Istanbul Music Festival

Klassik-Künstler aus aller Welt am Bosporus

06:22 Minuten
Ein Kammerorchester auf einer Bühne, die im Hintergrund das Logo das Festivals zeigt.
Knapp drei Wochen dauert das Istanbul Music Festival, das am 11 Juni in diesem Jahr startete. © Istanbul Music Festival / Ali Guler
Von Julia Kaiser · 21.06.2019
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Derzeit findet das Istanbul Music Festival statt. Schlagzeilen aus der Stadt sind oft negativ. Dagegen wendet sich die Kultur- und Klassikszene und ruft europäische Künstler auf, ins Land zu kommen und für das kulturhungrige Publikum zu spielen.
Zum 47. Mal findet gerade das Istanbul Music Festival vom 11. bis 30. Juni statt. Ein klassisches Musikfest, direkt vor unserer europäischen Haustür und doch aktuell scheinbar Welten entfernt. Auch der RIAS Kammerchor und der Rundfunkchor Berlin haben dorthin Konzertreisen unternommen.

Einladung in die Stadt

"Genau jetzt ist die richtige Zeit, Istanbul zu besuchen", sagt Efruz Çakırkaya, Direktorin des Istanbul Music Festivals. "Denn wir brauchen Kunst, Musik und Kultur, damit wir uns normal fühlen können. Wir brauchen Solidarität. Darum bitten wir alle Musikerinnen und Musiker, die gerade zögern, nach Istanbul zu reisen."
Diese inständige Bitte formuliert Çakırkaya, die in diesem Jahr die Leitung des Festivals übernommen hat - als vierte Frau in Folge. Mit ganzer Kraft setzt sich die Institution dafür ein, zu zeigen, wie reich an Kultur die Stadt ist. In den letzten Jahren hat es Istanbul oft nur mit negativen Schlagzeilen in die ausländischen Nachrichten geschafft. Umso wichtiger, zu zeigen, dass es hier ein normales und kulturhungriges Publikum gibt. Der RIAS Kammerchor Berlin sei der Einladung ohne Zögern gefolgt, sagt Chordirektor Bernhard Heß.

Reise ohne Bedenken

"Ich habe, ehrlich gesagt, gar nicht lange überlegt, aus dem einfachen Grund: Dieses Festival ist schon immer ein staatlich unabhängiges gewesen. Ein Beleg dafür ist sicher, das Fazil Say ständig hier zu Gast ist, und der ist ja nun wirklich kein großer Freund von Erdogan. Und weil wir hier auch etwas unterstützen, das nichts mit Propaganda zu tun hat, sehe ich es als wichtig an, dass wir hier sind."
Der Chor steht auf einer großen Bühen, vor den Sängerinnen zwei Pianistinnen an einem Flügel
Der RIAS Kammerchor im Konzert in Begleitung des Pianisten-Schwesternpaares Dördüncü.© Istanbul Music Festival / Ali Guler
Ein Barockes Programm hat sich das Festival gewünscht, dafür ist die Akademie für Alte Musik Berlin gemeinsam mit dem RIAS Kammerchor nach Istanbul gereist. Bernhard Heß dazu: "Für den Chor war das wirklich ein mystisches Erlebnis.

Veranstaltungsorte in der Stadt

Das ist eine Kirche, die 500 nach Christus erbaut wurde. Die Ursprünge gehen, glaube ich, auf 300 nach Christus zurück. Und das ist schon ein ganz, ganz besonderer Ort, diese Geschichte zu schnuppern. Und dann in diesem Raum Musik zu machen, das ist faszinierend, wirklich."
Im mit Putten bemalten, ausverkauften Süreyya Opernhaus, auf der asiatischen Bosporusseite Istanbuls gelegen, musizierte der Chor Brahms' "Liebesliederwalzer", zusammen mit den Pianistinnen Ufuk und Bahar Dördüncü.
Die beiden Schwestern sitzen vor einer Tastatur, die eine mit aufgelöstem, die andere mit ganz kurzem Haar.
Das Schwesternpaar Ufuk und Bahar Dördüncü können das Publikum für neue Musik begeistern.© Ufuk und Bahar Dördüncü / Emre Basak
In der zweiten Konzerthälfte spielten die Schwestern außerdem ein Auftragswerk des Istanbul Music Festivals, von der in Berlin lebenden türkischen Komponistin Zeynep Gedizlioglu.
Ufuk Dördüncü schwärmt: "Das ist ein fantastisches Stück, etwas so Neues und Frisches, und so charakteristisch! Kraftvoll! Für mich und Bahar ist es wundervoll." Ihre Schwester ergänzt: "Ja, wir sind gerührt und geehrt, dass das Istanbul Festival uns ausgewählt hat für die Uraufführung von Zeyneps Stück. In der Türkei sind wir sehr bekannt als Klavierduo für neue Musik. Aber mit diesem Repertoire lädt man uns kaum ein. Denn leider sind unsere Leute vielleicht noch nicht bereit dafür, das anzunehmen, was wir ihnen gerne anbieten möchten."

