"Irgendwo liegt das ganz tief in unserer Kultur"

Moderation: Jürgen König · 07.09.2007
Ingo Metzmacher will sich als Chefdirigent des Deutschen Symphonie Orchesters (DSO) auf die Suche nach der deutschen Seele in der Musik begeben. Mit dem neuen Programm wolle man die Vielfalt, aber auch die Extreme und die Zerrissenheit der deutschen Musiktradition darstellen, sagte Metzmacher.
Jürgen König: Herr Metzmacher, Sie sind der erste deutsche Chefdirigent des Deutschen Symphonie Orchesters. Ihre erste Themenkonzerte widmen sich der deutsche Seele in der Musik. Die Kantate von Hans Pfitzner von deutscher Seele führen Sie mit dem DSO am Nationalfeiertag in der Berliner Philharmonie auf. Das ist ein starker Saisonauftakt. Ich möchte mal sagen, vor zehn Jahren hätte man Ihnen ein solches Programm um die Ohren gehauen, hätte Sie in die rechtskonservative Ecke gerückt. Als Sie das Programm im Mai glaube ich war es, vorstellten, blieb der Aufschrei zum Erstaunen vieler, völlig aus. Warum ist das inzwischen so normal geworden, eine Konzertsaison "Von deutscher Seele" überschrieben, zu eröffnen?

Ingo Metzmacher: Das kann ich Ihnen nicht sagen. Ich denke, das hat was mit der Zeit zu tun, die vergangen ist, seit dem Weltkrieg oder seit dem, was alles passiert ist, und dann hat man ja irgendwie im letzten Sommer schon gesehen, dass sich irgendwie das Bild, also dass Deutschland sich anders präsentiert.

König: Die fahnenschwingenden Deutschen bei der Weltmeisterschaft ...

Metzmacher: Ja, ich meine einfach ein fröhliches, buntes, unverkrampftes Land, was allmählich wieder anfängt, sich seiner selbst in einer gesunden Weise bewusst zu werden, ohne jetzt gleich wieder in irgendwelche Wahnvorstellungen über die eigene Größe zu verfallen. Das ist ja, glaube ich, also nun wirklich vorbei. Aber trotzdem ist es ja interessant, sich zu fragen: Was ist denn nun eigentlich das, was man deutsche Seele nennen könnte? Mich hat das immer interessiert. Und dann habe ich gedacht, wenn ich dieses Thema in Berlin platzieren will, dann muss ich es irgendwie auffällig machen ...

König: So platzieren, dass man es auch merkt.

Metzmacher: ... dass man es auch merkt und es soll schon eine kleine Provokation sein. Wenn die jetzt nun völlig ausfällt, wenn die sozusagen gar nicht mehr existiert, wäre ich tatsächlich ein bisschen traurig.

König: Zu dieser Konzertreihe gehören Werke von Hans Pfitzner, über den sprechen wir noch gesondert, Kurt Weill, Hans Eisler, Schumann, Liszt, Mendelssohn, Hans Werner Henze und Helmut Oehring. Was verbindet diese Musiker, will sagen, was für ein Bild vielleicht von deutscher Seele hatten Sie schon im Sinn, das dann zu dieser Auswahl der Werke geführt hat?

Metzmacher: Also erst mal gibt es eine wirklich sehr spezifische deutsche Tradition, die aus Leipzig kommt, meiner Ansicht nach, also Bach, der auch eine Rolle spielt bei uns, dann natürlich Schumann, Mendelssohn, Weber, Wagner, das ist für mich die Tradition der deutschen Musik und deswegen spielen wir das Paradies und die Peri von Schumann, dann spielen wir ein ganz politisches Programm. Sie haben Eisler erwähnt, da ist auch noch Liszt und Beethoven und das sind beides Stücke, die von den Nationalsozialisten, also, missbraucht wurden, das eine ist Les Preludes von Liszt und die 5. Symphonie von Beethoven und dem stellen wir halt die ernsten Gesänge von Eisler in der Mitte entgegen. Das ist auch ganz politisch gemeint. Dann machen wir ein ganz leichtes Programm mit dem Thema Sommernachtstraum, Mendelssohn, Henzes 8. Symphonie, die thematische einfach mit dem Sommernachtstraum umgeht und die Oberon-Overtüre von Weber und wie gesagt, die ersten beiden großen Projekte ist der Pfitzner, die gehören unbedingt zusammen für mich. Der Pfitzner "Von deutscher Seele", 1921 geschrieben von einem Mann, der zumindest mal sehr national gesinnt war.
König: Nationalsozialistisch kann schon ruhig sagen, sagen wir, der beinahe ein Nazi war.

