Jaffa Roof - Über den Dächern von Tel Aviv

Autoren: Agnieszka Lessmann und Frank Olbert · 18.10.2008
Der Abend senkt sich über die Skyline von Tel Aviv. "Wie seid ihr hierher gekommen?", fragt Gastgeberin Varda die Autoren auf dem Dach des "Old Jaffa Hostel", einer Herberge im Stadtteil Jaffa. Sie ahnt nicht, was sie damit aufbricht. Die Geschichte beginnt in Polen, führt in die Negev-Wüste, wohin die Familie 1968 zieht, nachdem eine antisemitische Kampagne sie zur Ausreise gezwungen hat. Die Reise geht weiter und endet viele Jahre später in Köln.
Inzwischen mit eigener Familie geht es zurück nach Israel. Sie besuchen Tante Rena, eine Holocaust-Überlebende, die anders als Viele über ihre Erlebnisse sprechen kann. Sie begegnen Yael, die ebenfalls 1968 als kleines Kind Polen verließ. Zurück in Köln, geht die Beschäftigung mit dieser Reise weiter: "Jaffa Roof" - ein Briefroman per E-Mail. "Wie sind wir nach Tel Aviv gekommen?" - eine Familie auf der Suche nach sich selbst, ein Dialog gegen das Schweigen.

Diese Reise war lange überfällig. Sie hat etwas aufgebrochen - etwas, das über persönliche Eindrücke hinaus ging - ja, immer weitere Kreise zieht, je länger wir uns damit beschäftigen. Es begann mit einer E-Mail-Korrespondenz.
Von: Agnieszka
Gesendet: Donnerstag, 16. August 2007 21:37
An: Frank
Betreff: AW: Israel
"Kann man Opfer-sein erben?" Ich glaube, ich war ungefähr 16 oder 17 Jahre alt, als ich in mein Tagebuch diesen Satz schrieb. An die Gefühle, mit denen ich ihn hinschrieb, kann ich mich noch gut erinnern. Es war eine Mischung aus Trotz und Angst. Trotz, weil ich meine Rolle in dieser Welt selbst suchen wollte, so wie man das in diesem Alter mit existenzieller Energie und ebensolcher Verzweiflung betreibt. Angst, Opfer zu sein, einen ebenso unsichtbaren wie unauslöschlichen Makel mit mir herumzutragen. Ich habe in der Schule nie über meine Herkunft gesprochen, und auch den meisten Leuten, die ich kennenlernte, habe ich nie davon erzählt. Ich fand nicht, das ich das Recht dazu hätte, mich als Opfer auszugeben. Mein Vater hat Panzerfäuste hergestellt, in einem Außenlager von Buchenwald. Ich versuche mir vorzustellen, wie das gewesen sein muss, täglich von deutschen SS-Männern mit dem Tod bedroht Waffen für ihren Endsieg zu basteln. Das weiß ich vom Archiv Buchenwald, nicht von ihm. Nach dem Krieg hat er seinen Namen geändert.
Und in den Straßen von Tel Aviv junge Männer und Frauen mit Gewehren. Wie war das mit der Rache für begangenes Unrecht bis in die vierte Generation? Da haben wir noch etwas vor uns.
Ja, ich sage "wir", denn manchmal kommt es mir so vor, als verbinde die Nachkommen der Opfer und die der Täter eine Gemeinsamkeit, die von niemandem sonst in der Welt geteilt wird, zwei Seiten desselben Abgrunds, Dan Bar-On hat das so genannt.

Von: Frank
Gesendet: Freitag, 17. August 2007 23:43
An: Agnieszka
Betreff: AW: Israel
Die Nachgeborenen, wie Brecht sie in seinem pathetischen und appellativen Gedicht genannt hat - diese Generationen, die nur durch Überlieferung mit der Vergangenheit verbunden sind, was macht sie aus? Dan Bar-Ons Studien sind auch deshalb so erhellend, weil er auf ein gemeinsames Merkmal bei den Nachgeborenen der Opfer wie der Täter gestoßen ist: das Schweigen. Seinen Namen zu ändern, ist vielleicht nur eine andere Form des Schweigens. Das Schweigen ist auch ein Ausdruck des Entsetzens der Nachgeborenen, das noch gar nicht lange her ist, was geschah. Es gibt sogar noch Menschen, die darüber berichten können.

