Jacques Tati Collection

Seiltänzer zwischen den Zeiten

Filmszene aus "Tatis Schützenfest" (Jour de Fete) von 1948
Filmszene aus "Tatis Schützenfest" (Jour de Fete) von 1948 © Imago / Entertainment Pictures
Von Laf Überland · 04.04.2015
Er war einer der ganz Großen der Filmgeschichte: Jacques Tati, Autor, Regisseur, Schauspieler französisch-russisch-holländisch-italienischer Herkunft und ein Zivilisationskritiker. Tati hinterließ nur 
fünf Kino- und einen Fernsehfilm, die nun in einer DVD-Box bei ARTHAUS erschienen sind.
"Ich schaue mir an,
 wie die Leute leben, ich gehe spazieren, ich gehe zu Fußballspielen, zu Ausstellungen, ich bleibe stundenlang an
 der Autobahn, um die Wagen vorbeifahren zu sehen, 
ich höre Dialogen zu,
 ich beobachte den Tick,
 das Detail, die Wesensart, 
die die Persönlichkeit eines jeden Individuums enthüllen."
Das sagt Jacques Tati mal, und er findet: Menschen, die an der fortschreitenden Moderne abprallen – oder sich ihr anzupassen versuchen, wie der Briefträger Francois im ersten Langfilm "Tatis Schützenfest – Jour de Fete" von 1948.
Ein Jahrmarkt kommt in die Stadt; bei einer Filmvorführung sieht der Fahrradbriefträger Francois, wie schnell seine Kollegen in Amerika ihren Job absolvieren, und versucht fortan, mit seinem Fahrrad genau so schnell zu sei (einmal überholt er sogar die Equipe der Tour de France): Seltsame Nicht-Handlung ist das, aber auch hier zeigt Tati bereits sein traumwandlerisches Gespür für Stimmung, Timing und Effekte: Unglaublich allein die lange Szene, in der er dann hinter seinem Fahrrad her rennt, das – wie das Pferd, das auch ohne Reiter nach Hause findet – ganz allein zu seiner Stammkneipe rollt, durch die Straßen und die Felder...
Verträumter Trottel mit Regenmantel und Pfeife
Mit seinem zweiten Film von 53 – über "Ferien an der Atlantikküste" - führt Tati dann die Figur ein, die fortan sein Thema erleidet, gewissermaßen: Monsieur Hulot, diesen Ein-Meter-Siebenundachtzig langen verträumten Trottel mit Regenmantel, Pfeife und viel zu kurzer Hose. Er begegnet, während er so durch die Welt läuft und durch die Filme, all den Themen der Moderne eben und ihrer Menschenfeindlichkeit.
In Mon Oncle von 58 hat er mit der ultramodernen Einrichtung des eiskalt geometrisch designten Hauses seines Schwagers zu tun – aber auch als anarchistisches Quentchen menschliches Leben für den missachteten, gelangweilten Neffen.
Für seinen monumentalen, mehr als zwei Stunden langen "Playtime" von 67 (auf deutsch "Tatis herrliche Zeiten", nun ja) hat der Regisseur ein unglaublich teures Modell eines modernen Paris aufbauen lassen: nur Beton und Stahl und Glas, eine Atmosphäre irgendwo zwischen Alphaville und amerikanischer Küchengerätereklame, darin treffen ständig Monsieur Hulot und die verlorenen Seelen amerikanischer Touristen aufeinander.
Paddelboot verwandelt sich in einen Hai
Nun ist es nicht so, dass Jacques Tati oder sein Monsieur Hulot wirklich komisch wären: Die Umstände sind es – und die Welt, durch die sie sich bewegen. Ein Paddelboot verwandelt sich in einen scheinbaren weißen Hai: Bequeme Möbel gibt es nicht, Häuser werden zu Labyrinthen, es gibt vollautomatische Gärten und Autos, die mit auf- und zuklappenden Fronthauben hinter ihren verlorenen Reifen herfahren: Außerdem haben sie durchaus auch Scheibenwischer, die genau das jeweilige Temperament ihrer Fahrer wiederspiegeln – wie in "Trafic" ("Tati im Stoßverkehr") von 71, in dem Monsieur Hulot ein menschenfreundliches Camping-Mobil gebaut hat (mit ihm Lenkrad eingebauten Senk-Spender und dergleichen), das er zum Autosalon nach Amsterdam überführen soll – bevor die kommerzielle Technik Amok läuft.
Inhaltliche Dialoge gibt übrigens es nicht bei Tati, vereinzelte verständliche Sätze – wie "Bonjour Monsieur" oder "Herr Schmutz, Telefon für Sie!" gehören eigentlich zu den nachträglich auf die Stummfilme gefrickelten Soundscapes (wie man heute nennt): Radionachrichten, Lautsprecherdurchsagen, Gesprächsfetzen in allen möglichen verschiedenen Sprachen, Autos, trappelnde Schuhe, Korkenzieher und überlaut aufgenommenes Quietschen von Nyltestklamotten!
Ein wirkliche vorbildliche Edition auch für den interessierten Hobby-Cineasten ist diese Tati-Collection: Im Booklet wird ausführlich beschrieben, welche komplizierten Restaurierungsarbeiten warum am jeweiligen Film des experimentellen Filmers Tati nötig waren; auf den jeweiligen DVDs hingegen ergänzt jeweils eine ausführliche, gut dreiviertelstündige Analyse (mit deutschen Untertiteln) den Film. Und die erläutern, was Buster Keaton wohl gemeint hat, als er sagte: Tati hat da begonnen, wo wir aufgehört haben.
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