Ist die Zeit gekommen, um das Geschichtsbild zu ändern?

Von Ernst Nolte · 08.04.2007
Aus Anlass des Streits zwischen dem italienischen und dem kroatischen Staatspräsidenten über die Einschätzung von Ereignissen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs 1945 war in einem Leitartikel der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" zu lesen, es sei "höchste Zeit, ein Geschichtsbild zu ändern, das Europa in Sieger und Besiegte" aufteile.
In der Tat ist es eine simple Wahrheit, dass ein großer Krieg nur von Staaten geführt werden kann, die von unbedingtem Siegeswillen erfüllt sind, und dazu gehört seit dem Ende der Kabinettskriege der Glaube, dass der Feind ganz schlecht und von Gott oder der Geschichte zur Niederlage verurteilt ist. Jede Tatsache, die für die eigene Sache und gegen die Feinde spricht, wird begierig aufgegriffen und häufig noch zugespitzt oder übersteigert.

Dieser Siegeswille ist ganz nach außen gerichtet: er schließt jede ernsthafte Selbstprüfung oder Selbstkritik aus. Eben dies aber verlangt der Geist der Wissenschaft und schon das einfache menschliche Empfinden, sobald der Friede wiedergekehrt ist: nämlich dass jede menschliche Sache auch eine "andere Seite" hat, dass Menschen als solche irrtumsunterworfene und fehlbare Wesen sind, die sich immer nur in konkreten Beziehungen zu anderen fehlbaren oder unvollkommenen Wesen befinden und sich einer "absoluten Wahrheit" immer nur annähern können, solange es sich nicht um grundlegende Einsichten der Mathematik oder der Logik handelt.

Der nicht nur im Kriege wahrnehmbare Impuls vieler Menschen und menschlicher Gruppen, in anderen Menschen "die Ungläubigen", die "Menschheitsfeinde" oder "die Bösen" zu sehen, ist dem Geist der Wissenschaft und der abwägenden Vernunft entgegengesetzt, aber er ist so mächtig, dass er zumal in Nachkriegszeiten für lange Perioden allein oder nahezu allein das Sagen haben kann. Und er ist ja meist keineswegs ohne gute Gründe, denn die "Gräueltaten" eines Krieges oder eines Bürgerkrieges müssen weder quantitativ noch qualitativ von derselben Art sein, so dass sie sich gegenseitig ausgleichen könnten: Unterschiede nicht wahrhaben zu wollen, widerspricht ebenfalls dem wissenschaftlichen Geiste und der Vernunft, aber das schlechtere oder schwächere Unterschiedene muss mindestens wahrgenommen werden.

In der Geschichte des 19. Jahrhunderts hat es einen überwältigenden, ja totalen Sieg gegeben, der aus einer tiefen Überzeugung heraus geführt werden konnte, denn er richtete sich gegen Sklavenhalter den Sieg der amerikanischen Nordstaaten gegen die Südstaaten, deren führende Schicht oft genug als "das Böse" schlechthin betrachtet wurde. Aber es dauerte nur wenige Jahrzehnte, und eine ganze Historikerschule entdeckte anrührende und liebenswerte Merkmale im "alten Süden" und legte sogar viel Verständnis für die Motive seiner Staatsmänner und Generäle an den Tag; eine Änderung der Hauptresultate des Krieges suchte sie aber nicht zu erreichen, und sie konnte das nicht erreichen.

Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs galten vielen Menschen die Thesen der Sieger von der deutschen Zerstörungslust und Barbarei nicht ohne Grund als definitiv erwiesen, so sonderbar es war, dass die führende Wissenschaftsnation der Welt als solche der Kategorie der "Barbarei" zugezählt wurde. Aber schon sehr bald wurden diese Thesen von einer ganzen Schule von Historikern in Frage gestellt, zu der keineswegs bloß Deutsche zählten, und um 1932 herum konnte niemand behaupten, dass diese "Revisionisten" aus der Auseinandersetzung eindeutig als die Unterlegenen hervorgegangen wären.

1945 aber schienen keine Revisionen mehr möglich zu sein, denn Deutschland hatte tatsächlich den Krieg mit einem "Überfall" auf Polen und später die Sowjetunion begonnen; es hatte ihm schon in Polen nicht einen Frieden, sondern ein überaus hartes Besatzungs- und Annexionsregime folgen lassen, und es hatte den Partisanenkrieg, der im Sommer 1941 keineswegs bloß in Russland, sondern in vielen europäischen Ländern entbrannte, mit Methoden geführt, die mit Recht als "unverhältnismäßig" galten. Es hatte sich aber vor allem eines groß angelegten Völkermordes schuldig gemacht, dessen Spitze der Vernichtungskrieg gegen "die Juden", das heißt gegen Zivilisten, darstellte. Offenbar war der Vorwurf der "Feindschaft gegen die Menschheit" gut begründet gewesen.

Und doch machte sich auch jetzt Widerspruch und Kritik bemerkbar, zunächst im eher oberflächlichen Bereich. Hatten nicht auch die Verbündeten einen schlimmen Überfall begangen, nämlich auf den Iran, und hatten die Engländer, wenngleich gewiss aus verstehbaren Gründen, die Flotte des eben noch verbündeten Frankreich angegriffen und viele Hunderte Marinesoldaten getötet? War der Einmarsch der Sowjettruppen in die baltischen Länder nicht auch ein "Überfall", der sich nicht durch ein Verbot der "Aufrechnung" aus der Welt schaffen ließ? War nicht der Abwurf von Atombomben auf zwei unverteidigte Städte Japans im letzten Stadium eines schon entschiedenen Krieges ein schlechthin präzedenzloses Kriegsverbrechen?

Und hatte man nicht allzu lange die Bedrängnisse der deutschen Bevölkerung übersehen, von der Hunderttausende von Menschen einen oft sehr qualvollen Tod durch den völkerrechtswidrigen Luftkrieg der Engländer und Amerikaner erleiden mussten? Gewiss waren die Tatsachen seit langem bekannt, aber sie haben erst in jüngster Zeit eine angemessene Darstellung durch einen deutschen Autor gefunden, den man rasch als "Revisionisten" abzutun versuchte, der aber bei Vorträgen in England und den USA auf überraschend viel an Verständnis und Zustimmung stieß.

Ernst Nolte, Historiker, Jahrgang 1923, Studium der Philosophie bei Martin Heidegger, 1925 Promotion, bis 1965 im Höheren Schuldienst, 1964 Habilitation mit dem Buch "Der Faschismus in seiner Epoche", das ihn weit über die deutschen Grenzen bekannt machte. 1965 bis 1973 Professor für Geschichte in Marburg, 1973 bis 1991 an der FU Berlin. Gastprofessuren und Forschungsaufenthalte u.a. an der Yale University, in Cambridge und Jerusalem. Buchveröffentlichungen u.a.: "Der europäische Bürgerkrieg 1917-1945"; "Feindliche Nähe. Kommunismus und Faschismus im 20. Jahrhundert. Ein Briefwechsel mit Francois Furet"; "Der kausale Nexus. Über Revisionen und Revisionismen in der Geschichtswissenschaft"; "Die Weimarer Republik. Demokratie zwischen Lenin und Hitler".