Irgendwo am Hindukusch
Was bedeutet es für einen Soldaten, seine Familie zu verlassen und in ein Land zu gehen, dessen Prognose düster ist? Hauptgefreiter Martin Wedel* geht mit der Panzerbrigarde 21 aus dem lippischen Augustdorf nach Afganistan. Vor der Abreise nach Mazar-e-Sharif wird die Panzerbrigade feierlich verabschiedet, und Martin Wedel hat seinen letzten Urlaubstag.
Der Freundeskreis der Panzerbrigarde 21 sammelt Kleinspenden. Karl-Heinz Schwarze ist in Zivil zur großen, feierlichen Verabschiedung des 17. deutschen Einsatzkontingents gekommen. Der Offizier der Rerserve trägt kurzärmliges, großkariertes Hemd, Edeljeans und Sandalen. Für jeden Euro, der in seiner Blechbüchse landet, verschenkt der Endvierziger einen Anstecker mit Wappen der Brigarde. Auch, um Sympathien zu werben, sagt er, für die 1200 Soldatinnen und Soldaten, die gleich hier, auf dem riesigen Parkplatz hinter Schwarze, nach Afghanistan verabschiedet werden.
Der öffentliche Appell findet in Lemgo, der Patenstadt der Panzerbrigarde 21, statt. Offizieller Beginn der Veranstaltung ist 18 Uhr. Gut eine Stunde vorher rangieren Busse mit Soldaten und Angehörigen rund um die schmale Zufahrtsstraße, Feldjäger weisen sie ein.
Zuschauer sind noch keine da, nur ein paar Zaungäste. Im Schatten eines Baumes steht ein älterer Herr, die Arme vor dem Körper verschränkt. Sympathien für die Truppe werben muss der Spenden sammelnde Offizier bei ihm nicht. Das hier heute ist schon eine gute Sache, murmelt Hinrich Platte leise. Wenn auch manchmal ein beklemmendes Gefühl bleibt.
"Es ist ja auch nicht so einfach zu verstehen, dass wir unser Vaterland in zweitausend Kilometer Entfernung Luftlinie verteidigen müssen. Aber wenn man so sieht, was mit Al Quaida so passiert ist, das ist natürlich auch bei uns möglich."
Ein paar Meter weiter steigt eine alte Dame vom Rad, schüttelt den Kopf. Sie ist ganz und gar nicht damit einverstanden, dass Deutschland junge Männer und Frauen so weit weg - und, wie sie sagt: in den Krieg - schickt.
"Nee, ich bin da nicht für, ich habe ja einen Krieg auch miterlebt. Was meinen Sie, wie sie da gepurzelt sind."
Marianne Schlinkmann schiebt energisch ihr Rad weiter und schimpft dabei nicht weniger energisch. Die Amerikaner, sagt sie, sollten gefälligst selbst wieder aufbauen, was sie in Afghanistan kaputt gemacht haben. Das hört auch Karl-Heinz Schwarze. Der Offizier sieht der Rentnerin noch einen Augenblick hinterher, zuckt dann nur mit den Schultern.
"Ich habe die Ausbildung der Soldaten während meiner Reserveübung verfolgen können, teilweise mitgestalten können. Ich bin überzeugt, dass die Verantwortlichen alles dafür getan haben, dass ihre Soldaten gut vorbereitet in diesen Einsatz gehen und dass sie mit Gottes Hilfe gesund und heile zurückkehren werden.""
Das wiederholen auch Simone und Kai, zwei der Soldatinnen und Soldaten, fast schon gebetsmühlenartig. Zusammen mit anderen Soldaten stehen sie auf einem kleinen Rasenstück am Rand des Geländes, stellen sich den Fragen der Reporter. Wie fühlt man sich so kurz vor Abflug in ein Land, das man nicht kennt? Ist man vorbereitet auf eventuelle Anschläge? Hauptgefreite Simone, korpulent, jung, die dicken braunen Haare zum Zopf zusammengebunden, antwortet freundlich und geduldig:
"Man geht mit gemischten Gefühlen. Man weiß auch schon vieles von Weiterbildungen, die wir hatten, was einen erwartet an Temperaturen, die Kulturen da unten, dass die Damen verschleiert rumlaufen. Man weiß auch, dass es nachts sehr kalt ist und tagsüber warm, staubig. Abwarten."
Verschleierte Damen, wechselhafte Temperaturen - aus dem Mund der jungen Soldatin klingt es fast so, als würde sie morgen in den Abenteuerurlaub fliegen. Als ein Reporter sie fragt, ob sie überhaupt weiß, wie gefährlich ihr Einsatz in Afghanistan sei, reagiert Simone immer noch freundlich und gelassen.
"Ich könnte mich jetzt verrückt machen, klar. Ich warte jetzt erst mal ab, was mich da wirklich erwartet, und dann gucken. Wir haben Patrouillien bei uns durchgeführt, wie man da reagieren sollte, falls ein Anschlag passiert. Man hat auch eine Geiselnahme durchgespielt, um einfach mal der Stresssituation ausgesetzt zu werden wie man selbst reagiert, ob man dem gewachsen ist - von daher, das geht."
Hinter Simone steht Kai. Der Stabsunteroffizier blickt schon zum dritten Mal auf seine Armbanduhr. Er scheint ungeduldig darauf zu warten, dass die Reporter abrücken, endlich der offizielle Teil beginnt. Immer dieselben Fragen, sagt er leise. Vor allem die "Was ist, wenn was passiert?" kann er langsam nicht mehr hören.
"Ich kann auch gleich nach dem Interview hier vorne auf die Straße laufen, und der Busfahrer übersieht die rote Ampel und überfährt mich. Passiert. Wenn wirklich was passiert, dafür sind wir ausgerüstet. Dann müssen wir versuchen, so zu handeln, wie wir es gelernt haben und hoffen, dass alles gut geht."