Metzmacher: Da wäre ich vorsichtiger, aber er war auf jeden Fall auch antisemitisch eingestellt, jedenfalls gegen die sogenannten internationalen Juden. Ich finde einfach wichtig, dass heute, 60 Jahre nach dem Krieg, mehr als 60 Jahre nach dem Krieg, dass man auch in diese Ecke schaut. Also ich halte das für sehr wichtig. Und als Gegenstück haben wir halt Kurt Weil, "Der Silbersee", das ist deshalb wichtig, weil es 1933 geschrieben ist, weil es nur, glaube ich, zwei oder drei Aufführungen erlebt hat in Leipzig ...

König: Bevor Weil dann emigrierte.

Metzmacher: ... und dann wurde es sofort verboten. Weill war, glaube ich, schon auf der Flucht über Paris nach New York. Das beschreibt also eine ganz andere deutsche Wirklichkeit und natürlich auch die Musik ist natürlich völlig anders. Es sind ja völlig verschiedene Traditionen, die wir da gegenüberstellen. Aber ich denke, dass die deutsche Seele vor allem auch in der Musik gekennzeichnet ist durch ihre Vielfalt, könnte man das freundlich sagen, durch die Extreme, in die es geht immer und auch ihre Zerrissenheit.

König: Aber ist es nicht eigentlich müßig, oder sagen wir mal, eigentlich wenig ertragversprechend, etwas essentiell Deutsches in der Kunst suchen zu wollen?

Metzmacher: Ich habe mal eine Diskussion geführt, beim Abendessen führen müssen, wo das Thema auf den Tisch geworfen wurde, jemand hätte gesagt, Kunst muss deutsch sein. Also der Satz ist wohl auch mal gefallen. Das teile ich natürlich gar nicht, aber wenn Sie nach Amerika gehen, oder so, und denen sagen, Sie wollen sich mit dem Deutschen in der Musik beschäftigen, dann gucken die Sie ganz komisch an und sagen, wieso, Musik ist doch sowieso deutsch. Das stimmt ja auch wieder nicht. Aber natürlich das große Repertoire hat natürlich sehr viel mit dem deutschsprachigen Kulturraum zu tun. Das ist ganz klar.

König: Ja gut, aber es gibt ein großes französisches Repertoire, italienisches, russisches. Es gibt den schönen Brief von Giuseppe Verdi, wo er sich darüber aufregt, warum man sich denn unterhalte, ob nun die italienische oder die deutsche oder die türkische Musik, die er extra hervorhebt, welche nun die Beste sei. Für ihn gäbe es nur zwei Sorten von Musik, nämlich gute und schlechte. Hat er nicht Recht?

Metzmacher: Da hat er absolut Recht. Das hat ja auch Bernstein gesagt, noch in einem anderen Zusammenhang, teile ich absolut. Trotzdem glaube ich, dass sich natürlich etwas widerspiegelt in Musik. Musik erzählt ja Dinge, die wir über Sprache nicht erfahren können. Das interessiert mich einfach, und ich habe ja nun auch Hartmann dirigiert und es gibt da etwas, dem ich mich sehr verbunden fühle ...

König: Karl Amadeus Hartmann.

Metzmacher: Ja, Karl Amadeus Hartmann. Ich mache das ja auch nicht als pädagogische Veranstaltung, sondern mich interessiert einfach persönlich das Thema sehr, und ich möchte selber dabei etwas erfahren und diese Erfahrung im Konzert vermitteln, und ich finde Konzert sind dafür da ...

