Frauen im Westjordanland

Vereint durch den gleichen Traum

22:55 Minuten
Eine Frau steht vor einem Zaun.
Reem al-Araj vor der Sperranlage in Al-Walaja. Sie will mit anderen Frauen über die Konsequenzen der israelischen Besatzung in ihrem Dorf aufklären. © Deutschlandradio / Judith Poppe
Von Judith Poppe · 30.03.2022
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Sie sind Nachbarinnen, begegnen sich aber kaum: Siedlerinnen und Palästinenserinnen im Westjordanland. Und doch ist ihr Alltag stark durch die andere Seite geprägt. Und sie träumen den gleichen Traum: ein sicheres Zuhause – auch für ihre Kinder.
Freundlich begrüßt mich Taghrid im Hof ihres Hauses in Al-Walaja, einem Dorf im Westjordanland südwestlich von Jerusalem. Sie empfange heute im Wohnzimmer ihres Sohnes, erklärt die 54-jährige, denn ihr eigenes wird gerade geputzt. Die Wohnung des Sohnes ist im gleichen Haus nebenan – Taghrid, die ihren Nachnamen lieber nicht nennen will, erklärt warum:
„Zunächst war das Ganze hier mein Haus, es war groß. Aber weil ich nicht das Recht habe, hier zu bauen, und Angst habe, dass das Haus meines Sohnes zerstört werden könnte, habe ich meins geteilt und ihn hier untergebracht. Ich kann doch hier nicht bauen, wenn morgen die Stadtverwaltung kommt und das Haus zerstört.“
Mauerreste eines zerstörten Hauses.
Überreste eines von Israelis zerstörten Hauses in Al-Walaja.© Deutschlandradio / Judith Poppe
Taghrid wohnt mit acht Familienmitgliedern in Ein Juweza, einem Viertel von Al-Walaja mit einem besonderen Status: Es wurde nach dem Sechs-Tage-Krieg 1967 von Israel annektiert und dem Stadtgebiet von Jerusalem zugeschlagen.
Hier sei es unmöglich, eine Baugenehmigung zu erhalten, erzählt Taghrid – deshalb ist ihr Haus nach israelischem Recht illegal, obwohl der Baugrund der Familie gehört. Rund 50 Gebäude haben die israelischen Behörden in Al-Walaja in den vergangenen Jahren abgerissen; an manchen Stellen im Ort sieht man noch Ruinen.

„Gewalt ist keine Lösung“

Taghrid unterbricht kurz das Gespräch, um ihre Enkelin zu begrüßen, die von der Vorschule zurückkommt. Deren kleiner Bruder sitzt schon länger auf der Couch und schaut Videos auf dem Handy der Großmutter. Taghrid streichelt ihn ein wenig und sagt dann über ihre Enkel:
„Wir versuchen, ihnen beizubringen, keine Gewalt auszuüben. Niemand will seinen Sohn verlieren. Wir wollen den Israelis schon gern widerstehen. Aber ich will meinen Sohn nicht verlieren, und meine Enkelin auch nicht. Es geht mir nicht aus dem Kopf: Wie soll ich meinen Enkel hier überzeugen, dass Gewalt keine Lösung ist und dieser Israeli nicht sein Feind? Das ist doch eine Frage an die ganze Welt! Wenn sie kommen und mein Haus zerstören, und der Kleine das sieht. Warum wird mein Haus zerstört und gegenüber eins für Israelis gebaut? Wir bauen und sie reißen ab.“

