Der Mystiker Jacob Böhme

Liebe und Zorn

Vor dunklem Hintergrund steht ein hagerer Mann in braunem Wams und mit langen dunklen Haaren, der nachdenklich zum Betrachter schaut.
Jacob Böhme, Gemälde von J. Chr. Glymann, ohne Datum © Ronald Steckel / Städtische Sammlungen Kamenz
Von Ronald Steckel · 19.11.2022
Zu Lebzeiten von der Kirche als Ketzer verschrien, gilt Jacob Böhme heute als bedeutendster Autor der christlichen Mystik – obwohl er ein einfacher Schuhmacher war. Worin liegt die Faszination seines Denkens? Und was hat er uns heute zu sagen?
Jacob Böhme (1575–1624), Zeitgenosse William Shakespeares, Johannes Keplers, Galileo Galileis und Giordano Brunos, lebte als Schuhmacher und Garnhändler in Görlitz an der Neiße – zu Beginn des 17. Jahrhunderts eine blühende protestantische Handelsstadt auf der Via Regia.

Sprachmächtiger Autodidakt

Nach einer Folge geistiger Durchbruchs- und Erleuchtungserfahrungen verfasste er 1612 als sprachmächtiger Autodidakt das Buch "Morgenröte im Aufgang", ein Memorial seiner Visionen und ein grandioser Entwurf der Naturphilosophie und der kosmisch-geistigen Anthropologie, der einen radikalen Bruch mit kirchlicher Autorität bedeutete und die Erkenntnis- und Willensfreiheit des Menschen in den Mittelpunkt stellte.
Dunkel schraffierte, konzentrische Kreise von astrologischen Symbolen
De Signatura Rerum, Titelkupfer der Amsterdamer Gesamtausgabe von 1730 (Ausschnitt)© Ronald Steckel/Oberlausitzische Bibliothek der Wissenschaften Görlitz
Durch einen Denunzianten geriet eine Abschrift der in Freundeskreisen kursierenden "Morgenröte" in die Hände der lutherisch-orthodoxen Kirchenleitung der Stadt Görlitz. Böhme wurde kurzzeitig inhaftiert, man erteilte dem Autor Schreibverbot und klagte ihn öffentlich der Ketzerei an, konnte aber nicht verhindern, dass er in den politisch unabhängigen und geistig aufgeschlossenen Kreisen des niederschlesischen Adels bekannt wurde.

Als Mystiker und Prophet weltberühmt

Dort betrachtete man ihn als Propheten und unterstützte seine Arbeit als Autor. Die letzten Jahre seines Lebens verbrachte er, trotz andauernder Verfolgung durch die lutherische Orthodoxie, zum Teil als Gast auf den Landsitzen des niederschlesischen Adels und beschäftigte sich dort vor allem mit der Niederschrift seines 4.000 Druckseiten umfassenden Werkes.
Noch zu Lebzeiten wurden die Schriften des Philosophus Teutonicus über die Landesgrenzen bekannt, und seine Vision des androgynen geistig-kosmischen Ur-Menschen und des Kosmos als "Leib Gottes" verbreitete sich im 17. und 18. Jahrhunderts in weiten Teilen Europas, vor allem in Holland, England, Russland und in den Kolonien der Neuen Welt.
Ein eng bedrucktes Titelblatt in verschnörkelter Schrift.
Titelblatt der Amsterdamer Ausgabe der Sämtlichen Schriften Jacob Böhmes von 1730.© Ronald Steckel/Oberlausitzische Bibliothek der Wissenschaften Görlitz
Heute gilt Jacob Böhme als der bedeutendste Autor der christlichen Theosophie und der deutschen Mystik und als eine der großen Gestalten der Philosophia Perennis, der 'ewigen Philosophie'. Ohne sein Werk wäre die innere Kraft und Wirkung der spirituellen Unterströmungen der Aufklärung – der Pietismus, die Romantik und der Höhenflug der deutschen idealistischen Philosophie – nicht denkbar.

Sein Denken fasziniert noch heute

Und auch zu Beginn des dritten Jahrtausends hört der geheimnisvolle Mann aus Görlitz nicht auf, die Gemüter der Theologen, Philosophen, Kulturhistoriker und auch der Naturwissenschaftler zu bewegen.
Eine nur die letzten drei Jahrzehnte umfassende Bibliographie der geisteswissenschaftlichen Arbeiten zu und über Jacob Böhme zählt an die 400 Titel. Seit 2017 wandert eine von den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden eingerichtete Ausstellung über den "mystischen Philosophen" durch Europa.
2015 entstand ein ihm gewidmeter Kinofilm, dazu gibt es Radiosendungen und jährliche wissenschaftliche Tagungen und Foren. Daneben gibt es Arbeiten an einer 30-bändigen kritischen Werkausgabe. Und 2024, zum 400. Todestag, eröffnet die Stadt Görlitz ein Internationales Jacob-Böhme-Zentrum.

Literaturempfehlungen des Autors der Langen Nacht (Auswahl):

Jacob Böhme: Sämtliche Schriften, Faksimile-Neudruck der Ausgabe von 1730 (Amsterdam) in 11 Bänden. Begonnen von August Faust, neu herausgegeben von Will-Erich Peuckert, Stuttgart 1942–1961.

Ernst Benz: Der Prophet Jakob Böhme. Eine Studie über den Typus nachreformatorischen Prophetentums, Wiesbaden 1959.


Günther Bonheim u. Thomas Reghely (Hg.): Morgenröte im Aufgang, Böhme-Studien der Internationalen Jacob Böhme Gesellschaft, Bd. 4, Berlin 2017.


Andreas Gauger: Jakob Böhme und das Wesen seiner Mystik, 2. Aufl. Berlin 2000.

Paul Hankamer, Jakob Böhme. Gestalt und Gestaltung, Bonn 1924

Heiko Krämer: Jacob Böhme Lexikon, Ronnenberg 2020.


Ernst-Heinz Lemper: Jakob Böhme, Leben und Werk, Berlin 1976.


Ferdinand van Ingen, Jacob Böhme Werke, Frankfurt/M. 2009

Gerhard Wehr, Jakob Böhme in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek 1971.

Leopold Ziegler: Menschwerdung Bd. I und II, Olten 1948.

Über den Autor:

Ronald Steckel wurde 1945 auf der Insel Sylt geboren, besuchte das Gymnasium in Hamburg, verbrachte die Mitte der 60er Jahre in London und lebt seit 1968 als Autor, Komponist und Regisseur in Westberlin. Zu seinen Veröffentlichungen gehören Essays, Kurzspielfilme, experimentelle Hörstücke und Radio-Features, Kompositionen für Theaterstücke und Filme, Klang-Installationen, Konzert-Performances, Experimentalfilme und Theaterstücke.


Eine Produktion von Deutschlandfunk/Deutschlandfunk Kultur 2020, mit freundlicher Unterstützung der Organisation zur Umwandlung des Kinos. Das Skript im PDF-Format finden sie hier. Sie hören die Wiederholung einer Sendung vom 28. März 2020.

Sprecher: Corinna Kirchhoff, Max Hopp und Wolfgang Michael, Julia Jentsch und Traudel Haas, Fritz Mikesch und Urs Troller; Ton: Peter Kainz; Realisation, Komposition und Regie: Ronald Steckel; Redaktion: Monika Künzel.

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