"Israel könnte gut mit einem anderen Regime in Syrien leben"

Moderation: Matthias Hanselmann · 08.06.2011
Der syrische Philosoph Sadiq Jalal al Azm rechnet nicht mit einer zusätzlichen Bedrohung Israels durch einen Regimewechsel in Syrien. "Israel könnte gut mit einem anderen Regime in Syrien leben", sagte der Philosophieprofessor.
Matthias Hanselmann: Die Lage in Syrien wird immer unübersichtlicher. Seit Wochen geht Präsident Assad gewaltsam gegen Proteste vor, Flüchtlinge sprechen von Krieg. 120 syrische Sicherheitskräfte sind im Norden des Landes gerade getötet worden, möglicherweise, weil sie gemeutert haben, aber die Regierung beschuldigt Extremisten. Trotz Internet erreichen uns nur wenige wirklich verlässliche Informationen aus Syrien.

Über das Aufbegehren, die Opposition und die allgemeine Lage in Syrien haben wir mit einem Mann gesprochen, der einer der bedeutendsten Intellektuellen des Landes ist: Sadiq Jalal al Azm. Er ist 76 Jahre alt, Philosophieprofessor und hat in Damaskus, Beirut, in den USA und Deutschland gelehrt. In seinem Heimatland wurde er in Abwesenheit zu einer Haftstrafe verurteilt, denn er nimmt bis heute kein Blatt vor den Mund, wenn er über die Zustände in Syrien spricht.

Meine Kollegin Anne Françoise Weber hat mit Sadiq Jalal al Azm gesprochen und ihn zunächst gefragt, ob der syrische Präsident Assad demnächst genauso zurücktreten muss wie die Präsidenten von Tunesien und Ägypten, Ben Ali und Mubarak.

Sadiq Jalal al Azm: Nein, in Syrien ist das libysche Szenario wahrscheinlicher, nicht genau so, nicht mit einer NATO-Intervention, aber es sieht mehr nach Libyen und Jemen aus als nach Tunesien und Ägypten. Im Nachhinein haben sich Ben Ali und Mubarak als Gentlemen erwiesen, weil sie gegangen sind, bevor Verluste und Zerstörung zu groß wurden. In Syrien haben wir schon sehr hohe Verluste.

Anne Françoise Weber: Sie haben Libyen und die NATO erwähnt. Warum greift die NATO in Libyen ein und nicht in Syrien?

al Azm: Alle sprechen davon, dass Libyen ein ölreiches Land ist, aber ich glaube, da ist auch eine alte Ablehnung gegen Gaddafi selbst, nicht nur bei den Europäern, sondern auch bei den Arabern. Zum ersten Mal lässt die Arabische Liga ein Mitglied fallen. Das hat einen fast persönlichen, psychologischen Aspekt. Andere Staatschefs haben einfach genug von Gaddafi, von seinen Possen, seiner Hysterie, wie er andere beschimpft, erniedrigt und so weiter.

Weber: Ist Israel ein anderer Faktor, dass also Assad zu verlieren, gefährlich für Israel sein könnte?

al Azm: Das ist wie in Ägypten: Wer immer Ägypten regiert, muss die Abkommen von Camp David respektieren, sonst gibt es Krieg. Und wer immer Syrien regiert, muss die Abkommen über die Golanhöhen respektieren, weil die Alternative Krieg ist. Und niemand ist bereit, dafür Krieg zu führen. Ich denke, Israel hatte es ganz komfortabel mit den Arrangements, die der Vater, Hafiz al-Assad, gemacht hatte und die sein Sohn Baschar fortführt. Er hat das sogar als Drohung eingesetzt: Wenn die Stabilität des Regimes erschüttert werde, werde auch die Stabilität Israels erschüttert. Ich denke, das ist ein fadenscheiniges Argument. Israel könnte gut mit einem anderen Regime in Syrien leben.

Weber: Sie könnten damit leben, aber würde ein Frieden näherkommen?

al Azm: Das ist schwer vorherzusagen. Ein demokratischeres Syrien würde Israel vielleicht nicht besonders entgegenkommen, wenn über den Golan verhandelt würde – vielleicht aber doch. Man kann das jetzt nicht sagen, wir haben keinerlei Umfragen, keine Studien, wir können nur spekulieren.

Weber: Auch im Westen wird viel spekuliert, unter anderem darüber, ob Syrien vielleicht auseinanderfallen würde, wenn Assad nicht mehr da wäre, dass es sich aufteilt in ethnische und religiöse Gruppen.

al Azm: Ich denke, das ist ein Worst-Case-Szenario und nicht besonders wahrscheinlich. Wahrscheinlicher ist, dass wir vorübergehend eine Situation haben wie zwischen Tripolis und Bengasi in Libyen, bis sich eine Seite durchsetzt. Aber ein Auseinanderbrechen Syriens wie in Jugoslawien halte ich nicht für ein ernstzunehmendes Szenario.