Freundschaften sind möglich

Taghrids Mann und der Sohn, in dessen Wohnzimmer wir sitzen, bauen auch Häuser – für Israelis. Ihr Mann arbeitet vor allem in einem reicheren Viertel von West-Jerusalem, dessen Einwohner Taghrid schätzt: Als wegen der Corona-Pandemie die Grenzen geschlossen waren, besorgten seine Auftraggeber ihrem Mann dort ein Zimmer, damit er nicht ständig illegal über die Grenze pendeln musste.
„Wir haben übrigens israelische Freunde. Mein Mann hat Freunde, die den Friedensprozess unterstützen. Sie stehen auf unserer Seite. Aber in meinem Inneren sage ich mir: Du kommst aus einem anderen Land, warum bist du hier? Du bist gegen die Besatzung, aber du unterstützt sie und kommst hierher. Ich weiß, dass sie hier geboren sind. Aber sie sollen zurück in ihr Land gehen. Es gab eine Lösung, das war die Zwei-Staaten-Lösung, stimmt’s? Du hast deinen Staat, ich meinen und jeder bleibt für sich. Aber die Israelis machen da nicht mit, das steht für sie nur auf dem Papier. Sie greifen uns sogar an.“ 
Menschen, die in der benachbarten Siedlung Har Gilo wohnen, will Taghrid lieber nicht kennenlernen – die würden die Einwohner von Al-Walaja sowieso nur als Steinewerfer sehen, meint sie.

Israelische Siedlung und palästinensisches Dorf

Edna Elmakies führt auf ihre Terrasse in Har Gilo und zeigt in die Ferne, über die Häuser von Al-Walaja hinweg. An besonders klaren Tagen reiche die Aussicht bis nach Gaza, erzählt sie.
Elmakies war lange die Sicherheitsbeauftragte der Siedlung. Teil ihrer Aufgabe sei gewesen, Freiwillige zu organisieren. Die seien dann im Fall von Schwierigkeiten auch mit Waffen losgezogen, um die Siedlung zu schützen.
Bei den Palästinensern unterscheidet sie zwischen denjenigen, die Steine oder Flaschen auf die Siedlung werfen würden, und denjenigen, mit denen sie gut auskommt.
Eine ältere Frau mit kurzen Haaren steht auf einer Terrasse.
Sie habe auch arabische Freunde, sagt Edna Elmakies.© Deutschlandradio / Judith Poppe
„Es gibt noch ein bisschen Spannung. Und es gibt Leute, die anderer Meinung sind als wir. Aber im Großen und Ganzen ist es so: Die Araber arbeiten bei uns; wir respektieren sie; wir sind ihre Freunde. Wir gehen sie nicht wirklich besuchen, aber sie kommen hierher. Sie besuchen uns hier, da gibt es kein Problem. Sie kommen rein. Und wir sind wirklich gute Freunde; ich habe wirklich viele arabische Freunde.“
Ende der 60er-Jahre ließen sich die ersten Siedler auf dem Gelände nieder, das nun Har Gilo ist. 20 Jahre später, in den 80ern, zog Elmakies mit ihrem Mann hierher. Die Armee, bei der die beiden arbeiteten, habe ihnen das Haus organisiert. Mittlerweile leben etwa 1600 Menschen hier.

Wem gehört das besiedelte Land?

Die internationale Staatengemeinschaft betrachtet Har Gilo als illegale Siedlung im Westjordanland. Israel bestreitet das – genauso wie Elmakies. Für sie ist völlig klar, dass das Land, auf dem sie lebt, Israel gehört. In ihren Augen sind es die Palästinenser, die auf Teilen des Landes unrechtmäßig bauen, sagt sie und malt auf einen Zettel ein paar Kreise, die die territorialen Verhältnisse in Al-Walaja veranschaulichen sollen:
„Ein Teil des Dorfes liegt auf israelischem Staatsland. Darauf dürfen sie nicht mehr bauen. Sie tun es trotzdem, aber das hat ihnen Schwierigkeiten gebracht. Wenn sie in Zukunft dort bauen wollen, wird man es zerstören müssen, weil sie ohne Genehmigung bauen. Aber innerhalb des Dorfes selber bauen sie. Sie haben angefangen, in die Höhe zu bauen. Das tun wir bis heute hier nicht. Weil es schade ist. Es zerstört die ganze Aussicht.“

