David Ranan ist ein israelisch-britisch-deutscher Politikwissenschaftler und Autor. Zuletzt erschien das von ihm herausgegebene Buch „Sprachgewalt: Missbrauchte Wörter und andere politische Kampfbegriffe“, das sich mit politischer Terminologie und ihrer Manipulation beschäftigt im Verlag Dietz.
Eine Begegnung
Hätte ich doch nur den anderen Zug genommen, denkt sich David Ranan nach einer viel zu kurzen Begegnung im Bahnhof des Flughafens von Tel Aviv. © imago images / Aviation-Stock
Das Schicksal einer Syrerin in Israel

Eine kurze Begegnung mit einer Syrerin in Tel Aviv hat den Politikwissenschaftler David Ranan ins Grübeln gebracht. Von den Golanhöhen stammend, lebt sie gut ausgebildet und berufstätig in Israel. Ist das mit Blick auf den Syrienkrieg nicht auch ein Glück?
„Hast Du eine Maske?“, fragte mich die junge Frau, die enge Jeans und ein schwarzes, bauchfreies Oberteil trug. Ich war erst eine Stunde zuvor aus Frankfurt kommend auf dem Tel-Aviver Flughafen gelandet und wartete nun auf meinen Zug. Es gab keinen direkten Zug vom Flughafen zu dem Ort meiner Freunde, wo ich hinwollte, und so musste ich umsteigen.
Also wartete ich auf diesem ziemlich leeren Bahnsteig auf meinen Anschluss. Es war herrlich warm, und ich freute mich, nach zwei Jahren Abwesenheit endlich wieder in Israel zu sein. Das Hebräisch der jungen Frau war perfekt, aber sie sprach mit einem arabischen Akzent, als sie mich nach der Maske fragte.
Familie lebt auf den Golanhöhen
Ich hatte keine Lust, meinen Koffer zu öffnen, um darin nach einer Ersatzmaske zu suchen, und verneinte. Der junge Mann, der neben ihr stand, holte eine offensichtlich gebrauchte Maske aus seiner Hosentasche und bot sie ihr an.
„Nein, Deine Maske ist alt und benutzt“, erwiderte die junge Frau. Wir kamen ins Gespräch und es stellte sich heraus, dass sie tatsächlich eine Araberin war, nämlich Syrerin, und dass ihre Familie auf den Golanhöhen lebte, die Israel seit dem Sechs-Tage-Krieg 1967 besetzt und 1981 annektiert hatte.
Ingenieurdiplom einer Universität in Israel
Der junge Mann war ein israelischer Araber aus Haifa. Er war eher zurückhaltend, während sie etwas extrovertierter war: Als sie erfuhr, dass ich im Ausland lebe und einen europäischen Pass besitze, fragte mich die 23-Jährige sofort, ob ich verheiratet bin. Und als ich verneinte, wollte sie wissen, ob ich sie heiraten würde. Ich bin mir nicht sicher, ob ich ihr gegenüber erwähnte, dass ich, aller Wahrscheinlichkeit nach, älter bin als ihr Großvater.
Meine beiden Mitreisenden hatten an einer israelischen Universität studiert und vor Kurzem ein Ingenieurdiplom erhalten. Sie arbeiten jetzt für dasselbe Ingenieurbüro, dessen Niederlassung nicht weit von dem Bahnhof entfernt war, an dem wir uns getroffen hatten.
Die Eroberung: ein Glück?
Wir nahmen dann verschiedene Züge, und so konnte ich bedauerlicher Weise unser Gespräch nicht fortsetzen. Der erste Gedanke, der mir in den Sinn kam, war: „Wie viel Glück die junge Frau hatte, in eine Familie hineingeboren worden zu sein, die 1967 weder geflohen noch von Israel vertrieben worden war. Ja, wie glücklich sind sie, dass sie von Israel erobert und dann annektiert wurden.“
Wäre all das nicht geschehen, wäre die junge Frau heute eine Syrerin, die in Syrien lebt. Oder vielleicht sogar eine, die nicht mehr lebt: eine tote Syrerin. Dennn Schätzungen zufolge hat der syrische Bürgerkrieg in den letzten zehn Jahren mehr als 600.000 Menschen das Leben gekostet. Etwa ein Drittel der syrischen Bevölkerung ist ins Ausland geflohen und lebt dort als Flüchtling, ein weiteres Drittel wurde innerhalb des eigenen Landes vertrieben.
Wo will man lieber leben?
Stattdessen ist sie israelische Staatsbürgerin, erhielt eine gute Ausbildung und hat jetzt einen guten Job. Und dennoch bleibt sie auch Syrerin, und ein Teil ihrer Heimat, die Golanhöhen, wurde von Israel annektiert. Die wenigen Golan-Bewohner, die weder geflohen noch vertrieben wurden, dürfen – auch wenn sie es wollen – nicht in ihr Land, das vom Krieg erschütterte Syrien.
Und doch, wo will man lieber leben? In der Freiheit und im Wohlstand Israels oder in der blutigen Diktatur Syriens? Ist sie und ihre Familie erleichtert, „Israeli“ zu sein? Stellt sie sich diese Frage überhaupt? Oder kommt ihr das Leben in Israel vor wie in einem goldenen Käfig?
Hätte ich doch nur den anderen Zug genommen...
So vieles hätte ich sie fragen wollen...
Hätte ich doch nur den anderen Zug genommen...
So vieles hätte ich sie fragen wollen...