Israelexperte sieht das Gleichgewicht des Schreckens im Nahen Osten zerstört

Moderation: Gabi Wuttke · 19.07.2006
Der Projektmanager der Bertelsmannstiftung in Israel, Stephan Vopel, hält das "Gleichgewicht des Schreckens" zwischen Israel und dem Libanon für zerstört. Deshalb wolle Israel nun seine Macht demonstrieren, sagte Vopel im Deutschlandradio Kultur. Das Bombardement im Libanon zeige, dass in Israel "der Einsatz militärischer Macht als legitimes Mittel" angesehen werde.
Wuttke: Haben Sie die Nacht wieder im Luftschutzkeller verbracht?

Vopel: Nein, diese Nacht konnten wir glücklicherweise ganz normal in unseren Betten schlafen. Wir hatten die beiden Nächte zuvor im häuslichen Schutzraum verbringen müssen, weil mehrere Raketen hier in unmittelbarer Nähe eingeschlagen sind und es auch immer wieder Warnungen vor weiteren Angriffen gab.

Wuttke: Wie viele Ihrer Nachbarn sind denn noch da oder haben anderswo Sicherheit gesucht?

Vopel: Also, man muss sich das so vorstellen, dass in dem Gebiet nördlich an der Linie zwischen Haifa und dem See Genezareth, also ungefähr 40 Kilometer Abstand von der Grenze, dort leben circa eine Millionen Israelis. Diese verbringen seit Mittwoch vergangener Woche die ganze Zeit durchgehend in den Schutzräumen und viele aus dieser Region haben inzwischen die Städte und Orte verlassen. Insbesondere die Kinder sind in das Zentrum Israels gebracht worden. Südlich von dieser Linie und gerade da, südlich davon, leben wir hier in (?), circa 45 Kilometer von der libanesischen Grenze entfernt,. geht das Leben eigentlich fast normal weiter. Das heißt, die Leute gehen zur Arbeit. Es sind allerdings alle Kindergärten geschlossen, damit man nicht viele Kinder an einem Ort hat, um eine Katastrophe zu vermeiden und es gab hier in den vergangenen Tagen immer wieder Warnungen vor Raketenangriffen.

Wuttke: Israel und der Libanon, die Geschichte so scheint es, nimmt Anlauf sich zu wiederholen, warum jetzt, sechs Jahre nach dem Abzug aus dem Südlibanon wieder der hektische und massive Griff der Israelis zu den Waffen?

Vopel: Also es war zunächst mal eine Reaktion natürlich auf den Angriff der Hisbollah, am Mittwoch vergangener Woche, der ja begann mit einem massivem Angriff mit hunderten von Raketen auf Ortschaften und Städte im Norden Israels und kurz darauf dann am Mittwochmorgen der Angriff auf eine israelische Patrouille, die Tötung mehrerer israelischer Soldaten und die Entführung von zwei weiteren. Darauf hat Israel massiv reagiert und zwar mit einer doppelten Zielsetzung: Zum einen die Zerschlagung der Hisbollah im Südlibanon und zum anderen der Versuch des massiven Drucks auf die libanesische Regierung, damit diese sich der Hisbollah annimmt und diese entwaffnet und als Gefahr für Israel ausschaltet, so wie es auch die UNO-Resolution 1559 fordert.

Wuttke: Das stößt in Deutschland, zumindest einer Umfrage des Sterns zufolge, auf viel offenes Unverständnis, auch wenn die deutsche Politik natürlich das Vorgehen Israels verteidigt. Was verändert sich für die Israelis mit Blick auf das Ausland und noch mal meine Frage, warum dieser massive Griff zu den Waffen, auch nach dieser Geschichte?