Ein Leben mit Stacheldraht und Sperranlage

Auf einer Tour durch die Siedlung zeigt Elmakies die Sperranlage, die die israelische Siedlung vom palästinensischen Dorf trennt: An einigen Stellen ist es eine mehrere Meter hohe Betonmauer. An anderen ein hoher Stacheldrahtzaun. Israel begann mit dem Bau der Sperranlage Anfang der 2000er-Jahre, während der Zweiten Intifada. Elmakies stört die Mauer nicht besonders. In ihren Augen sollten sich auch die Palästinenser nicht weiter daran stören.

„Für sie ist alles offen. Der Zaun ist hier, wir sind hier drin. Wir sind eingezäunt. Wir sollten traumatisiert sein. Aber wir sind nicht traumatisiert. Denn wir fahren auf der Straße raus. Und sie fahren auch hier raus. Und sie können von hier nach Beit Jalla fahren, ohne Probleme.“

Edna Elmakies

„In der Zeit, als die Mauer hier in der Gegend von Cremsan gebaut wurde, wo die Kinder spielten, bekam mein Sohn Luftnot, Asthma. Er sagte mir: ‚Weißt du, warum ich nicht atmen kann? Ich kann nicht atmen wegen der Mauer.‘ Ich hätte nicht erwartet, dass er so reagiert, aber es wirkte sogar auf die Kinder. Sie haben gespürt, dass ihnen da etwas Eigenes weggenommen wird.“
Reem al-Araj hat sich mit anderen Frauen in Al-Walaja zusammengetan. Bei Besichtigungstouren durch den Ort wollen sie besonders internationale Fachkräfte und Diplomatinnen über die Konsequenzen der israelischen Besatzung aufklären.

Das Treffen am vergangenen Wochenende der Außenminister von vier arabischen Staaten und denen von Israel und den USA ist einerseits ein Zeichen der Normalisierung der arabisch-israelischen Beziehungen, aber andererseits zeigt das, wie wenig wichtig die Palästinenserfrage ist. Denn im Mittelpunkt des Treffens standen der Iran und dessen Atombomben. Dabei hatte man von der neuen israelischen Regierung, die seit letztem Juni an der Macht ist, sich versprochen, dass sie die Frage angeht, wie geht es weiter mit der Besatzung.

Das ganze Interview mit unserem Korrespondenten Benjamin Hammer in Tel Aviv am Ende der Sendung.

Zusammen mit einer Dolmetscherin führt Al-Araj eine fünfköpfige Gruppe dorthin, wo die Sperranlage nicht mehr aus Betonpanelen besteht, sondern aus dichtem Draht. Gerade hier, wo nach israelischem Verständnis das Stadtgebiet von Jerusalem beginne, sei das kein Zufall, erklärt Al-Araj:
„Erstens ermöglicht das die Beobachtung des Dorfes durch Militärpatrouillen. Zweitens verschandelt es nicht die Aussicht für die Siedlung Gilo da drüben. Außerdem können die Israelis so jeden sehen, der illegal über die Grenze kommen will. Und der wichtigste Grund: Den Verlauf des Zaunes können sie jederzeit verändern. Sie könnten diese Gegend hier zu Jerusalem nehmen und für uns verschließen.“

Die Angst, auch dieses Zuhause zu verlieren

Die Angst, dass der zum Stadtgebiet Jerusalems gehörende Teil ganz vom Rest des Dorfes abgetrennt werden könnte, scheint in Al-Walaja nicht unberechtigt. 1948 flohen die Einwohner aus ihrem alten Dorf und verloren rund 70 Prozent ihres Bodens.
Sie bauten sich neue Häuser, doch nach dem Sechs-Tage-Krieg 1967 wurde fast die Hälfte des verbliebenen Landes annektiert; mit dem Bau der Mauer ging noch mehr verloren. Besorgt zeigt Reem al-Araj auf die andere Seite des Zauns:  

