Italienische Gastarbeiter haben Deutschland bereichert

Moderation: Dieter Kassel · 20.12.2005
Zum 50. Jahrestag des so genannten Gastarbeiterabkommens hat die Autorin Carola Rönneburg auf die positiven Einflüsse der italienischen Kultur auf das Leben in Deutschland hingewiesen. Die Starrheit der 50er Jahre sei erst durch die Konfrontation mit einer fremden Kultur aufgeweicht worden.
Kassel: Am 20. Dezember 1955 unterzeichneten Deutschland und Italien einen Vertrag über die Anwerbung italienischer Arbeitskräfte. Genau 50 Jahre später wird darüber natürlich viel geredet, und dann geht es vielleicht um die Probleme, die es damals gab, und oft landet man schnell bei den Schwierigkeiten, die heute durch die Einwanderung von Menschen aus ganz anderen Ländern entstehen.

Ein bestimmtes Wort aber, das hört man viel zu selten, das Wort "Danke", und dieses Wort ist der Titel des Buches von Carola Rönneburg, und zwar in einer angemessenen Sprache. "Grazie mille", heißt dieses Buch, "Wie die Italiener unser Leben verschönert haben". Die Autorin ist Journalistin und Italienfreundin und ist jetzt bei uns zu Gast im Radio. Frau Rönneburg, für was sind denn Sie den Italienern am allermeisten dankbar?

Rönneburg: Ich bin vor allem dankbar, dass sie überhaupt nach Deutschland gekommen sind, genauso wie auch andere Einwanderer, denn man muss sich halt die 50er Jahre vorstellen und die Zeit dort. Ich glaube, niemand möchte in die 50er Jahre zurückversetzt werden, ich jedenfalls nicht, also nur unter Deutschen zu sein und sehr beschränkt eigentlich zu leben, nicht besonders weit über den Tellerrand hinaus zu gucken, das ist kein schönes Umfeld. Die Tatsache, dass die Deutschen mit anderen Menschen konfrontiert wurden, die sich anders verhalten, die anders leben, die eine andere Sprache sprechen, das macht eine Menge aus und kann eine Gesellschaft verändern. Ich bin dafür sehr dankbar, dass sozusagen ein bisschen Leben in die Bude gekommen ist, um es mal salopp zu sagen.

Kassel: Ist das mehr gewesen als das, worüber wir natürlich auch reden werden, was in Ihrem Buch steht, Dinge wie Capuccino, wie Knoblauch zum Beispiel, Pasta, Pizza, ist es auch ein Lebensgefühl, das die Italiener mitgebracht und auch irgendwie dann den Deutschen vermittelt haben?

Rönneburg: Ganz bestimmt, wobei ich denke, dass viel über das Kulinarische auch gekommen ist. Man darf das nicht unterschätzen. Wenn man sich überlegt, wie die Küche der fünfziger Jahre aussah, also sehr deutsch, sehr bodenständig, dann ist dieses Leichte, Mediterrane etwas, mit dem dann sehr viel einhergeht, etwa was das Draußensitzen angeht, überhaupt sich draußen zu bewegen, nicht in der Wohnung zu bleiben, sondern, wenn das Wetter gut ist, auch einen Stuhl vor die Tür zu stellen. Das machen heute alle, aber damals war das nicht üblich.

Kassel: Nun sind ja damals, 1955, die Italiener nicht nach Deutschland geholt worden, um Restaurants zu eröffnen. Sind eigentlich Szenen überliefert, wie zum Beispiel italienische Arbeiter ihren deutschen Kollegen in der Fabrik einen Capuccino gemacht haben, oder wie fing das alles an?

Rönneburg: So fing das bestimmt nicht an. Die Italiener, mit denen ich gesprochen habe, die in dieser Zeit nach Deutschland gekommen sind, übrigens schwer aufzutreiben, weil die meisten nach Italien zurückgegangen sind, die haben grundsätzlich erzählt, dass sie ein sehr gutes Verhältnis zu den Kollegen hatten, dass man aber auch zum Beispiel sich bemüht hat, den Knoblauchkonsum zu überdecken, teilweise mit scheußlichem Rasierwasser, um nicht unangenehm aufzufallen, und sie haben auch erzählt, dass es natürlich eine Umstellung war, wenn sie dann abends mit den Kollegen ausgegangen sind, dann gab es eben Bier und nicht das Gläschen Wein.