15 Minuten noch. Der Presseoffizier tippt auf seine Uhr. Das Zeichen, dass die Soldaten los müssen, Aufstellung beziehen. Im Hintergrund steht bereits das Luftwaffenmusikkorps 3 und ein Ehrenzug mit Fahnenanordnungen bereit.
1200 Soldatinnen und Soldaten in Reih und Glied auf dem riesigen Parkplatz, alle in olivgrün, zu unterscheiden nur an ihren schwarzen oder weinroten Barrets. Die Augen der jungen Männer und Frauen sind geradeaus, aufs Rednerpult, gerichtet. Dahinter eine überdachte Ehrentribüne für Angehörige, hohe Dienstgrade und Politiker. Wie Verteidigungsminister Franz Josef Jung. Vor zehn Minuten auf einem nahen Sportplatz mit dem Hubschrauber gelandet, schreitet der Minister jetzt die Formation ab. Bleibt dann an seinem Platz solange stehen, bis die Musik aussetzt, Brigadegeneral Jürgen Weigt ans Mikrofon tritt.
Inzwischen haben sich auch etwa dreihundert Lemgoer eingefunden. In Shorts und Sandalen, einige mit Ferngläsern ausgerüstet, beobachten sie das Geschehen vom anderen Ende des Parkplatzes. Unter ihnen: eine Gruppe junger Demonstranten mit Megafon und Transparenten. "Soldaten sind Mörder" steht auf einem.
"Es ist für niemanden für uns einfach, unseren Einsatz in Afghanistan als unmittelbaren Schutz Deutschlands begreifbar zu machen. Wie soll man Menschen, die wie wir in einer Überflussgesellschaft leben, beschreiben, wie es in einem Land aussieht, das seit mehreren Generationen durch Not, durch Elend, und auch durch Krieg geprägt ist."
Weigts Rede ist offen, ehrlich, teilweise bitter. Er sagt, dass die Soldaten manchmal mehr Rückhalt durch die Politik verdient hätten. Und - ohne Umschweife - dass der Einsatz sehr gefährlich ist. Der Umgang mit Themen wie Tod und Verwundung, sagt der General mit fester Stimme, hat in Afghanistan seinen hypothetischen Charakter verloren.
"Meine Kameraden und ich, wir werden wahrscheinlich nicht mehr diesselben sein, wenn wir aus Afghanistan zurückkehren. Und dabei meine ich jetzt nicht nur die physische Gefahr."
Als Weigt das sagt, wird es plötzlich sehr still auf der Tribüne. Seit sieben Jahre stehen deutsche Soldaten in Afghanistan, nirgendwo sonst sind bisher so viele von ihnen ums Leben gekommen, insgesamt 26. Jetzt hat die Bundesregierung dem Parlament vorgeschlagen, das Kontingent auf 4500 aufzustocken. 1000 Mann mehr - das heißt auch mehr Gefahr. Dessen sind sich alle hier bewusst. Und als der General es ausspricht, ist für ein paar Sekunden lang der Albtraum jeder Mutter, jedes Vaters - sechseinhalb Flugstunden vom Einsatzort entfernt - greifbar. Ein Sprengstoffattentäter, ein Anschlag. 40, 50, 100 Soldaten werden in den Tod gerissen. Doch ein Zurück gibt es jetzt nicht mehr.
"Trotzdem gehe ich zuversichtlich mit Ihnen nach Afghanistan und sage jedem hier Anwesenden: Wir können es schaffen und werden es schaffen. (Applaus.)."
Am Rand der Ehrentribüne, an ein Absperrgitter gelehnt, steht eine Frau mit Jeans, weißem T-Shirt, blonden Haaren und Handtasche. Rita Wedel, eine der vielen Soldatenmütter. Mit einem zusammengeknüllten Tempotaschentuch wischt sie sich alle paar Sekunden ihre geröteten Augen trocken. Die Rede von Weigt ist ihr sehr nah gegangen, sagt sie.
Rita Wedel sieht müde, geschafft aus, unter ihren Augen zeichnen sich dunkle Ringe ab. Seit sechs Uhr früh ist sie auf den Beinen. Ohne Pause. Von neun bis um vier hört sie sich in der Kaserne ihres Sohnes zusammen mit anderen Müttern und Vätern Vorträge über Afghanistan an, danach geht es direkt weiter hierher, nach Lemgo. Ihr Sohn Martin, eben noch gemeinsam mit Kai und Simone umringt von Reportern, steht jetzt keine 50 Meter von ihr entfernt, gleich vorne in der ersten Reihe der 3. Panzerkompanie.
Martin ist 23 Jahre alt, gelernter LKW-Schlosser. Er hat kurz geschorene blonde Haare, auffallend blaue Augen. Außer mit den Eltern im Badeurlaub in Ungarn, war er noch nie im Ausland. Und jetzt gleich Afghanistan. Vier bis fünf Monate, mindestens. Lange, sagt seine Mutter, ist das für sie abstrakt gewesen und deshalb auch weit weg. Doch allmählich rückt der Tag näher, vor dem ihr so graut.
"Er wusste, wenn er sich verpflichtet, dass das kommt, das wusste er. Ich bringe ihn dann ja noch her zur Kaserne, weil wir ja relativ weit weg wohnen - daran mag ich noch gar nicht denken, nee."
Zwei Wochen später, im Wohnzimmer bei Familie Wedel. 36 Stunden vor Martins Abflug. In Shorts und Muskelshirt sitzt der Hauptgefreite neben seiner Mutter auf einer Couchgarnitur, gegenüber im Sessel, sein Vater, im Trainingsanzug. Alle drei haben einen Pott Kaffee vor sich. Im Wohnzimmer des kleinen Einfamilienhäuschens, in dem früher mal ein Lebensmittelgeschäft war, steht noch ein riesiger Flachbildschirmfernseher. Und ein Einbauschrank mit gerahmten Hochzeits- und Familienfotos.