„Die Siedlung Gilo war früher viel weiter oben, aber weil die Bevölkerung wächst, zieht sie sich weiter nach unten. Jedes Jahr wird sie größer.“

Reem al-Araj

Die wachsende Bevölkerung von Gilo sieht die Dinge allerdings anders: Nach ihrem Verständnis leben sie gar nicht in einer Siedlung, sondern in einem ganz normalen Viertel von Jerusalem.
Im Büro von Orna Ochajon im Kulturzentrum von Gilo ist immer etwas los. Die 70-Jährige organisiert Sport- und Freizeitkurse für Seniorinnen und Senioren. Ausflüge für Holocaustüberlebende, Strickrunden und Yoga. Auch Arabischkurse stehen auf dem Programm und werden rege besucht.
„Sprache hilft immer. Vor allem wenn du umgeben bist von Menschen, die Arabisch in ihrem Alltag sprechen. Es ist immer gut, in der Sprache zumindest zurechtkommen zu können.“
Eine ältere Frau steht vor einem Gebäude.
Die Israelin Ochajon erlebt seit 60 Jahren den Konflikt und sieht keine Lösung dafür. © Deutschlandradio / Judith Poppe
Ochajon ist Seite an Seite mit palästinensischen Kindern in Jaffa aufgewachsen und betont, dass sie auch heute im Alltag gut mit den Palästinensern zurechtkomme. Mit dem Hausmeister des Kulturzentrums Mohammed zum Beispiel, den sie besonders ins Herz geschlossen hat.
„Ich sehe kein Problem, aber in dem Moment, in dem es wieder losgeht, da gibt es diesen Punkt, an dem es schmerzt. Ich erinnere mich zum Beispiel daran, wie sich vor Jahren einer im Zentrum von Jerusalem in die Luft gejagt hat. Ich war ganz nah dran. Das war schwer zu sehen. Sowas macht Angst. Körperteile auf der Straße, das Blut an den Hauswänden. Hoffen wir, dass es das nicht wieder geben wird.“

Was passiert mit den Kindern?

Vier Kinder und sechs Enkelkinder hat Ochajon. Sie holt ihr Handy aus ihrer Tasche und zeigt Bilder von ihnen. Sie erzählt von der Angst um sie; von den vielen Telefonaten während der zweiten Intifada, in denen sie sich erkundigt hat, ob es ihren Kindern gutgeht. Über dem Foto einer Enkelin bleibt sie hängen.
„Ihr Name ist May. Sie hat keinen Platz hier, wenn sie in Jerusalem wohnen will. Es gibt keinen Platz. Sie wohnt jetzt bei ihren Eltern. Sie ist 18. Sie geht bald zur Armee. Aber wenn sie auszieht und heiraten will, wissen wir nicht, was dann sein wird, wo sie sie hinstecken werden. Das ist ein Problem.“

„Glaube nicht, dass das jemals aufhören wird"

Ochajon sieht dem Kampf um den Landstrich zwischen Mittelmeer und Jordan schon seit 60 Jahren zu. Eine Lösung ist für sie schon lange nicht mehr in Sicht.
„Ich glaube nicht, dass das jemals aufhören wird. Ich glaube es nicht. Außer der Vater im Himmel entscheidet eines Tages, hier alles auszulöschen. Für alle. Das war‘s. Und dann fängt er nochmal von vorne an.“
Fragt man die Palästinenserin Taghrid in Al-Walaja nach ihrem Blick in die Zukunft, dann klingt das kaum anders:
„Wir hatten mal die Hoffnung, dass die Besatzung aufhört. Aber die haben wir nicht mehr. Ich bin 1967 geboren, unter der Besatzung. Ich habe den Krieg 1973 erlebt, alle Intifadas, 2000, die Invasionen, all diese Kriege … Weswegen sollte ich optimistisch sein? Optimismus haben wir keinen mehr. Das ist schwer.“

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