Kassel: Ich kriege immer bei dem, was Sie jetzt auch erzählt haben, wenn Sie mit italienischen Gastarbeitern aus der Zeit, fünfziger Jahre, sechziger Jahre, vielleicht reden, wenn man dann solche Geschichten hört, das sei alles ganz nett gewesen, die seien ihren Kollegen dankbar, kriege ich immer ein schlechtes Gewissen, denn wir wissen natürlich auch, damals waren viele dagegen, in Deutschland diese Arbeiter anzuwerben. Die haben teilweise in unglaublichen Baracken gehaust, wurden für harte Arbeit schlecht bezahlt. Gab es denn da überhaupt keine schlechten Gefühle, die Sie noch mitbekommen haben bei den Gesprächen heute?

Rönneburg: Oh doch, auf jeden Fall. Entscheidend ist, glaube ich, dass die allerersten, die kamen, gesagt haben, dass sie sich recht wohl gefühlt haben und angenommen wurden und dass man ihnen geholfen hat, auch im privaten Bereich. Aber im Zuge der ersten Rezession beispielsweise, da ging es sofort los, dass die Deutschen sagten, die nehmen uns die Arbeitsplätze weg, und die müssen weg. Das waren also auch recht schwierige Zeiten, nicht nur übrigens für die Italiener, selbstverständlich auch für die anderen, die später kamen, also die Jugoslawen oder die Spanier.

In Wolfsburg zum Beispiel haben mir die Italiener erzählt, dass sie damals, wenn die dann abends ausgegangen sind - und das war ja eine Gruppe von Tausenden von Italienern, die in Wolfsburg im Werk kaserniert waren, das waren ja junge Leute -, wenn die tanzen gehen wollten und wenn die - klar - Mädchen kennen lernen wollten, dann kamen sie oft an den Schildern in den Lokalen vorbei, wo es hieß "für Italiener verboten", und das ist selbstverständlich sehr kränkend.

Kassel: Da hat man jetzt leider - und das muss man zugeben - den Eindruck, dass vielleicht Deutschland den Italienern nicht so viel gegeben hat, aber Ihr Buch ist ein Buch des Dankes, deshalb heißt es ja auch "Grazie Mile". Die Italiener haben uns ja offenbar einiges gegeben. Wie war das denn am Anfang? Ich nehme jetzt mal die Dinge, die, glaube ich, für uns alle sehr normal inzwischen sind, die Pizza, die Nudeln, der Capuccino, das Olivenöl, der Knoblauch. Waren die Deutschen denn von Anfang an dankbar und begeistert, dass das bei ihnen plötzlich auch ankam?

Rönneburg: Nein, das war ja furchtbar fremd. Es gab aber schon ein großes Interesse. Das hat natürlich damit zu tun, dass die Deutschen damals auch angefangen haben, nach Italien in Urlaub zu fahren, das heißt, das Fremde sozusagen auch in der Fremde bereits mal gesehen hatten. Dann gab es eben plötzlich so skurriles Gemüse wie Auberginen oder Zucchini, das war ja hier nicht bekannt. Eine Restaurantbetreiberin aus Heidelberg hat mir zum Beispiel erzählt, dass gerade die jungen Leute, die Studenten ganz begeistert bei ihr gefuttert haben und gesagt haben, oh, das wollen wir jetzt auch mal essen, was der da am Nebentisch hat. Also es gab schon ein Interesse.

In anderen Fällen war es schwierig, da müsste man ein bisschen weiter zurückgehen in der Zeit, also italienisches Eis wurde in Deutschland viel früher verkauft und sogar produziert, sogar deutsche Eishersteller haben von den italienischen Gelattieri gelernt. Das war dann so Ende des 19. Jahrhunderts, und das Eis wurde damals aus kleinen Wagen heraus verkauft auf der Straße.

Das allerdings wurde dann auch sehr schnell verboten. Da hat also die Stadt Braunschweig an den Deutschen Städtetag appelliert, den Eisverkauf auf freier Straße zu verbieten, weil nämlich so Kinder und Jugendliche verschiedenen Geschlechts unbeaufsichtigt zusammenkamen, und da fürchtete man um die Moral.

Kassel: Ein Eisverbot aus Anstand und sittlichen Gründen, wobei das war ungefähr zu Jahrhundertwende 19./20. Wie war das später? Wir haben schon gesagt, dass wir das alles normal finden, aber wenn ich mir jetzt einen Espresso stelle, virtuell, habe keinen da, neben einen guten deutschen Filterkaffee, haben die Leute nicht am Anfang gedacht, das ist Betrug, dass es so eine kleine Tasse ist?

Rönneburg: Das war ja sogar in den achtziger Jahren noch so, da habe ich das auch noch erlebt, dass sich Gäste im Restaurant beschwert haben, dass ihre Tasse nur halbvoll ist. Das hat, glaube ich, sehr lange gedauert.