Martins Vater, ebenfalls LKW-Schlosser, stellt den Fernseher leise, versinkt dann wieder in seinem Sessel. Er möchte nichts zum deutschen Afghanistan-Einsatz sagen. Verschränkt die Arme vor der Brust und starrt demonstrativ auf den Bildschirm. Dann platzt es aber doch aus ihm raus. Der Amerikaner ist an allem Schuld. Der setzt der deutschen Regierung die Pistole auf die Brust. Und die knickt immer wieder ein, schickt immer mehr Jungs runter, nach Afghanistan.
Quasi als Wiedergutmachung für die Luftbrücke, schimpft Wedel. Und: Irgendwann muss damit doch mal Schluss sein! Kein gutes Haar lässt er auch am Verteidigungsminister. Seinen Vorgänger Struck, den fand er noch okay, der hatte wenigstens noch einen Arsch in der Hose. Mehr sagt Wedel nicht.
Für einen Moment lang ist es ruhig im Wohnzimmer. Und da Martin meist nur spricht, wenn er gefragt wird, will seine Mutter nochmal versuchen, zu umschreiben, was ihr und ihrem Mann Sorge macht. Sie denkt lange nach über die Antwort. Dann hat sie die richtigen Worte gefunden.
"Es sollte ja Aufbauhilfe sein für das Land - und die gerät immer mehr in den Hintergrund, weil das Land noch immer voller Unruhe ist. Es war das erste Mal, dass es diesmal als Kampftruppe bezeichnet wurde."
Dass Jung das bei seiner Rede in Lemgo nicht einmal klipp und klar gesagt hat, das stört auch sie. Viel Zeit aber, sich darüber zu ärgern, hat Rita Wedel gar nicht. Die letzten Wochen und Tage, sagt sie, sind nur so geflogen.
"Es ist so viel noch zu bedenken, weil die ja allen möglichen Kram mitnehmen müssen. Dann müssen sie Quittungen mitnehmen, das muss man dann suchen, und dann muss man ihn auch ein bisschen treten: Martin, Du musst Dir das noch zusammen suchen und Du musst Dir das noch raussuchen. Er ist ja eigentlich ruhiger als ich. So nach dem Motto: Wenn ich morgen Mittag um eins anfange zu packen und wir um zwei losfahren, reicht das."
Martin nimmt einen Schluck Kaffee, schmunzelt. Er weiß: Er ist von Natur aus eher ruhig. Gar nicht verkehrt, findet seine Mutter, wenn er in Afghanistan mal in eine brenzlige Situation gerät.
Klar gibt es in den letzten Tagen vor dem Abflug viel zu tun, sagt Martin. Quittungen suchen, aber auch eine Lebensversicherung und eine Patientenverfügung abschließen zum Beispiel. Andere machen das mit 60 oder 70 Jahren - Martin mit 23. Nachdenklich macht ihn das nicht.
Ansonsten ist aber nichts anders gewesen als sonst. Martin hat seine Schwester besucht, ausgeschlafen, Freunde getroffen. Eine feste Freundin hat er im Moment nicht. Nur einen SMS-Flirt, Vanessa.
Genau wie seine Kameraden bei der Verabschiedung in Lemgo hält Martin sich für den Auslandseinsatz gut vorbereitet. Er habe x-kopierte Unterlagen bekommen, sagt er, in denen alles über Afghanistan steht. Wieviel Einwohner, etwas über die Kultur, wo welcher Fluss lang läuft, wo überall Mohn angebaut wird.
"Wir wissen, wie die Straßen da unten aussehen, wie wir uns zu verhalten haben und sonstiges. Filme, Vorträge, Videos. Ein paar von unseren Dienstgraden waren ja auch schon im April da unten, teilweise sind die Ausbildungen auch von denen, die schon dort waren."
Martin gehört zur Schutzkompanie des Wiederaufbauteams der Bundeswehr in Feyzabad, im äußersten Nordosten Afghanistans. Was er außer Patrouille fahren vier, fünf Monate Tag und Nacht genau machen wird, das weiß er selbst noch nicht.
"Wir wissen nur, dass wir halt länger draußen sind als einen Tag. Wir sind im Schnitt zwischen fünf und zehn Tagen draußen."
Und das ausgerechnet in der Zeit nach Ramadan, in der die meisten Anschläge passieren. In ländlichem, gefährlichem Territorium. In dem er und seine Kameraden allein für eine Fahrt ins 200 Kilometer entfernte Camp nach Kunduz 12 Stunden oder länger brauchen. Dass das kein Spaziergang wird, das weiß Martin.
Und er weiß auch, dass er jederzeit abgezogen werden kann zu Einsätzen der taktischen Eingreiftruppe Quick Reaction Force, im Militärjargon kurz QRF genannt. Quick Reaction, das heißt nichts anderes als Kampf. Im Norden, aber auf Anfrage auch im blutigen Süden Afghanistans. Trotz allem: Angst hat Martin nicht.
"Schiss eigentlich eher weniger. Mittlerweile ist es die Freude, dass es endlich losgeht. Ein halbes Jahr und länger Vorbereitung, da hat man irgendwann keine Lust mehr und will nur noch runter."
Jetzt geht er hoch, in sein Zimmer. Das liegt direkt unterm Dach, ist komplett holzvertäfelt. Darin ein Bett, an der Wand ein Kevin Kurany-Shirt. In einem kleinen Regal zwei Harry-Potter Bände, ein paar Donald-Duck-Hefte. Auf einer flachen Kommode: ein Rasierer, Rohlinge, DVD-Hüllen, Fernseher und Laptop.
