Israels Demokratie

Wem gehört der Staat?

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Ausgaben der Tora stehen in einem Bücherschrank am Eingang zur Klagemauer auf dem Tempelberg in Jerusalem
Jüdisch oder demokratisch? Derzeit debattiert man in Israel über das Selbstverständnis der Nation. © imago / Winfried Rothermel
Von Ofer Waldman · 10.04.2019
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"Der Staat Israel gehört nicht all seinen Bürgern. Er gehört der jüdischen Nation – und ihr allein." So sieht es Premier Netanjahu. Dadurch würde dem arabische Fünftel der Bevölkerung die Gleichberechtigung verweigert, sagen seine Kritiker.
Der Winter in Israel hält dieses Jahr ungewöhnlich lange an. In der israelischen Politik herrscht jedoch angesichts der Wahlen sommerliche Hitze. Als eine junge Schauspielerin den rauen Ton gegenüber den arabischen Bürgern Israels beklagte, postete Israels Ministerpräsident Netanyahu prompt eine Reaktion: "Der Staat Israel gehört nicht all seinen Bürgern. Er gehört der jüdischen Nation – und ihr allein."
Staatspräsident Rivlin antwortete indirekt darauf in einer Rede, und sagte, Israel sei jüdisch und demokratisch, seine Demokratie müsse aber auch für Nichtjuden gelten. Damit hat er ein zentrales Problem seines Staates angesprochen.

Jeder fünfte Israeli ist Araber

"Wie bei jedem demokratischen Nationalstaat erlebt Israel an sich eine Diskrepanz, denn es bevorzugt die Nation, für die es errichtet wurde", sagt Emanuel Navon. Er unterrichtet als Experte für internationale Beziehungen an führenden israelischen Universitäten und ist Mitglied im konservativen "Forum Kohelet", das Positionspapiere und Gesetzesvorlagen für die israelische Regierung erarbeitet.
"Fakt ist, dass 20 Prozent der Bürger Israels einer Nation angehören, mit der Israel einen Konflikt hat. Sie sind in einer prekären Lage. Einerseits sind sie Bürger eines Staates, mit dem sie ein Identitätsproblem haben. Andererseits sind sie gleichberechtigte Bürger, auch wenn sie sich weder mit der Hymne noch der Fahne identifizieren. Aber das gilt für jeden demokratischen Nationalstaat in der Welt, nicht nur für Israel."
Israels Staatspräsident Reuven Rivlin spricht am 13.05.2015 in Kiel (Schleswig-Holstein) zu Studenten der Christian-Albrechts-Universität.
Soll aus Protest das umstrittene Nationalstaatsgesetz auf Arabisch unterzeichnet haben: Israels Staatspräsident Reuven Rivlin.© picture alliance / dpa / Carsten Rehder
Die arabische Minderheit in Israel besteht hauptsächlich aus Palästinensern, die nach dem Unabhängigkeitskrieg von 1948 im israelischen Staatsgebiet geblieben sind. In der israelischen Unabhängigkeitserklärung, die Israel als einen jüdisch-demokratischen Staat definiert, werden dieser Minderheit alle Bürgerrechte zugesichert. Die Erklärung erlangte zwar nie den Rang eines Gesetzes, wird aber oft als Beispiel des Balanceaktes Israels zwischen seinem jüdischen und seinem demokratischen Charakter angeführt. Die Diskussion über den jüdischen Charakter des Staates rührt unter anderem an den besonderen Gründungsumstand des Staates Israels als Zufluchtsort für verfolgte Juden aus der ganzen Welt.
"Ich kenne in der ganzen Welt kein anderes Beispiel für ein Volk, das in der Antike zerstreut wurde und bis zur heutigen Zeit seine religiösen und nationalen Zusammenhalt bewahrte, um sich seine nationale Unabhängigkeit wiederzuerlangen", sagt Navon.
"Daher rührt die Schwierigkeit im Umgang mit Israel. Es gibt einige Gesetze, die mit Israels Nationalstaatlichkeit einhergehen, die mit demokratischen Prinzipien kollidieren. So das Rückkehrgesetz, das Juden bevorzugt und ihnen ein automatisches Migrationsrecht gewährt. Das hat damit zu tun, dass Israel der Nationalstaat des jüdischen Volkes ist und in diesem Bereich nicht gänzlich dem Prinzip der Gleichheit entspricht."

