Jahr der Solidarität?

Warum wir nicht mit allen gleich solidarisch sind

04:21 Minuten
Ein Banner mit dem Schriftzug "Leave Noone Behind" hängt am 17. April 2020 in Berlin an einem Balkon.
"Leave Noone Behind" - ein Aufruf zur Solidarität an einem Berliner Balkon © imago images / Emmanuele Contini
Überlegungen von Jule Specht · 23.11.2020
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Solidarität wird in diesem Jahr besonders eingefordert: Sie soll dabei helfen, die Ausbreitung von Corona zu bremsen. Wie es aber um unser solidarisches Verhalten wirklich steht, fragt sich die Psychologin Jule Specht - auch über die Pandemie hinaus.
Es ist das Jahr der Solidarität. Es beginnt im März, als Angela Merkel die Bevölkerung zur Solidarität aufrief, um die Ausbreitung des Coronavirus zu verlangsamen. Es sollten viele Solidaritätsaufrufe folgen: von Regierungen und Zivilgesellschaft, Wissenschaftler*innen, Arbeitgeber*innen, Eltern. Und ein Großteil der Bevölkerung folgt diesen Aufrufen.
Auch Google Trends – das einen Überblick zu Google-Suchbegriffen gibt – zeigt, dass der Solidarität seit März gesteigerte Aufmerksamkeit zukam: Mehr denn je und vier Mal häufiger als üblich wurde nach "Solidarität" gesucht, bevorzugt zusammen mit "Corona".
Solidarität wird in diesem Jahr also besonders gesucht und eingefordert. Aber wie steht es um unsere Solidarität? Und wem gegenüber verhalten wir uns solidarisch?

Gefühl nach Verbundenheit

Das kommt sowohl auf die Variante der Solidarität an, als auch auf unser Identitätsgefühl. Alle Varianten der Solidarität haben gemeinsam, dass ihnen ein Gefühl nach Verbundenheit zugrunde liegt. Solidarität gibt es zwischen Menschen, die sich sozial, emotional oder räumlich nah sind, zum Beispiel den Bewohner*innen eines Landes.
Es gibt sie zwischen Menschen, deren Interessen voneinander abhängig sind, zum Beispiel im Kontext von Arbeitsteilungen. Sie wird als Sozialstaat in Form von Rechten und Pflichten von Bürger*innen sichtbar. Sie zeigt sich bei geteilten Werten und Zielen wie in der Arbeiterbewegung. Und sie tritt auf als "Solidarität unter Fremden", einer Solidarität, die aus einer humanitären Haltung und aus Mitgefühl gegenüber hilfsbedürftigen Menschen entsteht.
Solidarität ist dabei eng mit dem Identitätsgefühl verknüpft. Menschen zeichnen sich durch ein Bedürfnis nach Zugehörigkeit aus, schließen sich sozialen Gruppen – ihren Ingroups – an, die ihr Selbstbild prägen und mit denen sie Emotionen wie Freude und Stolz teilen. Allerdings gehört zu jeder dieser Ingroups auch mindestens eine Outgroup. Und je stärker sich ein Mensch einer sozialen Gruppe zugehörig fühlt, desto stärker grenzt er sich von anderen sozialen Gruppen ab und fühlt sich zwar zur Solidarität verpflichtet – allerdings nur gegenüber Menschen seiner Ingroup.

Solidarisch mit denen, die uns ähnlich sind

Problematisch ist, dass unsere Solidarität damit nicht vor allem die Menschen erreicht, die besonders hilfsbedürftig sind, sondern vor allem die Menschen, mit denen wir uns besonders gut identifizieren können. Das Identitätsgefühl basiert auf sozialen Kategorisierungen, die als bedeutsam angesehen werden – "race", "class" und "gender" zum Beispiel.
So finden sich vor allem People of Colour in der Black Lives Matter-Bewegung zusammen, Arbeiter*innen in der Arbeiterbewegung und Frauen in der Frauenbewegung. Die Solidarität innerhalb der Bewegungen ist groß, aber gesellschaftliche Fortschritte entstanden vor allem dann, wenn marginalisierte Menschen auch außerhalb ihrer Ingroup Solidarität erfuhren.
Das Ziel sollte daher sein, ein Gefühl von Solidarität über unsere eigene Ingroup hinaus zu entwickeln. Nicht nur mit denjenigen, die uns nah sind und die Teil unseres Sozialstaates sind. Sondern auch mit denjenigen, die uns ferner sind: Menschen, die seit Monaten auf Lesbos ausharren oder auf dem Mittelmeer in Seenot geraten.

Über Ländergrenzen hinweg

Es sollte uns nicht nur schlaflose Nächte bereiten, wenn sich Trump und Biden ein tagelanges Kopf-an-Kopf-Rennen liefern, sondern auch, wenn seit Monaten Menschen in Belarus auf die Straßen gehen, um gegen den "letzten Diktator Europas" und für freie Wahlen zu demonstrieren und zu Tausenden eingesperrt, gefoltert, zum Teil getötet werden.
Das Jahr 2020 ist ein Jahr der Solidarität. Auf der ganzen Welt verhalten sich Menschen solidarisch, um die Verbreitung des Coronavirus zu verlangsamen. Diese Solidarität brauchen wir nicht nur in unserem nächsten sozialen Umfeld, sondern über Ländergrenzen hinweg.
Denn unsere Solidarität gebührt nicht nur den Menschen, die uns nah sind, sondern den Menschen, die unsere Unterstützung benötigen, in Belarus, auf Lesbos, an allen Orten dieser Welt.

Jule Specht, 1986 in Ost-Berlin geboren, ist Professorin für Persönlichkeitspsychologie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Sie begeistert sich für die Entwicklung der Persönlichkeit und für Fragen der Politischen Psychologie, die sich mit dem Zusammenspiel von Mensch und Gesellschaft beschäftigt. Darüber hinaus ist sie Autorin der populärwissenschaftlichen Bücher "Charakterfrage: Wer wir sind und wie wir uns verändern" und "Suche kochenden Betthasen: Was wir aus wissenschaftlichen Studien für die Liebe lernen können".

© Jens Gyarmaty
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