Aus der privaten Korrespondenz wurde ein öffentliches Projekt. Wir sind für diese Lange Nacht noch einmal nach Israel gereist und haben Interviews geführt. Wir haben unsere Gesprächspartner gefragt, wie sie nach Tel Aviv gekommen sind und warum sie heute dort leben.
Yael Bogen war noch im Kindergarten, als ihre Familie im Jahr 1968 Polen verließ. Ist nach Polen und Dänemark Tel Aviv der richtige Ort für sie?
"Ich weiß es nicht. Es hängt davon ab, ob es Achmadinedschad gelingt, seinen großen Plan, uns mit einer Atombombe auszulöschen, auszuführen. Ich denke, in diesem Fall wird es ein Fehler gewesen sein, in Tel Aviv gelebt zu haben. Aber das ließe sich natürlich nur rückwirkend feststellen. Ja, Tel Aviv ist eine vibrierende Stadt. Sehr interessant, sehr lebendig. Nicht nur Tel Aviv, ganz Israel ist voll von Problemen. Vielleicht ist es sogar der problematischste Flecken auf der ganzen Welt. Und solange wir es schaffen zu überleben, ist es eine gute Wahl. Sollten wir allerdings einen weiteren Holocaust erleben, ist es natürlich eine schlechte Wahl, denn ich würde eher leben wollen, als in Israel zu sterben."

Roni Kurtz ist in Israel geboren. Ihr Großvater hat Lodz rechtzeitig, lange vor 1939, verlassen:
"Ich glaube es war ein Bündel aus Gründen. Einer davon waren diese Freunde, mit denen er immer Karten spielte. Einmal, als er gewonnen hatte, sagte sein bester Freund: "Du hast betrogen, du dreckiger Jude." Das hat ihn sehr verletzt. Er hatte das von seinem Freund nicht erwartet. Es war wie ein Verrat."
Vardas Eltern kamen 1948 mit dem Schiff in den neu gegründeten Staat Israel. Zuvor haben sie ein Jahr lang auf Zypern kampiert, weil die Briten sie nicht an Land gehen ließen. Sie bezogen anfangs ein Zimmer in einem großen Haus in Jaffa:
"Jaffa war leer! Sie hatten Angst. Es war leer, also nahmen wir ihre Häuser. Das ist etwas, womit ich mich natürlich nicht wohl fühle, aber ich weiß auch keine andere Lösung."

Rena Winer war 15 Jahre alt, als ihre Familie ins Lodzer Ghetto umziehen musste. 1944 wurde sie erst nach Auschwitz, dann nach Stutthoff deportiert. Mit einem der berüchtigten Todesmärsche kam sie im Mai 1945 in Theresienstadt an. Dort erlebte sie die Befreiung, gemeinsam mit ihrer Schwester. Alle anderen Familienmitglieder sind umgekommen.
"Israel hat immer Kriege führen müssen."
"Ja, aber schauen Sie, wir waren so erniedrigt. Man hat uns - wie soll ich sagen - man hat uns nicht als Menschen betrachtet. Wir haben alles angenommen, nur: man soll uns als Menschen betrachten und nicht als ich weiß nicht was."

Unter jaffaroof.com geht das Projekt im Anschluss an diese Lange Nacht im Internet weiter, als soziales und interaktives Kunstwerk.

Literatur zum Thema:
- Dan Bar-On: "Furcht und Hoffnung. Von den Überlebenden bis zu den Enkeln. Drei Generationen des Holocaust.” Hamburg 1997. (ISBN 3-434-50420-6)
- Originalausgabe: "Fear and Hope. Three Generations of the Holocaust.” Harvard University Press, Cambridge/ Mass. u. London/ England 1995
- Dan Bar-On: "Die Last des Schweigens. Gespräche mit Kindern von NS-Tätern”. Hamburg , erweiterte Neuausgabe 2003 (ISBN 3-89684-038-X)
- Originalausgabe: "The Legacy of Silence. Encounters with Children of the Third Reich”. Harvard University Press, Cambridge, Massachusetts 1989.
- Beate Kosmala (Hrsg.): "Die Vertreibung der Juden aus Polen 1968. Antisemitismus und politisches Kalkül. Berlin 2000 (ISBN 3-932482-26-3)

Links:
Zentrum für Antisemitismusforschung
Yad Vashem
Informationen zur antisemitischen Kampagne 1968 in Polen sind im Internet zumeist nur auf Polnisch verfügbar. Eine Ausnahme bildet Wikipedia