J.M.M.Nuanez: „Birdie und ich"

Jeder Mensch darf sein

05:40 Minuten
Cover des Jugendromans "Birdie und ich" von J.M.M.Nuanez. Zwei gemalte Kinder schützen sich mit einem Regenschirm vor bunten Regentropfen.
© dtv

J.M.M.Nuanez

Aus dem Englischen von Birgitt Kollmann

Birdie und ichdtv, München 2022

238 Seiten

15,00 Euro

Von Sylvia Schwab · 05.10.2022
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Die amerikanische Schriftstellerin J.M.M. Nuanez legt ihr Debüt vor. Der Jugendroman "Birdie und ich" stellt sich dem vieldiskutierten Thema Gender Diversity bei Kindern und Jugendlichen auf sensible und entspannte Weise.
„Birdie und ich“ erzählt von zwei Geschwisterpaaren, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Da sind Jack, die circa elfjährige Ich-Erzählerin, ein feinfühliges und kluges Mädchen, und ihr neunjähriger Bruder Birdie, der in vieler Hinsicht anders ist als andere Jungen in seinem Alter: still, kreativ und modisch interessiert. Die beiden sind sich ungewöhnlich nah. Und auf der anderen Seite stehen Patrick und Carl, zwei Brüder um die fünfzig, die total verkracht sind miteinander, der eine ein liebenswerter Chaot, der andere ein verschlossener Einsiedler.

Ein Junge in den „falschen“ Klamotten

Jacks und Birdies Mutter war die deutlich jüngere Schwester der beiden Männer. Nach deren Tod bei einem Autounfall müssen die Kinder zu den verstrittenen Onkeln ziehen, erst zum netten, aber unzuverlässigen Carl, und dann, weil der sich nicht richtig kümmert, zum schweigsamen Patrick. Hier eskaliert die Situation, Patrick kommt mit Birdies Eigenheiten nicht klar.
Denn Birdie liebt Lidschatten und Lipgloss, Düfte und Modemagazine, er trägt bunte Hemden, gemusterte Leggins und kleine Zöpfe. Solange die Kinder mit ihrer abenteuerlustigen und phantasievollen Mutter in Portland lebten, war das für niemanden ein Problem. Doch hier in Kalifornien fällt Birdie unangenehm auf, wird in der Schule gemobbt und verleumdet. Patrick und die Lehrerin sind sich einig: Erst wenn der Junge „richtige“ Klamotten trägt, wird alles gut.

Niemand wird in eine Schublade gesteckt

Kinder- und Jugendbücher zum Thema Gender Diversity gibt es in wachsender Zahl. Doch kaum eines geht so sensibel und entspannt mit diesem Thema um wie „Birdie und ich“. J.M.M. Nuanez vermeidet bewusst jede Kategorisierung: Jack und Birdie sind zuerst einmal zwei verletzte, tief trauernde Kinder und erst dann Mädchen und Junge. Und Birdie ist vor allem ein unglaublich liebenswertes, rücksichtsvolles Kind, das nicht voreilig in einer möglichen Schublade landet. Jeder der vier Protagonisten ist eigen und besonders, und der Begriff „transgender“ fällt nur ein einziges Mal.
Vieles bleibt offen in diesem vielschichtigen Jugendroman, nicht nur Birdies Veranlagung und Zukunft. Auch der Ursprung des Konfliktes unter den erwachsenen Brüdern. Oder die Frage, warum Patrick die Möbel aus dem Haus der Mutter alle abgeholt und versteckt hat.
Und vor allem: ob die abenteuerlustige, kreative Mutter vielleicht eine manisch-depressive Persönlichkeit und ihr Unfalltod ein Suizid war. Niemanden trifft ein (Vor)-Urteil, Birdie und auch die schwierigen Onkel oder die Mutter nicht. Alle dürfen schließlich bleiben, wie sie sind, wenn sie nur versuchen, sich gegenseitig zu verstehen und zu unterstützen.

Kein schnelles Happy End

„Birdie und ich“ bietet kein schnelles Happy End, macht aber Mut und Hoffnung. Auch Jacks Erzählung macht froh, trotz der schwierigen Themen. Denn das empathische Mädchen bzw. die Autorin beobachtet so genau und eindringlich, erzählt so klar wie wortgewandt, dass man kaum glauben kann, es mit einem Debüt zu tun zu haben. Das allerdings hängt auch mit Birgitt Kollmanns großer Übersetzungs-Erfahrung zusammen und mit ihrer gewohnt umsichtigen, leichtfüßigen, poetisch wie psychologisch differenzierten Übertragung.
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