Ist jeder verdächtig?
In den besseren Tanzschulen lernte man früher als Heranwachsender die Kunst der gepflegten Konversation. Die harmlos freundliche Plauderei mit Fremden gehörte zum Grundrepertoire des zivilisierten Benehmens im öffentlichen Raum. Man hielt Distanz, zeigte sich interessiert und wenn einem nichts mehr einfiel, sprach man übers Wetter.
Vermieden werden sollten auf jeden Fall anstößige und kontroverse Themen. Dieses kunstvoll harmlose Geplänkel respektierte die Privatsphäre des Gegenübers und lieferte doch den Kitt der Konversation, der viele soziale Gebilde zusammenhielt.
Auch damals gab es Mütter, die ihre Kinder umbrachten, Väter, die sie missbrauchten und üble Schurken, die hinter der glänzenden Fassade des Biedermanns düstere Pläne schmiedeten und manchmal sogar in die Tat umsetzten. Aber wenn dergleichen an den Tag kam, dann wunderte oder erregte man sich angemessen, gab sein Urteil ab und ging im Plauderton zur Tagesordnung über. Das Englische hat für solche Situationen den wunderbar lakonischen Ausdruck "Shit happens!". Es gehört zu den Unwägbarkeiten des Lebens, dass die Dinge aus dem Ruder laufen. Aber das ist kein Grund, paranoid zu werden und hinter allen Eltern Kindstöter, oder hinter Künstlern gefährliche Pädophile zu vermuten, nur weil sie Minderjährige in lasziven Posen malen. Noch ist es ein Grund, alles über den moralischen Leisten zu schlagen, und jeden Manager als Bilanzfälscher, jeden Politiker als Volksverdummer zu beschimpfen. Familien sind zuweilen auch Orte der Gewalt, junge Körper haben ihren eigenen Sexappeal und in Wirtschaft und Politik herrscht das Recht des Stärkeren bzw. Lauteren. Wussten wir das nicht schon immer? Und wussten wir nicht schon immer um die möglichen Folgen dieser Sachverhalte? Und ist es schließlich nicht eine ironische Volte der Geschichte, dass mit zunehmender Entmoralisierung einer Gesellschaft, die sich nur mehr als Verblendungszusammenhang von Sachzwängen begreift, neuerdings Moralunternehmer von Transparency International bis zum Kinderschutzbund einen derart schrillen Ton anstimmen und im Angesicht von entsprechenden Enthüllungen Alarm rufen?
Allerdings ist dieser alarmistische Ruf der Empörung, der dann zwanglos immer in die Forderung nach mehr Kontrolle und Strafe übergeht, vermutlich nur ein Abfallprodukt, eine Nebenfolge tiefer liegender kultureller Veränderungen. Wir haben es mit einer zunehmenden Ausdünnung des sozialen Verkehrs zu tun und damit geht ein Verlust der Kommunikationsfähigkeit einher. Kommunikation schafft Vertrauen in den Anderen und das schwindet. Die Folge ist eine Art moralisch aufgeladene Beweislastumkehr im Alltag. Ein jeder ist bis zum maschinenlesbaren Nachweis des Gegenteils zunächst verdächtig, muss sich ausweisen, muss seine Unschuld beweisen. Wie gesagt, böse Menschen gab es immer schon, weder der Terrorist, noch der Kinderschänder, noch der betrügerische Wirtschaftstreibende sind eine in der Gegenwart massiert auftretende Bedrohung. Was sich ändert, ist die Fähigkeit, damit umzugehen. Angefeuert von einschlägig interessierten Kreisen in Medien und Politik wächst die Bereitschaft, die eigene Unfähigkeit zur Gestaltung des trivialen Alltags im Gemeinwesen und vor der Haustüre durch immer wahnwitzigere Kontrollmechanismen zu ersetzen. Die Folge ist eine völlig desolate Untertänigkeit im Angesicht der mit dieser Kontrolle einhergehenden zivilisatorischen Zumutungen.