"Jetzt kann ich Ihnen auch mal so ein Video zeigen."
Martin setzt sich auf die Bettkante, fährt sein Laptop hoch.
"Das war so ein Video über die Straßen, wie die Strecken dort sind, wie die Straßen beschaffen sind."
Doch die Datei ist gelöscht. Noch da ist ein Video, das er sich bei You-Tube runter geladen hat. Eine Schiesserei zwischen deutschen Soldaten und serbischen Freischärlern im Juni 1999 in Prizren.
"Das ist damals mit dem Anschlag auf die deutschen Soldaten gewesen. Beginn Beitrag: Zwei bewaffnete Serben…"
Bei dem selbstmörderischen Gemetzel sterben zwei Zivilisten, ein Bundeswehrsoldat wird verletzt. Martin zuckt mit den Schultern. Kann passieren, sagt er.
"Wenn man jetzt das oberste Haus nimmt, da gehen wir gleich ein Bierchen trinken…"
Jetzt aber will er rüber zu seinem Kumpel Christian. Wie jedes Wochenende ein bisschen Playstation spielen.
"Ja, wollt ihr wat trinken? Kölsch? Frisch gekühlt? (Öffner, Feuerzeug.) Zum Wohl. (Playstation, Musik.)"
Christian ist 21, ein schlaksiger Typ mit einem verschmitzten Grinsen. Auch er wohnt noch bei seinen Eltern. Ebenfalls oben, unterm Dach. Sein Zimmer sieht fast genauso aus wie das von Martin. Nur hat Christian sein Schlafsofa hochgeklappt, damit er besser Playstation spielen kann.
"Na komm. Mal gucken, wen nehmen wir denn. Jetzt geht es ab."
Bevor der Abend klar gemacht wird, wird erst mal eine Runde gezockt. AC Milan gegen Manchester United mit Joystick.
Früher haben beide Freunde draußen auf dem Platz vor Christians Fenster stundenlang selbst gebolzt. Heute sitzen sie lieber hier oben mit der Konsole. Weil Christian am Wochenende oft einfach nur müde von seinem Knochenjob als Straßenbauer ist. Und manchmal hat einer von beiden auch Stress mit einer Freundin.
"Was machen wir heute Abend?"
fragt Martin nach fast einer Stunde. Und Christian druckst rum. Er hat gerade Stress mit seiner Freundin. Lässt Martin deshalb an seinem letzten Abend hängen. Egal, sagt der und fischt sein Handy aus der Tasche. Ruft Alex, einen anderen Kumpel an. Der hat Zeit.
"Ich hol Dich in einer Stunde ab. Sieh zu, dass Du fertig wirst."
Vorher will Martin noch kurz nach Hause, sich duschen und das Auto holen. Christian und er spielen noch schnell ihr Fußballmatch zu Ende, klatschen sich kurz ab - Tschüss sagen wollen beide morgen.
Beim Spaziergang durch den Ort kommt Martin plötzlich auf seinen Vater zu sprechen. Eigentlich steht er hinter der ganzen Afghanistan-Geschichte, sagt er, auch wenn sich das vorhin nicht so angehört hat. Schließlich hat sein Vater ihn überhaupt dazu überredet, Zeitsoldat zu werden. Ein paar Meter vor der eigenen Haustür läuft Martin seinem Nachbarn in die Arme. Der kennt ihn schon sein ganzes Leben.
"Tag Heinrich. Hast Du frei?"
"Heute noch."
"Und morgen?"
"Kaserne. Und Sonntag geht der Flieger."
Der Rentner schüttelt den Kopf, schiebt einen Träger seines Unterhemdes wieder hoch, kommt ein paar Schritte näher. Bleib hier, sagt er leise. Und: Lass die da unten doch machen, was sie wollen.
"Bisschen aufräumen hier…"
Der nächste Morgen. Noch zwei Stunden bis zur Abfahrt, 16 Stunden bis zum Abflug. Martin räumt sein Zimmer auf. Um drei Uhr ist er heute Nacht nach Hause gekommen. Alex und er sind dann doch ziemlich abgestürzt. Martin trägt jetzt Jeans und ein schwarzes T-Shirt mit dem Emblem eines Wodka-Herstellers auf der Brust. Das hat er nachts in der Kneipe nach dem zehnten Mixgetränk gewonnen.
Im geöffneten Fensterrahmen sitzt Christian, guckt Martin beim Aufräumen zu. Bin ganz happy, sagt Martin plötzlich, und zeigt auf seinen Nachttisch. Dort liegt - noch original verpackt - eine Playstation im Miniformat. Gerade noch rechtzeitig mit der Post gekommen. Genau wie die drei Ballerspiele. Gegen die Langeweile im Camp.
Unten, in der Küche, hat sich inzwischen die ganze Familie versammelt. Martins älterer Bruder Maik, er wohnt gleich nebenan. Martins achtjähriger Neffe Phillip, Martins Mutter und Christian. Alle stehen rum, reden belangloses Zeug. Martins Neffe Phillip spielt den Clown, versucht auf Martins Schulter zu steigen. Christian klopft dumme Sprüche dazu. Nur Martins Vater sitzt im Wohnzimmer, guckt Autorennen. Alle paar Minuten steht er auf, geht in den Flur, wo Martins Rucksack steht. Und geht dann wieder zurück zum Fernseher.
"Martin, hier, nicht vergessen. Was macht Ihr denn noch…?"
Werner Wedel ist nervös. Regt sich auf, dass seine Frau bis zur letzten Minute RTL-Serien für Martin aus dem Internet herunter lädt, beide auch deshalb immer noch nicht auf der Autobahn Richtung Kaserne sind. Irgendwie, so scheint es, will er den Abschied endlich hinter sich bringen. Martins Bruder Maik spürt das, macht den Anfang. Geht zwei Schritte auf Martin zu, nimmt ihn einmal fest in den Arm.
