Italien birgt Flüchtlingsschiff

Den Opfern einen Namen geben

Auf dem Deck eines Schiffs der italienischen Küstenwache liegen gerettete Flüchtlinge.
Diese Flüchtlinge wurden von der italienischen Küstenwache gerettet, nachdem vor der libyschen Küste ein Schiff mit Hunderten Flüchtlingen versank. © picture alliance / dpa / Ivan Consiglio
Von Tilmann Kleinjung · 20.04.2016
Vor einem Jahr sank vor der libyschen Küste ein Boot mit über 700 Menschen - die Leichen sind noch nicht alle geborgen worden. Italiens Ministerpräsident Matteo Renzi hat inzwischen entschieden, das Boot an Land zu holen.
Das Mittelmeer als Friedhof. Von Papst Franziskus stammt dieses Bild, das in dem Meeresabschnitt zwischen der nordafrikanischen Küste und Sizilien bereits zur traurigen Realität geworden ist. 18. April 2015: Im Kanal von Sizilien ereignet sich das schlimmste Bootsunglück, seit es die Flucht über das Mittelmeer gibt. Ein völlig überladenes Schiff sinkt, tragischerweise in dem Moment, als die Retter nahen. Nur 28 Menschen überleben. Für die meisten Passagiere wird dieses Schiff zum Sarg. Wenige Wochen später versprach Italiens Ministerpräsident Matteo Renzi: "Wir holen die Opfer vom Meeresgrund."
Renzi: "Wir werden herunter gehen und das Schiff bergen. Wir werden es hochholen. Die ganze Welt muss sehen, was geschehen ist."
Vittorio Piscitelli muss das Versprechen des Ministerpräsidenten einlösen. Er ist Beauftragter des Innenministeriums für die Suche nach vermissten Personen. Doch so einen Fall gab es noch nie. Hunderte Leichen eingepfercht in einem Schiff in fast 400 Metern Tiefe. Genau ein Jahr nach dem Unglück begannen nun die Arbeiten für die Bergung des Wracks.
Piscitelli: "Tatsächlich haben wir bereits 169 Leichen geborgen, sie sich außerhalb des Schiffes befanden. Die Marine schätzt, dass im Schiffsbauch zwischen 200 und 400 Leichen sind. Allerdings kann man, wenn man weiß, wie Schlepper Flüchtlinge behandeln, nicht ausschließen, dass die Zahl höher ist."
Vittorio Piscitelli koordiniert an Land den Einsatz einer Spezialfirma, die mit Hilfe von Hydraulikpumpen das Wrack wieder an die Oberfläche befördern soll. Ein komplizierter, technisch aufwändiger Prozess, der an die Aufrichtung des Kreuzfahrtschiffes "Costa Concordia" erinnert.

Arbeit gegen die Gleichgültigkeit

Piscitelli: "Wir haben jetzt mit der Bergung begonnen, die wohl Ende April abgeschlossen ist. Das Wrack wird in den Hafen von Augusta gebracht und dort werden die Leichen geborgen und den Gerichtsmedizinern übergeben, die die Untersuchungen für die Identifizierung durchführen."
Cristina Cattaneo leitet eigentlich an der Universität Mailand das Labor für forensische Anthropologie. Doch ab Mai wird sie im Dauereinsatz in der sizilianischen Hafenstadt Augusta sein und dort die sterblichen Überreste der Flüchtlinge identifizieren, die am 18. April 2015 auf halbem Weg zwischen Libyen und Sizilien ertrunken sind.
Cattaneo: "Das ist eine der komplexesten Katastrophen, mit der es die Gerichtsmedizin je zu tun hatte. Denn die Opfer stammen nicht aus einem Ort und aus einer Zeit, sondern sind weit verstreut. Das heißt: Selbst wenn es den Gerichtsmedizinern nach all der Zeit noch gelingt, die für eine Identifizierung notwendigen Hinweise zu sammeln - wie Gebisse, Tätowierungen, Narben - wird es schwierig sein, diese abzugleichen. Für DNA-Proben müsste man in die Herkunftsländer reisen, um Vergleichsmaterial von Verwandten zu erheben. Dennoch hält Cattaneo ihre Arbeit für unverzichtbar."
Cattaneo: "Es ist natürlich nicht immer möglich, aber wir wollen alles tun, um den Menschen Nachnamen und Vornamen zu geben. Das gebietet der Respekt vor der Menschenwürde und den Menschenrechten."
Cristina Cattaneo versteht ihre Arbeit auch als Beitrag gegen die Gleichgültigkeit angesichts des Schicksals der Bootsflüchtlinge. Ihr Einsatz in Augusta ist freiwillig, ehrenamtlich. Sogar die Flüge nach Sizilien zahlt sie aus eigener Tasche.
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