Irrsinn des Alltags im Bürgerkrieg

31.03.2008
László Végel hat "Exterritorium" während der Balkankriege in den Neunzigerjahren verfasst. Es ist eine tour de force durch den nationalistischen Wahnsinn. Der Erzähler ist Angehöriger der ungarischen Minderheit und wird nach den Nato-Angriffen als Verräter beschimpft. Nach dem Ende des Krieges bleibt er zwar vor Ort, hat aber dennoch seine Heimat verloren.
Am 10. Juni 1999 hat Serbien die Nato besiegt. Die übrige Welt mag das anders sehen, aber Serbien weiß sich stets im Besitz der Wahrheit. Also feiert das Land mit Feuerwerk und Maschinengewehrsalven. Der Erzähler von László Végels "Exterritorium" feiert nicht mit. Er steht im Garten seines Hauses in der nordjugoslawischen Vojvodina und vor den Trümmern seines Lebens. Sein Notbedarf, das weiß er nach 80 Tagen Krieg, in denen sich der Angehörige der ungarischen Minderheit mit seiner Frau in neun Wohnungen versteckt gehalten hat, findet in einer kleinen Tasche Platz. Der Rest ist Plunder.

"In diesem Krieg ging es um deine Erinnerungen, deine Erfahrungen, dein Leben, er hatte deine Erfahrungen getötet. Er hatte dich ganz und gar entmündigt, dir blieb keine Zeit, und doch musstest du dein Leben von vorn beginnen …"

László Végel hat Romane, Erzählungen und Essays verfasst, er war Dramatiker beim Fernsehen der ungarischen Minderheit in Novi Sad und Angestellter der nordamerikanischen Soros-Stiftung, die in Osteuropa demokratische Entwicklungen fördert. In der Vojvodina erlebte er mit seiner Frau die Nato-Luftangriffe auf Serbien vom 24. März bis zum 10. Juni 1999, die die Gewalt der Serben im Kosovo beenden sollten. Als Intellektueller beginnt er sein neues Leben schreibend: In den essayistischen Aufzeichnungen von "Exterritorium. Szenen vom Ende des Jahrtausends" unternimmt Végel eine so scharfsinnige wie beängstigende tour de force durch den nationalistischen Wahnsinn.

Als der Krieg beginnt, zerstört man in Novi Sad die Läden der Albaner und jagt ihre Besitzer durch die Straßen. Die Angehörigen der ungarischen Minderheit werden als Feinde Serbiens beschimpft. Végels Erzähler gilt manchen plötzlich als "ungarischer Autor", und als er mit dem Handy telefoniert, verdächtigt ihn die Polizei, der Nato Zieldaten durchzugeben. Nach jeder Fernsehmeldung über den Abschuss eines Nato-Bombers bricht eine Meute auf, um den Piloten zu verprügeln. Der Alltag bekommt Züge des Irrsinns, dem auch Oppositionsangehörige und Menschenrechtsaktivisten verfallen.

Jedermann hält das großzügige serbische Volk für gänzlich schuldlos, und das Opfergefühl schlägt übergangslos in Aggressivität um. Végels Erzähler kommentiert die Gewaltausbrüche bitter:

"Nur mit dem Finger am Abzug konnte man unschuldig sein."

"Exterritorium" erlaubt unglaubliche Einsichten in das kollektive Bewusstsein. Als Végels Erzähler die Mutter wegen des Benzinmangels mühsam zum Arzt bringt, hört er sie zum ersten Mal von Massengräbern sprechen, in denen jugoslawische Kommunisten nach dem Zweiten Weltkrieg die von ihnen ermordeten Angehörigen der ungarischen Minderheit verscharrten. Der Sohn denkt daran, dass zur selben Zeit im Kosovo Massengräber ausgehoben werden:

"Deine im Garten hackende, jätende Mutter wusste, wovon die Gesellschaft angeblich keine Ahnung hatte."

Végels Erzähler bleibt am Ende in der Vojvodina, aber die Heimat hat er verloren. Die Freunde sind geflohen, in ihren Häusern wohnen serbische Flüchtlinge aus Kroatien oder Bosnien. Die Individuen gehen in der kollektiven Geschichte auf. Der Erzähler aber, in dem unschwer der Autor zu erkennen ist, und seine Frau sind Fremde geworden. Sie haben noch einander und ihren Garten. Sich selbst spricht der Erzähler in "Exterritorium" mit "du" an – so hat er, der auf der Straße wegen des ungarischen Akzents möglichst nicht mehr spricht, immerhin noch einen Adressaten. "Exterritorium" erzählt auch von einer unerträglichen Einsamkeit.

Rezensiert von Jörg Plath

László Végel: Exterritorium. Szenen vom Ende des Jahrtausends
Aus dem Ungarischen von Akos Doma
Matthes & Seitz, Berlin 2007
256 Seiten. 18,80 Euro