Kassel: War denn eigentlich am Anfang, wenn ich mir jetzt zum Beispiel die erste Pizzeria, das erste Ristorante vorstelle, war das am Anfang so, dass die Leute sich da gar nicht reingetraut haben, weil sie dachten, etwas Flaches mit Teig, was soll das sein?

Rönneburg: Ja, das war ja vollkommen unbekannt. Die erste Pizzeria, die übrigens, so ganz kann ich es nicht belegen, aber es ist angeblich die allererste Pizzeria, gab es in Würzburg, und die hat in der Nachkriegszeit für die amerikanischen Soldaten gekocht, denn die kannten das, die kannten Pizza und, wie der damalige Betreiber so schön sagt, "Spaghetti with meat balls".

Und für die Deutschen war das erstens damals unbezahlbar und dann natürlich fremd, aber mir wurde erzählt, das fand ich eigentlich sehr schön, die Deutschen sind in diese Pizzeria erst gegangen, als dort der Keller ausgebaut worden war, und zwar in Form einer gewöhnungsbedürftigen blauen Grotte, und dort traf man sich zum Flirten, und erst so im Laufe der Jahre stiegen die Deutschen quasi aus dem Keller nach oben und probierten da, auch mal einen Teller Nudeln zu essen.

Kassel: Wie ist es denn mit der Pasta oder ganz konkret, ganz simpel, mit den Spaghetti? Wie kamen die und wie kamen die an?

Rönneburg: Die Spaghetti gab es bereits. Man konnte sie auch in Deutschland kaufen, das war so ein exotisches Lebensmittel wie, sagen wir mal, heutzutage thailändische Gewürzmischungen merkwürdiger Herkunft. Die Italiener selbst haben ihre Spaghetti oft per Großeinkauf bezogen, weiß ich, also da gab es dann Leute, die mit einem ganzen Wagen voller Spaghetti bei den Wohnheimen vorbeigefahren sind und dort die Arbeiter versorgt haben mit Spaghetti, und die Deutschen haben in speziellen Geschäften sich diese Nudeln gekauft, haben aber - zumindest kann man das den Kochbüchern der 50er Jahre und auch noch so der 60er entnehmen - diese Nudeln dann laut Anweisung 15 Minuten gekocht und kalt abgeschreckt.

Kassel: Jetzt reden wir auch zurecht von den vielen Dingen, die die Italiener mitgebracht haben, im Wesentlichen Essen und Trinken, aber indirekt vielleicht auch noch andere Sachen. Gibt es eigentlich auch etwas aus Deutschland, dass die damaligen Gastarbeiter mit nach Italien genommen haben?

Rönneburg: Es gibt deutsche Standards sozusagen, also die Ordnung, diese deutsche Ordnung, dass zum Beispiel die Polizei keine Schmiergelder erwartete, das sind so Sachen, die Italiener, ältere Italiener erzählen, wo sie ziemlich platt waren und erstaunt.

Kassel: Mit anderen Worten: Die Italiener haben das gute Essen nach Deutschland gebracht und ein bisschen versucht, die deutsche Ordnung mit nach Italien zu nehmen. Nun haben wir darüber geredet, dass sich einiges aus Italien durchgesetzt hat, da reden wir nicht nur über den Knoblauch, sondern auch über das Lebensgefühl, da fällt einen oder mir natürlich sofort die Toskana-Fraktion ein und italienische Anzüge, die mehr oder weniger geschickt getragen werden, aber vor allen Dingen so, dass man das Etikett noch sieht. Diese Art von italienischem Lebensgefühl, sind da auch die Gastarbeiter dran schuld?

Rönneburg: Das sind die Deutschen, die eigentlich gerne Italiener wären oder zumindest sehr froh wären, wenn sie mit Italienern verwechselt würden. Es gibt ja inzwischen so einen Hang dazu, das Italienische derartig in den Vordergrund zu stellen, zu lieben Italienisch zu sprechen, korrekt "due espressi" zu bestellen und nicht etwa, wie die Deutschen das sonst machen, "zwei Espressos". Das ist ein sehr aufgesetztes Verhalten, was mich manchmal auch ärgert, weil da sozusagen vergessen wird, was für eine gemeinsame Geschichte Deutsche und Italiener haben, und dass eben, als die Italiener kamen, um damals bei Opel oder VW zu arbeiten, niemand damals gesagt hätte: "Ah, Enrico, schön, dass du da bist, und wie geht es dir", und das übrigens auf Italienisch.

Kassel: Carola Rönneburg war das im Gespräch im Deutschlandradio Kultur. Ihr Buch heißt "Grazie mille - Wie die Italiener unser Leben verschönert haben", ist im Herder-Verlag erschienen und darin geht es um die kulinarischen und sonstigen Mitbringsel der italienischen Gastarbeiter.
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