Die perfide selbst verstärkende Logik dieser Entwicklung wird durch eine geradezu religiöse Haltung beschönigt. Es heißt, wer nichts zu verbergen habe, brauche sich vor Kontrolle nicht zu fürchten. Warum aber beweise ich meine Unschuld, indem ich mich einem absurden System von Kennziffern, Körperdurchsuchungen und biometrischen Vermessungen aussetze und mich von der Wiege bis zur Bahre auf Schritt und Tritt von Videokameras verfolgen lasse? Warum muss ich meine Unschuld überhaupt beweisen!? Wir sind Zeugen einer hausgemachten sozialen Entmündigung, die von gegenseitiger Anerkennung zu allgemeiner Verdächtigung führt. Lewis Carroll hätte heute mit seiner Verehrung für die kleine Alice wahrscheinlich schon die Fahndungstruppe des Jugendamts am Hals. Und wäre ein Maler wie Balthus nicht bereits vor dem allgemeinen Wahnsinn ein anerkannter Künstler gewesen, seine Bilder von jungen Mädchen würden von der Prüfstelle gegen den Missbrauch von Jugendlichen beschlagnahmt werden.
Wer hier in kritischer Absicht an den Alltagsverstand oder widerständigen Bürgersinn appelliert, der sollte bedenken, dass diese sich nur auf dem Humus gegenseitiger Anerkennung und Toleranz entwickeln. Die aber sind Mangelware. Vielleicht schafft hier dann doch die Wiedereinführung von Tanzkursen Abhilfe.
Dr. Reinhard Kreissl, geboren 1952, ist Soziologe und Publizist. Studium in München, Promotion in Frankfurt/Main. Habilitation an der Universität Wuppertal. Kreissl hat u.a. an den Universitäten San Diego, Berkeley und Melbourne gearbeitet. Er hat zahlreiche wissenschaftliche Publikationen verfasst und schrieb regelmäßig für das Feuilleton der "Süddeutschen Zeitung". Buchpublikationen u. a.: "Die ewige Zweite. Warum die Macht den Frauen immer eine Nasenlänge voraus ist". Gerade erschienen ist bei Diedrichs im Hugendubel Verlag "Feinde. Alle, die wir brauchen". Kreissl lebt in München und Wien.
Auch damals gab es Mütter, die ihre Kinder umbrachten, Väter, die sie missbrauchten und üble Schurken, die hinter der glänzenden Fassade des Biedermanns düstere Pläne schmiedeten und manchmal sogar in die Tat umsetzten. Aber wenn dergleichen an den Tag kam, dann wunderte oder erregte man sich angemessen, gab sein Urteil ab und ging im Plauderton zur Tagesordnung über. Das Englische hat für solche Situationen den wunderbar lakonischen Ausdruck "Shit happens!". Es gehört zu den Unwägbarkeiten des Lebens, dass die Dinge aus dem Ruder laufen. Aber das ist kein Grund, paranoid zu werden und hinter allen Eltern Kindstöter, oder hinter Künstlern gefährliche Pädophile zu vermuten, nur weil sie Minderjährige in lasziven Posen malen. Noch ist es ein Grund, alles über den moralischen Leisten zu schlagen, und jeden Manager als Bilanzfälscher, jeden Politiker als Volksverdummer zu beschimpfen. Familien sind zuweilen auch Orte der Gewalt, junge Körper haben ihren eigenen Sexappeal und in Wirtschaft und Politik herrscht das Recht des Stärkeren bzw. Lauteren. Wussten wir das nicht schon immer? Und wussten wir nicht schon immer um die möglichen Folgen dieser Sachverhalte? Und ist es schließlich nicht eine ironische Volte der Geschichte, dass mit zunehmender Entmoralisierung einer Gesellschaft, die sich nur mehr als Verblendungszusammenhang von Sachzwängen begreift, neuerdings Moralunternehmer von Transparency International bis zum Kinderschutzbund einen derart schrillen Ton anstimmen und im Angesicht von entsprechenden Enthüllungen Alarm rufen?
