Jackie Thomae: "Brüder"

Fragen, denen man nicht entkommt

Jackie Thomae sitzt auf dem blauen Sofa mit René Aguigah, auf dem Tisch steht ihr Buch "Brüder".
Jackie Thomae und René Aguigah im Gespräch über "Brüder". © Deutschlandradio/ David Kohlruss
Jackie Thomae im Gespräch mit René Aguigah · 16.10.2019
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Immer wieder "Hautfarbenstress" haben Mick und Gabriel, in der DDR aufgewachsene Söhne eines Afrikaners. Davon erzählt Jackie Thomae in dem Roman "Brüder" – und von einer gescheiterten Utopie: einer Gesellschaft, in der Hautfarbe keine Rolle spielt.
Welche Rolle spielt Hautfarbe für die Identität? Und wie sehr hängt das vom jeweiligen Geist der Zeit ab? Diesen Fragen geht Jackie Thomae in ihrem Roman "Brüder" nach. Er erzählt die Geschichte zweier Halbbrüder, die um 1970 geboren werden und bei ihren Müttern in der DDR aufwachsen. Der gemeinsame afrikanische Vater ist abwesend.
Das klinge nach einer "unglaublich dramatischen DDR-Außenseitergeschichte", sagt die Autorin. Aber es sei keine.
Das Buch sei zwar eine Auseinandersetzung damit, wie es ist, der Einzige zu sein. "Der Einzige zu sein, muss aber nicht zwangsläufig heißen, dass man der Ausgestoßene oder der Gemobbte ist", betont Jackie Thomae. "Es ist einfach erstmal ein Alleinstellungsmerkmal."

Die 90er-Jahre: utopischer als die Gegenwart

Die Bedeutung, die dieses Alleinstellungsmerkmal Hautfarbe hat, ist in Jackie Thomaes Buch je nach Zeitgeist sehr unterschiedlich. Die Geschichte des einen Bruders, Mick, spielt vor allem in den 90er-Jahren. Mick ist ein hübscher Junge, ein Partygänger, der von allen gemocht wird und sich treiben lässt. Seine Hautfarbe ist für ihn kein Thema. Damit entspricht er durchaus dem Geist der Zeit, zumindest in den Kreisen, in denen er sich bewegt.
"Die 90er-Jahre hatten etwas, das utopischer war als die Zeit jetzt, finde ich", sagt Jackie Thomae. Damals hätten viele das Gefühl gehabt, sich auf ein Miteinander zuzubewegen, in dem man sich von abgrenzenden Begriffen immer mehr entferne und immer mehr in eine Toleranz übergehe. "Bestimmte Dinge, über die man sich früher noch aufgeregt hat oder die ausgeschlossen wurden, die schließt man nicht mehr aus, man nimmt die einfach an. Es wird friedlicher. Das stellte sich aber schon als Irrtum heraus."
Das bekommt Gabriel zu spüren, der zweite der Brüder. Seine Geschichte erzählt die Autorin ab der Jahrtausendwende. Gabriel ist ein erfolgreicher Architekt und lebt in London. Auch er definiert sich nicht über seine Hautfarbe, sondern über seinen sozialen Status: "Er ist der Meinung, dass jede Frage nach seiner Herkunft, sowohl die Frage, dass er ohne seinen Vater aufgewachsen ist, als auch die Frage, welche Hautfarbe er ist, dass die komplett irrelevant ist, wenn er genug Geld und Erfolg hat", sagt die Autorin.

Wem hilft "Farbenblindheit"?

Eigentlich sei dieser Ansatz "total richtig" oder doch zumindest legitim, findet Jackie Thomae. Auch wenn heute viele anzweifeln, dass "Farbenblindheit" letztlich gut für die Position schwarzer Menschen sei. "Die Gegenfrage ist: Was soll er denn tun?" sagt die Autorin. "Er empfindet sich ja nicht als Teil einer Gruppe, er empfindet sich komplett als Einzelperson."
Und doch bekommt Gabriel immer wieder "Hautfarbenstress", wie Thomae es ausdrückt. Durch seine Freundin etwa, deren Mutter aus Ghana stammt und die ihm vorwirft, ein Identitätsproblem zu haben. Und durch eine Gesellschaft, in der er mit seiner Hautfarbe eben doch nicht als normal gilt.
"Was denen passiert, passiert nicht oft, aber immer wieder", so Thomae. "Es ist subtil, es ist also kein Spießrutenlauf durch ein von rassistischen Anschlägen geprägtes Leben", sondern es seien einfach Fragen, denen sie nicht entkämen. "Und die müssen auch nicht per se aggressiv oder rassistisch gemeint sein. Die sind einfach da."
(uko)

Jackie Thomae: "Brüder"
Verlag Hanser Berlin, Berlin 2019
416 Seiten, 23 Euro

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