Vopel: Also man muss glaube ich unterscheiden, wenn man die Lage analysiert, muss man zunächst einmal, glaube ich, versuchen die Fakten in den Blick zu bekommen. Es geht für Israel darum, dass es in den letzten Jahren immer wieder durch die Hisbollah aus dem Süden Libanons angegriffen worden ist und dies sind ja Akte, aggressive Akte einer Terrormiliz, die auch international als Terrororganisation gewertet wird, aus dem autonomen und souveränen Staat Libanon auf das Staatsgebiet Israels. Und Israel hat sich in der Vergangenheit, hat nicht massiv zurückgeschlagen, sondern es gab immer nur punktuelle Reaktionen. Und hier hat sich diesmal Regierungschef Olmert entschlossen massiv zurückzuschlagen.

Man kann natürlich über die Gründe spekulieren. Man kann auch darüber spekulieren, beziehungsweise streiten, ob diese Reaktion sinnvoll ist: Wird sie zum erwünschten Ziel führen. Und da gibt es auch zunehmend in Israel Stimmen, die sagen, wir können das Problem Hisbollah, das von allen als Problem gewertet wird, auch international als Problem gewertet wird, wir können es nicht rein militärisch lösen und auch in Israel wird jetzt zunehmend darauf gewartet, dass internationale Politik, dass die Diplomatie hier das militärische Vorgehen Israels ergänzt, beziehungsweise ablöst.

Wuttke: Der Schriftsteller David Grossmann hat gestern in der FAZ gefordert, Israel und Libanon müssten alles tun, damit keine Unschuldigen mehr zu Schaden kämen und trotzdem sagt auch er, Israel hat die Offensive mit vollem Recht gestartet. Wo stehen die israelischen Intellektuellen, wo die Friedensaktivisten, die Tauben, die wir kennen?

Vopel: Also noch einmal, ich glaube es ist ganz wichtig, sich klar zu machen, dass Israel wirklich als souveräner Staat immer wieder angegriffen worden ist, brutal angegriffen worden ist und zwar die Zivilbevölkerung ebenso wie die Soldaten, die die Grenze sichern, auf israelischem Staatsgebiet. Und zwar ist das Ziel des Hisbollah ja nicht der Rückzug der Israelis aus den besetzen Gebieten, so wie es im Kampf mit den Palästinensern, mit der Fatah über viele Jahre der Fall war und jetzt mit der Hamas ähnlich, sondern die Hisbollah hat sich die Zerstörung Israels auf die Fahne geschrieben und ist insofern der verlängerte Arm Teherans und Damaskus.

Die Reaktion darauf, dass man sich das nicht bieten lässt und dass man alles tut, was man kann, um das zu verhindern, dass das legitim ist, das sehen eigentlich querbeet alle in Israel so. Die entscheidende Frage ist, ist das starke militärische Vorgehen zielführend oder ist es kontraproduktiv, denn das israelische Raisonnement der Staatsführung ist, man muss Druck ausüben auf den Libanon, damit der Libanon gezwungen ist, sich mit der Hisbollah auseinander zu setzten.

Die Kritiker sagen, dieser massive und in vielen Augen übermäßige Druck auf den Libanon ist kontraproduktiv, er wird die Hisbollah da politisch nicht schwächen, sondern eher weiteren Zulauf bringen und er wird gleichzeitig die libanesische Regierung schwächen, die ja nach Jahrzehnten des Bürgerkriegs nun in den letzten ein, zwei Jahren sich wieder der Normalität annäherte. Also hier hat man eine politische Diskussion über den Einsatz militärischer Mittel.

Wenn Sie mir noch einen Satz dazu gestatten, ich glaube, dass das einer der großen Unterschiede auch in der Wahrnehmung zwischen Europa und Israel ist, dass in Israel militärische Macht oder Einsatz militärischer Macht immer noch als legitimes Mittel der Politik gesehen werden, während wir in Europa nach den Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges eigentlich davon Abkehr genommen haben, obwohl wir auch in Europa in den letzten Jahren ja zunehmend den Einsatz von Soldaten in Krisenherden auf der Welt sehen, um eben doch auch friedenssichernd und friedensherstellend zu wirken.