Begeisterungsfähiges Publikum

Das Werk mit dem Titel "Simdi", zu Deutsch "Jetzt", erntet aber sogar Bravorufe. Das Publikum des Istanbul Music Festivals ist also nicht zu unterschätzen. Zeynep Gedizlioglus Werk hat sie mitgerissen, sagt auch die 20jährige Deniz: "Vorher habe ich sonst nicht viel klassische Musik gehört, denn in der Türkei ist es nicht so populär, Klassik zu hören. Aber jetzt war ich bei den Dördüncü-Schwestern und bin total begeistert.
So etwas habe ich mir unter klassischer Musik überhaupt nicht vorgestellt. Sie waren wirklich ganz im Moment, als sie gespielt haben, es hat mich voll hineingezogen in das Stück. Und jetzt, wo ich weiß, dass der Titel "Jetzt" ist, finde ich, dass das eine total coole Art ist, klassische Musik von heute neu zu denken. Solche Kunst und Kulturerlebnisse brauchen wir in unserem täglichen Leben!"

Konzertwanderungen

Und das möglichst überall in der Stadt. Zum vierten Mal veranstaltet das Istanbul Music Festival eine musikalische Nachbarschaftswanderung mit Konzerten in historischen Bauwerken. Diesmal in zwei griechisch-orthodoxe und zwei armenische Kirchen, sagt Festivalleiterin Efruz Cakirkaya: "Istanbul ist riesig. Und genauso umfangreich ist die Geschichte. Wir haben Gebäude aus römischer, byzantinischer und osmanischer Zeit.
Jedes Jahr suchen wir einen neuen Distrikt aus, in dem wir einen Tag lang Musik in alten Kirchen, Synagogen und an anderen historischen Orten veranstalten. Normalerweise kann man diese Gebäude nicht betreten, wenn nicht gerade ein Gottesdienst gehalten wird. In diesem Jahr sind wir in Samatya, das ist ganz nah an der historischen Halbinsel, am Goldenen Horn von Istanbul. Guides begleiten die Gruppen auf ihrem Weg zwischen den Konzerten an den historischen Orten und erzählen den Besuchern von der Geschichte des Distrikts.

Kommentar zur Völkermord-Debatte

Das Saygun Quartett aus Istanbul spielt in einer armenischen Kirche Musik des armenischen Komponisten Komitas Vardapet und stellt sie dem ersten Streichquartett seines Namensgebers Ahmed Adnan Saygun gegenüber.
Blick in ein kleines Kirchenschiff mit Stuck und schlichten Holzbänken.
Auch in dieser armenische Kirchen des Heiligen Hovhannes in Istanbul gab es Konzerte.© Istanbul Music Festival / Sahir Ugur Eren
Komitas war einer der wenigen Intellektuellen, die den Völkermord an den Armeniern im osmanischen Reich überlebt haben. Mit dieser Programmierung in einem Land, das bis heute nicht zu seiner Verantwortung für den Genozid steht, setzt das Istanbul Musik Festival ein weiteres starkes Statement. Und in der kommenden Woche setzt die Festivalleiterin Efruz Chakirkaya mit dem Human Requiem des Rundfunkcores Berlin einen hoffnungsvollen Abschluss.

Musikalltag zeigen und schaffen

"Das 'Human Requiem' des Rundfunkchores Berlin haben wir 2012 auf der Baustelle der Elbphilharmonie gesehen. Wir waren begeistert und sagten sofort: Das wollen wir hier auf unserem Festival zeigen. Aber bisher ist es uns nicht gelungen, das Ensemble herzubringen, wegen all der unglücklichen Dinge, die passiert sind. Die öffentlichen Proteste im Gezi Park, später der terroristische Angriff auf den Flughafen.
Viele Musiker aus Europa zögern, in die Türkei zu reisen. Und wenn sie dann hier sind, sagen sie: Das ist ja überhaupt nicht so, wie es in den Medien gezeigt wird. Denn dort hört man ja nur von den schrecklichen Dingen, die es in die Nachrichten schaffen. Aber das Leben hier ist normal! Und um ein normales Leben zu führen, brauchen wir Musik und Kunst. Denn die Kultur ist das, was die Menschlichkeit bewahrt.
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