"Dies führt zu zunehmendem Nationalismus"

"Der andauernde palästinensisch-jüdische Konflikt führt dazu, dass die arabischen Bürger Israels als Feinde und nicht als gleichberechtigte Bürger betrachtet werden. Dies führt zu zunehmendem Nationalismus und zur Verachtung ihrer Menschenrechte", sagt die Rechtsanwältin Debbie Gild-Hayo. Sie leitet die politische Abteilung beim ACRI, dem Israelischen Bürgerrechteverein, der ältesten und größten Menschenrechtsorganisation des Landes.
Gild Hayo sieht die Balance zwischen der jüdischen und demokratischen Definition Israels gefährdet. Wir treffen beide Gesprächspartner auf dem Campus des Interdisziplinären Zentrums in Herzliya. Um uns herum wird Arabisch, Hebräisch, Englisch gesprochen. Die israelische Realität wirkt gelegentlich verblüffend entkoppelt von den Diskussionen, die über sie geführt werden.
"Dass wir die Mehrheit bilden, bedeutet nicht zwangsläufig, wir müssen zu jüdischen Nationalisten werden, ja?", sagt die Anwältin. "Klar gibt es eine Kollision zwischen den Definitionen 'jüdisch' und 'demokratisch'. Aber das liberale, zionistische Lager, das daran glaubt, dieser Staat verkörpere das Recht des jüdischen Volkes auf Selbstbestimmung, glaubt nicht, dies bedeute die Entrechtung anderer Gruppen. Es ist eine Gratwanderung, die schnell in Nationalismus und Diskriminierung entgleitet. Das sehen wir beim Nationalstaatsgesetz. Anstatt die Wichtigkeit der jüdischen Selbstbestimmung auszudrücken, entrechtet das Gesetz andere Gruppierungen, nicht nur im kollektiven Sinne, sondern auch als Individuen."

Proteste gegen das Nationalstaatsgesetz

Das im letzten Sommer verabschiedete Nationalstaatsgesetz wurde von landesweiten Protesten begleitet. Auch die Europäische Union war besorgt über das Gesetz, das Israel als einen jüdischen Nationalstaat definiert, in dem aber die Worte "Demokratie" oder "Gleichheit" fehlen. Das konservative "Forum Kohelet", zu dem Emanuel Navon gehört, war eine treibende Kraft bei der Formulierung und Verabschiedung des Gesetzes.
"Israel hat keine Verfassung, nur einzelne Grundgesetzparagraphen, die im Laufe der Jahre verabschiedet wurden", betont er. "Es gab keinen Paragraphen, der der deklaratorischen Präambel in den europäischen Verfassungen gleichkommt. Genau diese Lücke füllt das Nationalstaatsgesetz. Wo besteht jedoch Kritik? Bei europäischen Verfassungen wird neben der Definition als Nationalstaat auch die Gleichheit aller Bürger erwähnt, auch derer, die nicht zur dominanten Nation gehören. Dies fehlt im israelischen Gesetz. Ich stimme zu, wir brauchen diesen Paragraphen, wie in Europa, aber nicht im Nationalstaatsgesetz."

Keine Trennung von Staat und Religion

Rechtsanwältin Gild-Hayo sieht im Nationalstaatsgesetz eine Unterordnung des demokratischen Prinzips unter den jüdischen Charakter des Staates. Dies hat, betont sie, weitreichende Konsequenzen, nicht nur für die arabische Minderheit:
"In Israel herrscht keine Trennung zwischen Staat und Religion. Dies hat weitreichende Konsequenzen für die Frauenrechte. Das Gesetz verkörpert das Ungleichgewicht zwischen 'jüdisch' und 'demokratisch'. 'Jüdisch' wird von einem Ausdruck eines kollektiven Rechts auf Selbstbestimmung zur religiösen Kategorie. Und je nationalistischer und religiöser das 'Jüdische' begriffen wird, desto schwieriger wird die Balance."
Das heißt: Die Verschiebung des israelischen Selbstverständnisses als jüdischer Staat durch den religiösen Nationalismus bedroht nicht nur die Rechte der arabischen Minderheit, sondern auch die Substanz der demokratischen Gesellschaft für die jüdische Bevölkerung. Hinzu kommt das Problem, auf das Emanuel Navon aufmerksam macht:
"Sollte Israel eines Tages die Gebiete annektieren und ihre Anwohner einbürgern, wird es aufhören, ein Nationalstaat zu sein. Wenn 40 Prozent der Bürger keine Juden sind, wird Israel de facto kein jüdischer Nationalstaat mehr sein. Du kannst keine Realität forcieren, die es in Wahrheit gar nicht gibt."
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