Ist der Westen noch zu retten?

Von Thomas Löffelholz |
Das Ende hat dann doch manchen aufgeschreckt: die Deutsche Oper in Berlin strich Mozarts Idomeneo aus ihrem Programm. Dass der Regisseur die blutigen Köpfe Poseidons, Buddhas und Christus’ auf die Bühne legen lässt, gehört zur Freiheit der Kunst. Ein paar Buhrufe sind einkalkuliert. Aber wenn aus dem Sack auch noch Mohammeds Kopf gezogen wird, hört der Opern-Spaß auf.
Hätte hier nur eine politisch unerfahrene Intendantin die Nerven verloren, es wäre nicht der Rede wert. Idomeneo bekommt eine neue Chance, ja, die Teilnehmer am Islamdialog werden dann in der Loge sitzen. Aber die gestrichene Oper wirft die Frage auf, wie eilfertig wir Eckwerte unseres Rechts, unserer Kultur, unserer Geschichte aufgeben, wenn Mohammed die Bühne betritt. Christus’ Kopf, ja! Mohammeds Kopf, nein!

Beispiele gibt es ohne Zahl: Salman Rushdies Texte wagte jahrelang keine Zeitung zu drucken. Als der Islamkritiker Theo van Gogh ermordet wurden, fragten viele: "Musste er den Islam so herausfordern?" Vermutlich wäre auch die Berliner Oper nicht in Panik verfallen, hätte der Papst nicht kurz zuvor zitiert, was vor 700 Jahren ein byzantinischer Kaiser über Mohammed sagte. Eine Welle der Wut raste um die Welt. Islamische Geistliche luden zu "Tagen des Zorns". Häuser brannten, eine Nonne zahlte mit ihrem Leben. Ein Spitzenpolitiker der türkischen Regierungspartei AKP stellte Benedikt XVI neben Hitler. 57 islamische Länder bringen das byzantinische Zitat vor den UN-Menschenrechtsrat.

Das wahre Drama aber ist, wie man hierzulande reagiert: Der Papst hätte es wissen müssen, las man überall! Er hat falsche Berater! Johannes Paul - dem Vorgänger - wäre es nie passiert. Konnte man jenen byzantinischen Kaiser, den osmanischen Armeen umzingelt hatten, nicht einfach streichen? Benedikt hätte aus dem Streit um die Mohammed-Karikaturen doch lernen müssen!

Nur: was lernen wir aus dem Karikaturenstreit? Opern abzusetzen? Den Zeichnern den Stift aus der Hand zu nehmen? Islamkritische Texte aus Byzanz zu bannen? Da druckt eine deutsche Zeitung, was ein Historiker über die Gewalt in der Geschichte des Islam schreibt. Darf man das? In Ägypten wird die Ausgabe der "Frankfurter Allgemeinen" sofort verboten.

Da sind wir beim Kern. Jesus darf karikiert werden. Wenn es jemand verlangt, muss im christlichen Stammland Bayern das Kreuz im Klassenzimmer abgehängt werden. Und wenn ein Regisseur den Sieg der Vernunft über die Götzen dadurch feiern will, dass er den Kopf Christi auf die Bühne legt, schickt sich der Vatikan darein. - Zu unseren Errungenschaften gehört die Freiheit, sich als Christ, Buddhist oder Teufelsanbeter zu bekennen, aber eben auch die Freiheit, jede Religion für Götzendienst zu halten, sogar auf offener Bühne.

Es sei denn, es geht um Mohammed. Während des Karikaturenstreites wagten die meisten deutschen Zeitungen nicht, die Steine des Anstoßes zu zeigen. Und die Zeitungen, die es wagten, wurden verdammt, in einer ersten Aufwallung sogar vom "Deutschen Journalistenverband", der sich gern als Erzengel der Pressefreiheit sieht. Der Chef der Grünen erklärte damals gar, er fühle sich an die antijüdischen Karikaturen in Hitlers Zeiten erinnert.

Da reißen Tag für Tag Selbstmordattentäter im Namen Allahs Unschuldige in den Tod, weil ihnen radikale Religionsführer versprochen haben, sie kämen als Märtyrer ins Himmelreich. "Tage des Zorns" für die Opfer gibt es nicht. "Tages des Zorns" gibt es erst, wenn ein Karikaturist die perverse Moral dieser Attentäter - die gewiss nicht die Moral des gesamten Islam ist - ins Bild setzt: Morden im Namen Gottes, ein Prophet mit Maschinengewehr; "Tage des Zorns" aber auch, wenn der Papst einen bedrängten christlichen Kaiser zitiert, der sagte: "Gott hat kein Gefallen am Blut".

Es dauerte ein paar tausend Jahre, bis Gedankenfreiheit ein Menschenrecht wurde. Die Muslime hierzulande beanspruchen es Tag für Tag. Sie beten zu Allah, sie verehren Mohammed. Sie weihen alle paar Tage eine neue Moschee. Es ist ihr Recht.

Aber: Religionsfreiheit ist keine Einbahnstraße. Man darf Mohammed verehren, aber man darf ihn auch kritisieren, für einen Irrlehrer halten, vor allem wenn manche in seinem Namen zum heiligen Krieg rufen. Dieses fundamentale Recht muss diese Gesellschaft verteidigen, statt zu Kreuze zu kriechen, eilfertig Idomeneo abzusetzen, Mohammedkarikaturen mit antijüdischen Zeichnungen der Hitlerzeit zu vergleichen, und - wenn ein mittelalterliches Zitat auftaucht - zu fragen: musste der Papst das sagen. Nein! Benedikt musste es nicht. Aber welche Katastrophe, wenn er nicht dürfte.

Thomas Löffelholz, 1932 in Wiesbaden geboren, arbeitet als Publizist. Er ist Diplom-Volkswirt und promovierte in Marburg zum Dr. jur. Bis 1963 war er Wirtschaftsredakteur der "Stuttgarter Zeitung", dann berichtete er 19 Jahre lang als Korrespondent aus Brüssel und Bonn. Von 1983 bis 1995 war er Chefredakteur der "Stuttgarter Zeitung". Von 1995 bis 1998 war er Herausgeber und Chefredakteur der Tageszeitung "Die Welt". Er ist Mitglied des Kuratoriums des renommierten "Theodor-Wolff-Preises" und der Jury des "Ludwig-Erhard-Preises".