"Komm her, pass auf Dich auf…"
Dann schickt er Phillip zu Martin. Der hebt seinen Neffen hoch, drückt auch ihn einmal fest. Phillip wünscht Martin viel Spaß.
"Tschüss Martin, bis in fünf Monaten."
"Tschüss Christian."
"Tschüss Martin, hab' Dich lieb."
"Ich Dich auch."
"Tschüss Martin. (Stöhnen.)"
Rita Wedel ist nicht mehr in der Küche. Abschiede mag sie nicht, sagt sie später. Ein paar Minuten später läuft sie mit einem zerknüllten Tempotaschentuch in der Hand durch den Flur. Auch sie will jetzt los.
"So, hast ja noch was liegen, Martin? Aus dem Auto hast Du alles raus, was Du brauchst?"
"Jou. Wo habe ich denn meine Zigaretten."
Martin packt seinen Rucksack in den Kofferraum, die neue Playstation und ein Päckchen Zigaretten auf den Beifahrersitz. Dann steht auch schon Christian hinter ihm.
"Grüß' Deine Mutter und Deine Frau noch mal. Halt' die Ohren steif."
"Sowieso."
Ein leises "Halt die Ohren steif" bekommt der schlaksige Sprücheklopfer von eben heraus, mehr nicht. Nickt Martin zu, schluckt dabei tief. Dann steigt er, ohne sich noch einmal umzudrehen, auf seinem Motorroller und ist weg. Hinter Martin steht jetzt sein Vater.
"Tschüss, und pass gut auf!"
Vater und Sohn umarmen sich. Kurz, aber fest. Ein Bild, das Martins Mutter nicht oft sieht, sagt sie später. Dann geht alles ganz schnell. Rita Wedel steigt auf der Fahrerseite ein, Martin auf der Beifahrerseite. Im Türrahmen des kleinen Einfamilienhauses steht Martins Vater und winkt.
Auf der Fahrt zur Kaserne ist es im Auto still. Martin lädt sein neues Spielzeug am Zigarettenanzünder auf, spielt fast nur noch. Seine Mutter konzentriert sich aufs Fahren.
"Das ist eigentlich der Tag, vor dem einem am meisten gegraut hat, diese ganzen Abschiede. Ich bin froh, dass ich fahre, dass ich mich konzentrieren muss. Deswegen wollte ich auch alleine fahren."
Später wollen beide noch Essen gehen, in eine Pizzeria in Augustdorf, von wo Martin am nächsten Morgen um sechs der Bus zum Flughafen abholt. Komisch, sagt Rita Wedel plötzlich, eigentlich ist fast alles wie immer. Martin nimmt seinen Rucksack, fährt nach ein paar freien Tagen zurück in die Kaserne. Alles kein Problem, sagt sie. Das Problem ist zu wissen, wo er diesmal hinfährt. Und deshalb ist eben doch nichts wie immer.
*Der Name wurde von der Redaktion geändert.
Der öffentliche Appell findet in Lemgo, der Patenstadt der Panzerbrigarde 21, statt. Offizieller Beginn der Veranstaltung ist 18 Uhr. Gut eine Stunde vorher rangieren Busse mit Soldaten und Angehörigen rund um die schmale Zufahrtsstraße, Feldjäger weisen sie ein.
Zuschauer sind noch keine da, nur ein paar Zaungäste. Im Schatten eines Baumes steht ein älterer Herr, die Arme vor dem Körper verschränkt. Sympathien für die Truppe werben muss der Spenden sammelnde Offizier bei ihm nicht. Das hier heute ist schon eine gute Sache, murmelt Hinrich Platte leise. Wenn auch manchmal ein beklemmendes Gefühl bleibt.
"Es ist ja auch nicht so einfach zu verstehen, dass wir unser Vaterland in zweitausend Kilometer Entfernung Luftlinie verteidigen müssen. Aber wenn man so sieht, was mit Al Quaida so passiert ist, das ist natürlich auch bei uns möglich."
Ein paar Meter weiter steigt eine alte Dame vom Rad, schüttelt den Kopf. Sie ist ganz und gar nicht damit einverstanden, dass Deutschland junge Männer und Frauen so weit weg - und, wie sie sagt: in den Krieg - schickt.
"Nee, ich bin da nicht für, ich habe ja einen Krieg auch miterlebt. Was meinen Sie, wie sie da gepurzelt sind."
Marianne Schlinkmann schiebt energisch ihr Rad weiter und schimpft dabei nicht weniger energisch. Die Amerikaner, sagt sie, sollten gefälligst selbst wieder aufbauen, was sie in Afghanistan kaputt gemacht haben. Das hört auch Karl-Heinz Schwarze. Der Offizier sieht der Rentnerin noch einen Augenblick hinterher, zuckt dann nur mit den Schultern.
"Ich habe die Ausbildung der Soldaten während meiner Reserveübung verfolgen können, teilweise mitgestalten können. Ich bin überzeugt, dass die Verantwortlichen alles dafür getan haben, dass ihre Soldaten gut vorbereitet in diesen Einsatz gehen und dass sie mit Gottes Hilfe gesund und heile zurückkehren werden.""