Allerdings ist dieser alarmistische Ruf der Empörung, der dann zwanglos immer in die Forderung nach mehr Kontrolle und Strafe übergeht, vermutlich nur ein Abfallprodukt, eine Nebenfolge tiefer liegender kultureller Veränderungen. Wir haben es mit einer zunehmenden Ausdünnung des sozialen Verkehrs zu tun und damit geht ein Verlust der Kommunikationsfähigkeit einher. Kommunikation schafft Vertrauen in den Anderen und das schwindet. Die Folge ist eine Art moralisch aufgeladene Beweislastumkehr im Alltag. Ein jeder ist bis zum maschinenlesbaren Nachweis des Gegenteils zunächst verdächtig, muss sich ausweisen, muss seine Unschuld beweisen. Wie gesagt, böse Menschen gab es immer schon, weder der Terrorist, noch der Kinderschänder, noch der betrügerische Wirtschaftstreibende sind eine in der Gegenwart massiert auftretende Bedrohung. Was sich ändert, ist die Fähigkeit, damit umzugehen. Angefeuert von einschlägig interessierten Kreisen in Medien und Politik wächst die Bereitschaft, die eigene Unfähigkeit zur Gestaltung des trivialen Alltags im Gemeinwesen und vor der Haustüre durch immer wahnwitzigere Kontrollmechanismen zu ersetzen. Die Folge ist eine völlig desolate Untertänigkeit im Angesicht der mit dieser Kontrolle einhergehenden zivilisatorischen Zumutungen.
Die perfide selbst verstärkende Logik dieser Entwicklung wird durch eine geradezu religiöse Haltung beschönigt. Es heißt, wer nichts zu verbergen habe, brauche sich vor Kontrolle nicht zu fürchten. Warum aber beweise ich meine Unschuld, indem ich mich einem absurden System von Kennziffern, Körperdurchsuchungen und biometrischen Vermessungen aussetze und mich von der Wiege bis zur Bahre auf Schritt und Tritt von Videokameras verfolgen lasse? Warum muss ich meine Unschuld überhaupt beweisen!? Wir sind Zeugen einer hausgemachten sozialen Entmündigung, die von gegenseitiger Anerkennung zu allgemeiner Verdächtigung führt. Lewis Carroll hätte heute mit seiner Verehrung für die kleine Alice wahrscheinlich schon die Fahndungstruppe des Jugendamts am Hals. Und wäre ein Maler wie Balthus nicht bereits vor dem allgemeinen Wahnsinn ein anerkannter Künstler gewesen, seine Bilder von jungen Mädchen würden von der Prüfstelle gegen den Missbrauch von Jugendlichen beschlagnahmt werden.
Wer hier in kritischer Absicht an den Alltagsverstand oder widerständigen Bürgersinn appelliert, der sollte bedenken, dass diese sich nur auf dem Humus gegenseitiger Anerkennung und Toleranz entwickeln. Die aber sind Mangelware. Vielleicht schafft hier dann doch die Wiedereinführung von Tanzkursen Abhilfe.
Dr. Reinhard Kreissl, geboren 1952, ist Soziologe und Publizist. Studium in München, Promotion in Frankfurt/Main. Habilitation an der Universität Wuppertal. Kreissl hat u.a. an den Universitäten San Diego, Berkeley und Melbourne gearbeitet. Er hat zahlreiche wissenschaftliche Publikationen verfasst und schrieb regelmäßig für das Feuilleton der "Süddeutschen Zeitung". Buchpublikationen u. a.: "Die ewige Zweite. Warum die Macht den Frauen immer eine Nasenlänge voraus ist". Gerade erschienen ist bei Diedrichs im Hugendubel Verlag "Feinde. Alle, die wir brauchen". Kreissl lebt in München und Wien.