König: ... was deutsche Seele in der Musik ausmachen könnte, wie sie sich anfühlt, wie sie gestrickt, zusammengefügt ist.

Metzmacher: Ja, und was sie uns vielleicht erzählt.

König: Was hat Sie ihnen schon erzählt. Ich meine, Sie denken darüber lange nach, Sie probieren schon?

Metzmacher: Ich glaube, jetzt in dem speziellen Stück von Pfitzner, das ist ein sehr grüblerisches Stück. Das geht schon los, wenn man sich die Auswahl der Texte anguckt. Der erste Satz, der überhaupt gesungen wird, heißt, "Es kommt doch anders als du meinst". Das finde ich doch schon sehr bemerkenswert, also eine 90- bis 100-minütige Kantate mit diesem Satz anzufangen, "Es kommt doch anders, als du meinst" und ich glaube, dass ist auch ein bisschen ein Motto bei der Suche, was wir alle denken über die Deutschen: Ich glaube, es kommt doch anders, als wir glauben.

König: Aber das hat auch schon wieder etwas Grüblerisches, wie Sie die Sache angehen.

Metzmacher: Ja, ich finde einfach, das ist auch ein Kennzeichen. Also die Nähe, ich finde schon, dass man sagen kann, dass der deutsche Geist, der auch sich sehr viel mit, sagen wir mal, abstrakter Philosophie, abstraktem Gedankengut beschäftigt hat, der immer sehr fasziniert war davon, dass das deswegen auch die Musik für uns so eine riesige Rolle spielt. Es gibt kein Land der Welt, in dem es so viele Orchester und Theater gibt. Irgendwo liegt das ganz tief in unserer Kultur. Und ich glaube, es ganz gut, wenn wir uns darüber auch klar und bewusst sind.

König: Sie haben von Pfitzner gesprochen und von dem, wie er politisch, sagen wir mal, im Zwielicht Jahrzehnte lang gestanden hat. Wäre das jetzt auch für Sie der Versuch, ihn musikalisch zu, ja sagen wir ruhig, zu rehabilitieren, also nachzuweisen, dass er doch schon ein origineller und auch sehr eigenständiger Komponist war, also keiner, der immer nur epigonenhaft rückwärtsgewandt das Spätromantische noch mal gemacht hat?

Metzmacher: Nein, überhaupt nicht, da würde ich Ihnen absolut zustimmen. Ich würde ihn gerne rehabilitieren, auch vielleicht gegen das, was er selber geschrieben hat oder von sich gegeben hat, der hat ja furchtbar gegen

König: ... vor sich selber in Schutz nehmen ...

Metzmacher: ... ja, er hat furchtbar gegen die Moderne gewetter. Aber wenn Sie sich die Musik angucken, ganz genau, ist das also höchst entwickelt in Richtung auch auf eine Moderne, wie ich sie jedenfalls verstehe, also viel moderner als Strauss zum Beispiel.

König: Ingo Metzmachen, Sie sind nach Ferenc Fricsay, Lorin Maazel, Riccardo Chailly, Vladimir Ashkenazy und Kent Nagano der erste deutsche Chefdirigent des Deutschen Symphonie Orchesters. Wenn Sie zu Beginn Ihrer ersten Saison das Deutsche so herausstellen, steht dahinter vielleicht auch der Gedanke, der Wunsch, dieses Orchester wirklich zu einem nationalen Orchester zu machen, also parallel vielleicht, oder analog zum Orchestre National de France in Frankreich?

Metzmacher: Das könnte ich mir schon vorstellen, als eine Aufgabe für das Orchester. Es geht ja auch darum, dass man es platziert, dass man an seine Zukunft denkt, und der Name ist, finde ich, sehr gut gewählt. Der ist ja nicht von mir. Ich glaube schon, dass das Deutsche Symphonie Orchester durch seinen Namen, durch seine Qualität, auch durch seine Geschichte, man darf ja nicht vergessen, es ist 1946/47 gegründet, es ist also ungefähr so alt wie das neue Deutschland ...
König: Und wird heute 60 Jahre alt.