Das wiederholen auch Simone und Kai, zwei der Soldatinnen und Soldaten, fast schon gebetsmühlenartig. Zusammen mit anderen Soldaten stehen sie auf einem kleinen Rasenstück am Rand des Geländes, stellen sich den Fragen der Reporter. Wie fühlt man sich so kurz vor Abflug in ein Land, das man nicht kennt? Ist man vorbereitet auf eventuelle Anschläge? Hauptgefreite Simone, korpulent, jung, die dicken braunen Haare zum Zopf zusammengebunden, antwortet freundlich und geduldig:
"Man geht mit gemischten Gefühlen. Man weiß auch schon vieles von Weiterbildungen, die wir hatten, was einen erwartet an Temperaturen, die Kulturen da unten, dass die Damen verschleiert rumlaufen. Man weiß auch, dass es nachts sehr kalt ist und tagsüber warm, staubig. Abwarten."
Verschleierte Damen, wechselhafte Temperaturen - aus dem Mund der jungen Soldatin klingt es fast so, als würde sie morgen in den Abenteuerurlaub fliegen. Als ein Reporter sie fragt, ob sie überhaupt weiß, wie gefährlich ihr Einsatz in Afghanistan sei, reagiert Simone immer noch freundlich und gelassen.
"Ich könnte mich jetzt verrückt machen, klar. Ich warte jetzt erst mal ab, was mich da wirklich erwartet, und dann gucken. Wir haben Patrouillien bei uns durchgeführt, wie man da reagieren sollte, falls ein Anschlag passiert. Man hat auch eine Geiselnahme durchgespielt, um einfach mal der Stresssituation ausgesetzt zu werden wie man selbst reagiert, ob man dem gewachsen ist - von daher, das geht."
Hinter Simone steht Kai. Der Stabsunteroffizier blickt schon zum dritten Mal auf seine Armbanduhr. Er scheint ungeduldig darauf zu warten, dass die Reporter abrücken, endlich der offizielle Teil beginnt. Immer dieselben Fragen, sagt er leise. Vor allem die "Was ist, wenn was passiert?" kann er langsam nicht mehr hören.
"Ich kann auch gleich nach dem Interview hier vorne auf die Straße laufen, und der Busfahrer übersieht die rote Ampel und überfährt mich. Passiert. Wenn wirklich was passiert, dafür sind wir ausgerüstet. Dann müssen wir versuchen, so zu handeln, wie wir es gelernt haben und hoffen, dass alles gut geht."
15 Minuten noch. Der Presseoffizier tippt auf seine Uhr. Das Zeichen, dass die Soldaten los müssen, Aufstellung beziehen. Im Hintergrund steht bereits das Luftwaffenmusikkorps 3 und ein Ehrenzug mit Fahnenanordnungen bereit.
1200 Soldatinnen und Soldaten in Reih und Glied auf dem riesigen Parkplatz, alle in olivgrün, zu unterscheiden nur an ihren schwarzen oder weinroten Barrets. Die Augen der jungen Männer und Frauen sind geradeaus, aufs Rednerpult, gerichtet. Dahinter eine überdachte Ehrentribüne für Angehörige, hohe Dienstgrade und Politiker. Wie Verteidigungsminister Franz Josef Jung. Vor zehn Minuten auf einem nahen Sportplatz mit dem Hubschrauber gelandet, schreitet der Minister jetzt die Formation ab. Bleibt dann an seinem Platz solange stehen, bis die Musik aussetzt, Brigadegeneral Jürgen Weigt ans Mikrofon tritt.
Inzwischen haben sich auch etwa dreihundert Lemgoer eingefunden. In Shorts und Sandalen, einige mit Ferngläsern ausgerüstet, beobachten sie das Geschehen vom anderen Ende des Parkplatzes. Unter ihnen: eine Gruppe junger Demonstranten mit Megafon und Transparenten. "Soldaten sind Mörder" steht auf einem.
"Es ist für niemanden für uns einfach, unseren Einsatz in Afghanistan als unmittelbaren Schutz Deutschlands begreifbar zu machen. Wie soll man Menschen, die wie wir in einer Überflussgesellschaft leben, beschreiben, wie es in einem Land aussieht, das seit mehreren Generationen durch Not, durch Elend, und auch durch Krieg geprägt ist."
Weigts Rede ist offen, ehrlich, teilweise bitter. Er sagt, dass die Soldaten manchmal mehr Rückhalt durch die Politik verdient hätten. Und - ohne Umschweife - dass der Einsatz sehr gefährlich ist. Der Umgang mit Themen wie Tod und Verwundung, sagt der General mit fester Stimme, hat in Afghanistan seinen hypothetischen Charakter verloren.
"Meine Kameraden und ich, wir werden wahrscheinlich nicht mehr diesselben sein, wenn wir aus Afghanistan zurückkehren. Und dabei meine ich jetzt nicht nur die physische Gefahr."
Als Weigt das sagt, wird es plötzlich sehr still auf der Tribüne. Seit sieben Jahre stehen deutsche Soldaten in Afghanistan, nirgendwo sonst sind bisher so viele von ihnen ums Leben gekommen, insgesamt 26. Jetzt hat die Bundesregierung dem Parlament vorgeschlagen, das Kontingent auf 4500 aufzustocken. 1000 Mann mehr - das heißt auch mehr Gefahr. Dessen sind sich alle hier bewusst. Und als der General es ausspricht, ist für ein paar Sekunden lang der Albtraum jeder Mutter, jedes Vaters - sechseinhalb Flugstunden vom Einsatzort entfernt - greifbar. Ein Sprengstoffattentäter, ein Anschlag. 40, 50, 100 Soldaten werden in den Tod gerissen. Doch ein Zurück gibt es jetzt nicht mehr.
"Trotzdem gehe ich zuversichtlich mit Ihnen nach Afghanistan und sage jedem hier Anwesenden: Wir können es schaffen und werden es schaffen. (Applaus.)."
