100. Geburtstag von Italo Calvino

Ein Meister der Postmoderne

Der Autor Italo Calvino sitzt in einem Café, und gestikuliert. Er trägt einen  breit geringelten Schal.
Italo Calvino lebte mehrere Jahre in Paris. © imago / Leemage / imago stock&people
15.10.2023
Italo Calvino gehört zu den wichtigsten Vertretern der italienischen Gegenwartsliteratur - als Autor zahlreicher Romane und Erzählungen, aber auch als bedeutender Literaturtheoretiker. Am 15. Oktober wäre er 100 Jahre alt geworden.
Italo Calvino war vieles: als sehr junger Mann erst Anhänger der Faschisten unter Mussolini, ab 1943 aber überzeugter Widerstandskämpfer gegen den Faschismus; begeisterter Kommunist und später tief enttäuschter Ex-Kommunist; talentierter Verlagslektor, begnadeter und fantasievoller Schreiber und renommierter Literaturtheoretiker; leichtfüßiger Schelm und Melancholiker.
Der am 15. Oktober 1923, als Sohn eines italienischen Botanikerpaares auf Kuba geborene Calvino zählt heute zum italienischen Kulturgut: An den Schulen gehören seine Romane, Märchen und Erzählungen wie „Der Baron auf den Bäumen“ oder „Wenn ein Reisender in einer Winternacht“ zur Pflichtlektüre.

Wie kann Literatur überdauern?

Anders als sein vier Jahre jüngerer Bruder, der Geologe wurde, mochte Italo nicht in die Naturwissenschaftler-Fußstapfen seiner Eltern treten. Dennoch mag ihn seine Kindheit mit pflanzenkundigen Eltern beeinflusst haben: So entscheidet sich sein Romanheld Cosimo in „Der Baron auf den Bäumen“ im Alter von zwölf Jahren dafür, sein Leben künftig auf einer alten Steineiche verbringen zu wollen.
Kurz vor seinem Tod, 1985, hinterließ Calvino, wie eine Art Vermächtnis, seine Grundsätze für gute Literatur: Leichtigkeit, Schnelligkeit, Genauigkeit, Anschaulichkeit, Vielschichtigkeit und Konsistenz müssen Texte auszeichnen, um auch im 21. Jahrhundert noch relevant zu sein, so lautete sein Credo.

Seine Literaturtheorie wurde ein Bestseller

Der Autor bereitete dazu sechs Vorlesungen für die US-Eliteuniversität Harvard vor. Fünf davon konnte er noch zu Papier bringen, doch dann riss ihn mit knapp 62 Jahren ein Hirnschlag aus dem Leben. Er starb kurz vor der geplanten Abreise in die USA.
Die fertiggestellten Vorlesungen sind postum 1988 unter dem Titel „Lezioni americane: Sei proposte per il prossimo millennio“ erschienen und wurden in Italien zu einem Bestseller, der sogar an Bahnhöfen und Tankstellen auslag.

Leicht, aber nicht seicht

Für Calvino ist, so beschreibt er es selbst in seiner ersten Vorlesung, Leichtigkeit ein wichtiger Aspekt gelungener Literatur. Mit Beliebigkeit hat das allerdings nichts zu tun. Im Gegenteil, so der Autor: „Für mich verbindet sich Leichtigkeit mit Präzision und Bestimmtheit, nicht mit Vagheit und Vertrauen auf den Zufall. Wie Paul Valéry gesagt hat: ‚Es gilt, leicht zu sein wie ein Vogel, nicht wie eine Feder‘.“
Welche Geisteshaltung steckt dahinter? Michael Krüger, Autor und ehemaliger Verleger des Hanser Verlags, beschreibt Italo Calvino als einen vom Prinzip her zuversichtlichen Menschen:
„Geschichtsphilosophisch gesprochen war er optimistisch: dass die Welt überlebt, dass die menschliche Imagination in der Lage ist, Strategien zu entwickeln, die ein Überleben möglich machen. Er glaubte irgendwie, die Imagination reicht aus, um eine halbwegs zufriedene Welt zu schaffen, in der man sich wohlfühlt.“

Anfangsjahre beim Einaudi-Verlag

Krüger hat wesentlich dazu beigetragen, dass Calvino ins Deutsche übertragen wurde. Im Laufe der Zusammenarbeit wurden die beiden Freunde.
In seiner Anfangszeit, nach seinem Studienabschluss in Literaturwissenschaften, arbeitete der Mittzwanziger Calvino zunächst als Lektor beim Turiner Verlag Einaudi. Dessen Gründer waren im antifaschistischen Widerstand aktiv gewesen. Calvino befand sich in bester Gesellschaft: Weitere renommierte Schriftsteller wie Cesare Pavese und Natalia Ginzburg waren als Lektoren für Einaudi tätig.  

Er schreibt, wie ein Eichhörnchen klettert

Burkhart Kroeber, der Italo Calvino ins Deutsche übersetzt hat, berichtet Anekdotisches aus dem Verlag – darüber, wie Kollegen Calvino erlebten. So etwa der 15 Jahre ältere Cesare Pavese, der Calvinos Talent entdeckte: „Der war bei Einaudi sowas wie ein Cheflektor. Und der hat den jungen Mann, der damals 26 Jahre alt war, kennengelernt, und hat ihn charakterisiert als das ‚Eichhörnchen der Feder‘. Das Eichhörnchen kann alles und springt überall rum, fällt nirgendwo auf den Bauch, springt von Ast zu Ast, und kann auch rückwärts.“
Calvino gilt nicht nur als Meister der Leichtigkeit, sondern auch des kurzen, knackigen Formats: Sein bevorzugtes Genre ist die kleine Erzählung, mit der er als Schriftsteller begonnen und der er über alle Abschnitte seines Schaffens hinweg treu geblieben ist.
Auch in seinen Romanen nutzt er häufig die kurze Form, indem er die Handlung aus kleineren Abschnitten zusammensetzt, die erst nach und nach ein großes Bild ergeben.

Protagonist der Postmoderne

Als Schriftsteller und als Mensch blickte Calvino gerne über den italienischen Tellerrand: Ein Forschungsstipendium brachte ihn unter anderem nach New York, das er sehr gemocht haben soll. Viele Jahre lebte er in Frankreich, wo er 1962 auch seine Ehefrau, die argentinische Dolmetscherin Esther Judith Singer, kennengelernt hatte, und unterhielt ein umfangreiches Netzwerk aus gleichgesinnten Autoren wie Roland Barthes, Carlo Ginsburg und Umberto Eco.

Das Buch im Buch

Mit seinen literarischen wie theoretischen Arbeiten wurde Calvino zu einem der wichtigsten Vertreter der literarischen Postmoderne. Das spiegelt gut der 1979 erschienene Roman „Wenn ein Reisender in einer Winternacht“ („Se una notte d’inverno un viaggiatore“). Das Buch spielt in typisch postmoderner Manier mit dem Verhältnis des Lesers zum Text und den darin auftretenden Personen, einschließlich des Autors selbst: Ein Mann betritt eine Buchhandlung, fragt nach dem neuen Roman von Italo Calvino und kauft das Buch.
Nach einigen Seiten merkt er, dass sich die Handlung an der spannendsten Stelle wiederholt. Auch hat die Buchbinderei versehentlich Druckbogen eines anderen Buches mit hineingebunden. Also kauft er ein neues Buch und schon ist er mittendrin in einem Verwirrspiel, bei dem er von einer Geschichte in die nächste gerät, immer auf der Suche nach dem neuen Roman von Italo Calvino.

mkn, Konstantin Schönfelder
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