Weber: Im Westen gibt es auch viel Angst vor islamischen Bewegungen, den Muslimbrüdern in Ägypten aber auch in Syrien. Wie sehen Sie das? Besteht wirklich die Möglichkeit, dass die an die Macht kommen und ein autoritäres Regime errichten?

al Azm: Wir haben unsere eigenen Ängste, die gibt es nicht nur im Westen. Viele unserer säkularen Leute, besonders Linke, beschuldigen den Westen, so lange mit den Islamisten kooperiert zu haben während des Kalten Krieges, ihre Partner zu sein und sich mit ihnen gut zu verstehen. Also das ist mehr unsere Sorge als die des Westens. Ich denke, die Entwicklungen in der Türkei waren entscheidend, was die Muslimbrüder angeht. Ich spreche über den Mainstream, nicht die radikalen, gewalttätigen islamistischen Gruppen. Dass eine Partei, die aus dem politischen Islam in der Türkei stammt, friedlich und demokratisch an der Macht ist, ohne dass jemand das infrage stellt – das hatte eine große Wirkung auf die Fragen, die sich die arabischen Islamisten stellen.

Schauen Sie sich an, wo der türkische politische Islam steht, und wo der arabische steht: In der Türkei sind sie an der Macht – und nicht nur das, sie bringen das Gewicht der Türkei in der ganzen Region ein. Der türkische Islam hat dazu beigetragen, den Muslimbrüdern aus der Patsche zu helfen. Ihre alte Rhetorik hat sie auf die Wiederherstellung des Kalifats, die direkte Umsetzung von Schariagesetzen, auf den Islam als Lösung verpflichtet. Die türkische Rhetorik hat es jetzt für sie einfach gemacht, all das wegzuschieben und mit einem anderen Diskurs zu kommen.

Sowohl die syrischen als auch die ägyptischen Muslimbrüderschaften haben um 2004 radikale Reformprojekte für Staat, Gesellschaft und Wirtschaft vorgelegt. Wenn man das liest, steckt darin nichts mehr von der alten Rhetorik. Manches liest sich wie ein Zitat von Diderot oder Montesquieu: Demokratie, Gewaltenteilung, Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit. Das alles steckt da drin. Noch mal: Das muss man erst mal nur als Stellungnahme sehen, aber es ist wirklich wichtig, zu fragen, warum sie sich so ändern mussten.

Weber: Ich habe nach den Ängsten des Westens gefragt, weil eben doch die Tendenz besteht im Westen, zu essentialisieren, zu denken, jeder Muslim sei ein potenzieller Islamist. Sie haben sich mit der Theorie von Edward Said, dem Orientalismus, auseinandergesetzt und daran kritisiert, dass Edward Said den Westen essentialisiert. Was ist denn der richtige Weg, um auf gegenseitige Essentialisierung zu verzichten?

al Azm: Ich denke, auf der Alltagsebene kann man nicht jeden Stereotyp vermeiden, denn man muss immer irgendwelche Verallgemeinerungen machen. Es ist nicht völlig falsch, wenn Sie sagen, die Deutschen sind so oder die Araber sind so, die Franzosen sind so. Auf der intellektuellen, wissenschaftlichen Ebene muss man immer bei gutem, kritischen Denken bleiben.

Weber: Zum kritischen Denken braucht es Intellektuelle. Wie ist denn die Rolle der Intellektuellen jetzt in den arabischen Revolutionen?

al Azm: Die Rolle des Intellektuellen besteht normalerweise daraus, die Begriffe der Debatte herauszubilden auf verschiedenen Ebenen. Man kann das auf der höchsten Ebene tun, dann greift der Journalismus das auf einer anderen Ebene auf, bis man zu Massenmedien kommt. Aber ich glaube, eine wichtige Funktion des Intellektuellen ist es, die Begriffe der Debatte herauszubilden. Wenn das getan ist, kommt es zu den Debatten selbst, zum Beispiel das ganze Konzept der Zivilgesellschaft, das Ende der Siebziger aufgekommen ist. Intellektuelle aus der arabischen Welt haben eine große Rolle gespielt, das Konzept zu debattieren, zu popularisieren, zu erklären. Jetzt ist es fast ein Alltagswort geworden, es wird überall gebraucht, auch wenn nicht alle das gleiche darunter verstehen. Oder Menschenrechte, Fragen der staatlichen Korruption, etc. – Intellektuelle dienen auch dazu, Fragen und Themen aufzugreifen, die als völlig tabu oder abgeschlossen gelten.

Weber: Wenn wir jetzt noch einmal nach Syrien blicken, dort gehen Zehntausende auf die Straßen und es werden immer wieder Leute erschossen, dann gibt es Beerdigungen, wieder Zehntausende auf der Straße, wieder Tote. Woher nehmen die Leute den Mut, auf die Straße zu gehen?

al Azm: Man muss die Häufung dieser Spannungen und Polarisierungen über eine sehr lange Zeit sehen. In den letzten zehn Jahren war in Damaskus immer das Gefühl da, dass etwas passieren wird. Äußerlich benehmen sich alle, als ob alles friedlich ist und gut läuft, schöne Routine, aber die Leute hatten das Gefühl, dass da ein unterirdischer Vulkan ist, der irgendwann ausbrechen wird. Man hörte oft: Es braucht nur ein Streichholz, einen Funken, und dann explodiert es. Als es das tat, war die Barriere der Angst gebrochen und all diese angehäufte Unterdrückung kam raus.

Hanselmann: Über Opposition und Aufbegehren in Syrien hat meine Kollegin Anne Françoise Weber.

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