Das verantwortungslose Schweigen der Mathematiker

An der Mathematik herrscht gemeinhin ein gepflegtes Desinteresse. Und den Mathematikern ist das offenbar nur recht, moniert der Journalist Klaus Peter Weinert. Sie müssten sich keiner gesellschaftlichen Debatte über die Folgen ihrer Wissenschaft stellen.
Kaum einer nimmt sie wahr, aber sie ist überall in unserem Alltag. Ohne Mathematik ist das Internet nicht denkbar, das Smartphone, unsere hochtechnisierten Autos oder die ampelgeregelte Kreuzung.
Mathematik ist mittlerweile unerlässliches Instrument für fast alle Wissenschaften. Wir leben im Jahrhundert der Zahlen. Selbst die Sozialwissenschaften kommen nicht mehr ohne sie aus, und die Ökonomik will mit komplizierten mathematischen Modellen noch mehr Kosten sparen oder noch mehr Rendite für die Unternehmen erwirtschaften. So weit, so gut.
Mathematik ist der Treibstoff des Jahrhunderts
Aber auch die NSA könnte ohne auf Mathematik basierende computergesteuerte Abhörmethoden weder die Kanzlerin noch uns oder Unternehmen ausspionieren. Jedes halbwegs komplexe Computerprogramm braucht Mathematik wie ein Motor Benzin. Ohne Mathematiker hätte auch die Atombombe nie gebaut werden können, denn sie führten die komplizierten Rechnungen durch, die unerlässlich waren. Und ohne die Königin der Wissenschaften ist ebenso der heutige Drohnenkrieg undenkbar.
Mathematik ist das Steuerungsinstrument unserer hochtechnisierten Welt. Die logische Strenge und Abstraktion dieser Wissenschaft ist universal, daher ist sie in fast alle unsere Lebensbereiche unbemerkt eingedrungen als angewandte Mathematik.
Ethische Verantwortung? Kein Kommentar!
Thomas Mann hat den Gedanken formuliert, dass Form - und Mathematik ist Form - sittlich und unsittlich zugleich sei, weil sie einerseits Zucht und andererseits moralisch gleichgültig sei. Diese Problematik steckt auch in der angewandten Mathematik. Sie fragt nicht in erster Linien nach Moral, sondern ob ihr Modell logisch und stimmig ist, ob es funktioniert. Für die Toten von Nagasaki will aber kein Mathematiker verantwortlich sein. Dafür wurden die Physiker schuldig gesprochen.
Zu Schwierigkeiten kann es auch dann kommen, wenn mathematische Modelle alles dominieren. Wenn sie, wie in der Finanzkrise geschehen, das Handeln von Banken und Bankern bestimmen. Wenn nach und nach Fehler in das System eindringen, weil die Modelle die Wirklichkeit eben nicht vollständig erfassen. Wenn so das System instabil wird, es zur Krise und schließlich zur Katastrophe kommt.
Aber obwohl Mathematik heute alles durchdringt, halten sich die Mathematiker aus allem heraus. Sie verweigern sich ihrer Verantwortung. Sie stellen sich keiner Debatte. Sie machen sich keine Gedanken über die gesellschaftlichen Folgen ihrer Arbeit.
Die Mathematiker schweigen
Zwar haben sich Mathematiker in den vergangenen Jahren bemüht, ihre Wissenschaft den Menschen näher zu bringen. Aber gegenüber kritischen Nachfragen, wie sie ihre Arbeit bezüglich der Anwendung in verschiedenen Bereichen beurteilen, da ist die Auskunftsfreudigkeit in der Regel begrenzt oder gar nicht vorhanden.
Welche Bedeutung hat Mathematik für unsere Gesellschaft? Wie strukturiert sie diese? Rationalisiert sie Lebensbereiche? Schränkt sie menschliche Handlungsweisen ein oder erweitert sie diese? Wo sehen Mathematiker selbst Risiken in Bezug auf die praktische Anwendung von Mathematik? Dazu hört man nichts.
Von keiner anderen Wissenschaft weiß das Publikum so wenig wie von der Mathematik: Was sie tut, mit was sie sich beschäftigt, welche Rolle sie für uns Bürger spielt, welches ihre Aufgaben sind. Es wird Zeit, das zu ändern.
Klaus Peter Weinert ist Wirtschafts- und Fachjournalist. Er studierte Germanistik, Soziologie, Volkswirtschaftslehre und Filmwissenschaften. Weinert arbeitet für Rundfunk, Fernsehen und Printmedien.

Klaus Peter Weinert© privat