Metzmacher: ... wie die Bundesrepublik, wie jetzt ein neuer demokratischer Staat, der auf diesem Boden gewachsen ist, und insofern stehen wir auch für eine ganz bestimmte Tradition. Ich finde aber auch wichtig zu sagen, dass das Deutsche Symphonie Orchester aus sehr vielen Nationalitäten besteht, also wir haben Musiker, Musikerinnen aus vielen, vielen verschiedenen Ländern und sie haben die fünf Chefdirigenten genannt, also das Orchester hat ein Riesen-Repertoire in allen Bereichen der Musik.

König: Die "Causual-Concerts" möchte ich noch ansprechen, die werden in einer Reihe sich präsentieren, also Konzerte, die in bewusst legerer Atmosphäre stattfinden. Ist das auch so ein Gegenpol zu deutscher Seele, zu deutscher Gründlichkeit, sich da mal einmal und dann aber auch schon annonciert, im Programmheft ausgeschrieben, betont locker zu geben? Sie verzeihen mir diese kleine Ironie.

Metzmacher: Ja, die verzeihe ich Ihnen gerne. Es ist erst mal der Versuch, die Philharmonie, in der wir ja immer spielen, zu öffnen für Menschen, die vielleicht denken, da gehe ich nicht hin, das ist nicht mein Ort, da treffe ich nicht die Menschen, die ich kenne, das ist mir auch zu teuer, und dann muss ich mir vielleicht auch was Schönes anziehen und so, sondern Menschen anzusprechen. Das ist so ein bisschen Tag der offenen Tür. Es gibt einen Einheitspreis, wer zuerst kommt, sitzt vorne. Es gibt freie Platzwahl, das Orchester sitzt leger auf der Bühne. Ich bin wahrscheinlich auch schon da, unterhalte mich mit den Musikern, dann werden wir ein bisschen was erklären, werden was spielen, aber es gibt auch eine richtige Aufführung, in der sozusagen das Ritual, dass das Publikum still ist und zuhört, eingehalten wird. Ich habe das in Amerika erlebt, das hat mich sehr beeindruckt, weil es war ein unglaublich offenes und staunendes Publikum, von denen sicher viele vielleicht zum dritten, vierten Mal erst im Konzertsaal waren und es hat mir einfach sehr gefallen. Es hatte so was Frisches, es war nicht das Publikum, was Kennerschaft hat, sondern es war ein Publikum, was einfach unglaublich neugierig war an sich. Und wir werden beim ersten Mal zwei Stücke von Bernstein einstudieren, dem das sicher gefallen hätte, der ja auch viele Versuche gemacht hat in diese Richtung – also es ist auch sehr programmatisch so ausgedacht – der immer versucht hat zu sagen, Schwellen niederzureißen und Musiken miteinander bekannt zu machen und Menschen mit Dingen bekannt zu machen, die sie vielleicht in ihrem Leben sonst nicht treffen.

König: Heute Abend werden Sie Ihr erstes Konzert also neuer Chefdirigent des deutschen Symphonie Orchesters leiten mit Werken von Schostakowitsch, Bartók, Gershwin, Verdi und Maurice Ravel. Hat diese Auswahl einen Bezug zu Ihren Vorgängern?

Metzmacher: Ja, sehr konkret, das war auch die Idee. Wir spielen die festliche Ouvertüre von Schostakowitsch für Ashkenazy, wir spielen "Den Amerikaner in Paris" für Kent Nagano, wir spielen "Die Macht des Schicksals" für Riccardo Chailly, wir spielen "Die Tanzsuite" von Bartók für Ferenc Fricsay und wir spielen "La Valse" von Ravel für Lorin Maazel. Also es ist eine ganz bewusste Verbeugung vor der Vergangenheit, vor meinen Vorgängern, vor 60 Jahre Geschichte Deutsches Symphonie Orchester.