Am Rand der Ehrentribüne, an ein Absperrgitter gelehnt, steht eine Frau mit Jeans, weißem T-Shirt, blonden Haaren und Handtasche. Rita Wedel, eine der vielen Soldatenmütter. Mit einem zusammengeknüllten Tempotaschentuch wischt sie sich alle paar Sekunden ihre geröteten Augen trocken. Die Rede von Weigt ist ihr sehr nah gegangen, sagt sie.
Rita Wedel sieht müde, geschafft aus, unter ihren Augen zeichnen sich dunkle Ringe ab. Seit sechs Uhr früh ist sie auf den Beinen. Ohne Pause. Von neun bis um vier hört sie sich in der Kaserne ihres Sohnes zusammen mit anderen Müttern und Vätern Vorträge über Afghanistan an, danach geht es direkt weiter hierher, nach Lemgo. Ihr Sohn Martin, eben noch gemeinsam mit Kai und Simone umringt von Reportern, steht jetzt keine 50 Meter von ihr entfernt, gleich vorne in der ersten Reihe der 3. Panzerkompanie.
Martin ist 23 Jahre alt, gelernter LKW-Schlosser. Er hat kurz geschorene blonde Haare, auffallend blaue Augen. Außer mit den Eltern im Badeurlaub in Ungarn, war er noch nie im Ausland. Und jetzt gleich Afghanistan. Vier bis fünf Monate, mindestens. Lange, sagt seine Mutter, ist das für sie abstrakt gewesen und deshalb auch weit weg. Doch allmählich rückt der Tag näher, vor dem ihr so graut.
"Er wusste, wenn er sich verpflichtet, dass das kommt, das wusste er. Ich bringe ihn dann ja noch her zur Kaserne, weil wir ja relativ weit weg wohnen - daran mag ich noch gar nicht denken, nee."
Zwei Wochen später, im Wohnzimmer bei Familie Wedel. 36 Stunden vor Martins Abflug. In Shorts und Muskelshirt sitzt der Hauptgefreite neben seiner Mutter auf einer Couchgarnitur, gegenüber im Sessel, sein Vater, im Trainingsanzug. Alle drei haben einen Pott Kaffee vor sich. Im Wohnzimmer des kleinen Einfamilienhäuschens, in dem früher mal ein Lebensmittelgeschäft war, steht noch ein riesiger Flachbildschirmfernseher. Und ein Einbauschrank mit gerahmten Hochzeits- und Familienfotos.
Martins Vater, ebenfalls LKW-Schlosser, stellt den Fernseher leise, versinkt dann wieder in seinem Sessel. Er möchte nichts zum deutschen Afghanistan-Einsatz sagen. Verschränkt die Arme vor der Brust und starrt demonstrativ auf den Bildschirm. Dann platzt es aber doch aus ihm raus. Der Amerikaner ist an allem Schuld. Der setzt der deutschen Regierung die Pistole auf die Brust. Und die knickt immer wieder ein, schickt immer mehr Jungs runter, nach Afghanistan.
Quasi als Wiedergutmachung für die Luftbrücke, schimpft Wedel. Und: Irgendwann muss damit doch mal Schluss sein! Kein gutes Haar lässt er auch am Verteidigungsminister. Seinen Vorgänger Struck, den fand er noch okay, der hatte wenigstens noch einen Arsch in der Hose. Mehr sagt Wedel nicht.
Für einen Moment lang ist es ruhig im Wohnzimmer. Und da Martin meist nur spricht, wenn er gefragt wird, will seine Mutter nochmal versuchen, zu umschreiben, was ihr und ihrem Mann Sorge macht. Sie denkt lange nach über die Antwort. Dann hat sie die richtigen Worte gefunden.
"Es sollte ja Aufbauhilfe sein für das Land - und die gerät immer mehr in den Hintergrund, weil das Land noch immer voller Unruhe ist. Es war das erste Mal, dass es diesmal als Kampftruppe bezeichnet wurde."
Dass Jung das bei seiner Rede in Lemgo nicht einmal klipp und klar gesagt hat, das stört auch sie. Viel Zeit aber, sich darüber zu ärgern, hat Rita Wedel gar nicht. Die letzten Wochen und Tage, sagt sie, sind nur so geflogen.
"Es ist so viel noch zu bedenken, weil die ja allen möglichen Kram mitnehmen müssen. Dann müssen sie Quittungen mitnehmen, das muss man dann suchen, und dann muss man ihn auch ein bisschen treten: Martin, Du musst Dir das noch zusammen suchen und Du musst Dir das noch raussuchen. Er ist ja eigentlich ruhiger als ich. So nach dem Motto: Wenn ich morgen Mittag um eins anfange zu packen und wir um zwei losfahren, reicht das."
Martin nimmt einen Schluck Kaffee, schmunzelt. Er weiß: Er ist von Natur aus eher ruhig. Gar nicht verkehrt, findet seine Mutter, wenn er in Afghanistan mal in eine brenzlige Situation gerät.
Klar gibt es in den letzten Tagen vor dem Abflug viel zu tun, sagt Martin. Quittungen suchen, aber auch eine Lebensversicherung und eine Patientenverfügung abschließen zum Beispiel. Andere machen das mit 60 oder 70 Jahren - Martin mit 23. Nachdenklich macht ihn das nicht.
Ansonsten ist aber nichts anders gewesen als sonst. Martin hat seine Schwester besucht, ausgeschlafen, Freunde getroffen. Eine feste Freundin hat er im Moment nicht. Nur einen SMS-Flirt, Vanessa.
Genau wie seine Kameraden bei der Verabschiedung in Lemgo hält Martin sich für den Auslandseinsatz gut vorbereitet. Er habe x-kopierte Unterlagen bekommen, sagt er, in denen alles über Afghanistan steht. Wieviel Einwohner, etwas über die Kultur, wo welcher Fluss lang läuft, wo überall Mohn angebaut wird.
