vom Winde verweht“ – da brachte es Ulrich Noethen immerhin auch schon auf 43 Stunden Vorlesezeit und bekam von der „Süddeutschen Zeitung“ lobend ein „klassisches Herrentimbre“ bescheinigt.

„Rostow stand in dieser Nacht mit seinem Zug in der Vorpostenkette. Seine Husaren waren paarweise einer langen Postenlinie verteilt. Er selbst ritt an dieser Linie entlang, bemüht, den Schlaf von sich abzuwehren, dem er kaum mehr widerstehen konnte. Hinter sich erblickte er hinter einem gewaltigen Raum ausgedehnt die Lagerfeuer unseres Heeres, deren Glutschein im Nebel nur undeutlich zu sehen war.“

Doch bei aller Verbeugung vor der Leistung des Vorlesers darf der schale Beigeschmack nicht weggelobt werden, der sich bei diesem „Krieg und Frieden“-Hörbuch und ähnlichen Produktionen immer wieder einstellt. „Krieg und Frieden“ ist kulturell „gut abgehangen“. Mit dem Schicksal, dass vielen Klassikern zueigen ist: weltbekannt, aber wenig gelesen. Da könnte das ungekürzte Hörbuch jetzt doch vielleicht diese ´Leselücke´ natürlich füllen. Oder? Ich wollte doch immer schon mal ... Tolstoi ...

„´Mein Gott, oh, mein Gott,´ murmelte die Fürstin, und indem sie mit der einen Hand den Rock ihres Kleides zusammenfasste, trat sie an ihren Mann heran und küsste ihn auf die Stirn.“

Doch solch eine Mammut-Hörbuch-Produktion ist auch Ausdruck dafür, dass den Hörbuch-Verlagen die Ideen ausgehen. Der Markt nämlich quillt über vor Lesungen. Wie beim Käufer da noch Aufmerksamkeit erreichen? Die Werbung des Audio-Verlages bringt es auf den Punkt: Jahrhundertepos! Und natürlich: Erstmals ungekürzt! Kurzum: Klassiker immer in Verbindung mit Monumentalem und damit in Verbindung mit dem Event. Größe, Masse, Menge, das ist das Primat. Wie gesagt: Der Markt ist hart! Dass sich allerdings wirklich jemand hinsetzt und diese 67 Stunden hört, da habe ich meine ... oder bin ich zu kulturpessimistisch? ... da habe ich meine Zweifel.

Nun: Die opulente Box präsentiert sich ohne Zweifel gut im Bücherregal. Das war´s dann aber auch. Übrigens hat der Audio-Verlag auch an die „Krieg und Frieden“-Fans gedacht, die den „guten alten Tolstoi“ im Auto hören und dabei nicht unbedingt 53 CDs mit sich rumschleppen wollen: Wer die große Box für knapp 200 Euro kauft, findet da drin einen Gutschein für einen kostenlosen mp3-Download. Vielleicht ist ja das alltagsrealistisch: die CD-Box als Repräsentationsobjekt ins Bücherregal, den iPod mit der mp3-Lesung an die Autoanlage gestöpselt. Immerhin.

„´Gute Nacht, Lisa‘, sagte Fürst Andrej, stand auf und küsste ihr höflich, wie einer fremden Dame, die Hand.“

Rezensiert von Hartwig Tegeler

Leo Nikolajewitsch Tolstoi: „Krieg und Frieden“
Lesung mit Ulrich Noethen – Übersetzer: Hermann Röhl
53 CDs, ca. 67 Stunden für 199 €
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