Wuttke: Für den Historiker Dan Diner spielt Israel, so sagt er, mit seinem Image, um verloren geglaubte Abschreckungsfähigkeit wieder zu gewinnen. Ist da was dran?

Vopel: Das ist sicherlich richtig. Man hat aus israelischer Sicht, war ja die Frage, wie bewertet man diesen aggressiven Akt der Hisbollah unter ihrem Führer, dem Scheich Nasrallah. Und der Eindruck der Israelis war, dass dieser massive Angriff am letzten Mittwoch doch über das hinausgegangen ist, was die Hisbollah in den Vorjahren schon getan hat. Also es gab ja schon früher die Fälle der Angriffe auf israelische Patrouillen, auch auf israelische Ortschaften, aber immer direkt an der Grenze und diesmal, am letzen Mittwoch, hat die Hisbollah mit Raketen wirklich Ortschaften angegriffen, die zehn, fünfzehn Kilometer von der Grenze entfernt lagen.

Und eine der Analysen der israelischen Regierung und auch der Sicherheitskräfte war eben, dass die Hisbollah dieses bisherige Gleichgewicht des Schreckens, wenn man so will, nicht länger gegeben sieht, dass die Hisbollah durch ihre massive Ausrüstung in den letzten Jahren, sie hat über 10.000 Raketen im Süden Libanons stationiert, unterschiedlicher Reichweiten, dass man auf Seiten der Hisbollah eben sicher war, dass Israel eben keine massive Reaktion zeigen würde, weil es die Eskalation nicht riskieren wollte, so wie wir es in den letzten Tagen gesehen haben, und dass Israel es auch nicht wagen würde, sich international möglicherweise in ein schlechtes Licht zu setzten. Und dieses Kalkül, das ist also jetzt offensichtlich nicht aufgegangen. Die Israelis haben anders reagiert, als es die Hisbollah vorhergesehen hat.

Wuttke: Um die Hisbollah zu schwächen werden strategische Ziele im Libanon angepeilt, getroffen werden aber Zivilisten. Die Zerstörung und das Chaos im Libanon ist groß. Setzen die Israelis den Libanon eigentlich mit den Libanesen, mit den Menschen dort gleich?

Vopel: Nein. In der israelischen Öffentlichkeit wird das, was zurzeit geschieht, intensiv diskutiert. Und es wird auch zunehmend kritisch diskutiert die Frage, können wir, kann Israel die Ziele, die es sich gestellt hat, nämlich die Zerschlagung der Hisbollah oder zumindest die wesentliche Schwächung der Hisbollah auf diese Weise erreichen. Dabei kommt auch immer wieder die Frage des Verhältnisses zum Libanon zur Sprache und es ist aus all diesen Äußerungen und sowohl der Politik, aber auch der Medien und in der Öffentlichkeit, es ist sehr klar, dass die Israelis eigentlich ein freundschaftliches, nachbarschaftliches Verhältnis mit den Libanesen suchen, so wie sie es in den vergangen Jahren auch mit Ägypten und Jordanien, mit denen ja Friedensabkommen bestehen, gesucht und gefunden haben.

Es gibt hier auch eigentlich, das klingt paradox und ist aus deutscher Perspektive schwer zu verstehen, denke ich, es gibt von israelischer Perspektive keinen Versuch, einen Krieg gegen den Libanon zu führen. Man möchte den Libanon nicht nur zerstören. Man möchte ihn nur so stark unter Druck setzen, dass die libanesische Regierung und die internationale Gemeinschaft gemeinsam das Problem Hisbollah angehen. Ich glaube aber, dass es sehr fragwürdig ist, ob auf diese Weise dieses Ziel wirklich erreicht werden kann oder ob es nicht viel mehr kontraproduktiv ist.
Mehr zum Thema