"Wir wissen, wie die Straßen da unten aussehen, wie wir uns zu verhalten haben und sonstiges. Filme, Vorträge, Videos. Ein paar von unseren Dienstgraden waren ja auch schon im April da unten, teilweise sind die Ausbildungen auch von denen, die schon dort waren."
Martin gehört zur Schutzkompanie des Wiederaufbauteams der Bundeswehr in Feyzabad, im äußersten Nordosten Afghanistans. Was er außer Patrouille fahren vier, fünf Monate Tag und Nacht genau machen wird, das weiß er selbst noch nicht.
"Wir wissen nur, dass wir halt länger draußen sind als einen Tag. Wir sind im Schnitt zwischen fünf und zehn Tagen draußen."
Und das ausgerechnet in der Zeit nach Ramadan, in der die meisten Anschläge passieren. In ländlichem, gefährlichem Territorium. In dem er und seine Kameraden allein für eine Fahrt ins 200 Kilometer entfernte Camp nach Kunduz 12 Stunden oder länger brauchen. Dass das kein Spaziergang wird, das weiß Martin.
Und er weiß auch, dass er jederzeit abgezogen werden kann zu Einsätzen der taktischen Eingreiftruppe Quick Reaction Force, im Militärjargon kurz QRF genannt. Quick Reaction, das heißt nichts anderes als Kampf. Im Norden, aber auf Anfrage auch im blutigen Süden Afghanistans. Trotz allem: Angst hat Martin nicht.
"Schiss eigentlich eher weniger. Mittlerweile ist es die Freude, dass es endlich losgeht. Ein halbes Jahr und länger Vorbereitung, da hat man irgendwann keine Lust mehr und will nur noch runter."
Jetzt geht er hoch, in sein Zimmer. Das liegt direkt unterm Dach, ist komplett holzvertäfelt. Darin ein Bett, an der Wand ein Kevin Kurany-Shirt. In einem kleinen Regal zwei Harry-Potter Bände, ein paar Donald-Duck-Hefte. Auf einer flachen Kommode: ein Rasierer, Rohlinge, DVD-Hüllen, Fernseher und Laptop.
"Jetzt kann ich Ihnen auch mal so ein Video zeigen."
Martin setzt sich auf die Bettkante, fährt sein Laptop hoch.
"Das war so ein Video über die Straßen, wie die Strecken dort sind, wie die Straßen beschaffen sind."
Doch die Datei ist gelöscht. Noch da ist ein Video, das er sich bei You-Tube runter geladen hat. Eine Schiesserei zwischen deutschen Soldaten und serbischen Freischärlern im Juni 1999 in Prizren.
"Das ist damals mit dem Anschlag auf die deutschen Soldaten gewesen. Beginn Beitrag: Zwei bewaffnete Serben…"
Bei dem selbstmörderischen Gemetzel sterben zwei Zivilisten, ein Bundeswehrsoldat wird verletzt. Martin zuckt mit den Schultern. Kann passieren, sagt er.
"Wenn man jetzt das oberste Haus nimmt, da gehen wir gleich ein Bierchen trinken…"
Jetzt aber will er rüber zu seinem Kumpel Christian. Wie jedes Wochenende ein bisschen Playstation spielen.
"Ja, wollt ihr wat trinken? Kölsch? Frisch gekühlt? (Öffner, Feuerzeug.) Zum Wohl. (Playstation, Musik.)"
Christian ist 21, ein schlaksiger Typ mit einem verschmitzten Grinsen. Auch er wohnt noch bei seinen Eltern. Ebenfalls oben, unterm Dach. Sein Zimmer sieht fast genauso aus wie das von Martin. Nur hat Christian sein Schlafsofa hochgeklappt, damit er besser Playstation spielen kann.
"Na komm. Mal gucken, wen nehmen wir denn. Jetzt geht es ab."
Bevor der Abend klar gemacht wird, wird erst mal eine Runde gezockt. AC Milan gegen Manchester United mit Joystick.
Früher haben beide Freunde draußen auf dem Platz vor Christians Fenster stundenlang selbst gebolzt. Heute sitzen sie lieber hier oben mit der Konsole. Weil Christian am Wochenende oft einfach nur müde von seinem Knochenjob als Straßenbauer ist. Und manchmal hat einer von beiden auch Stress mit einer Freundin.
"Was machen wir heute Abend?"
fragt Martin nach fast einer Stunde. Und Christian druckst rum. Er hat gerade Stress mit seiner Freundin. Lässt Martin deshalb an seinem letzten Abend hängen. Egal, sagt der und fischt sein Handy aus der Tasche. Ruft Alex, einen anderen Kumpel an. Der hat Zeit.
"Ich hol Dich in einer Stunde ab. Sieh zu, dass Du fertig wirst."
Vorher will Martin noch kurz nach Hause, sich duschen und das Auto holen. Christian und er spielen noch schnell ihr Fußballmatch zu Ende, klatschen sich kurz ab - Tschüss sagen wollen beide morgen.
Beim Spaziergang durch den Ort kommt Martin plötzlich auf seinen Vater zu sprechen. Eigentlich steht er hinter der ganzen Afghanistan-Geschichte, sagt er, auch wenn sich das vorhin nicht so angehört hat. Schließlich hat sein Vater ihn überhaupt dazu überredet, Zeitsoldat zu werden. Ein paar Meter vor der eigenen Haustür läuft Martin seinem Nachbarn in die Arme. Der kennt ihn schon sein ganzes Leben.
"Tag Heinrich. Hast Du frei?"
"Heute noch."
"Und morgen?"
"Kaserne. Und Sonntag geht der Flieger."
Der Rentner schüttelt den Kopf, schiebt einen Träger seines Unterhemdes wieder hoch, kommt ein paar Schritte näher. Bleib hier, sagt er leise. Und: Lass die da unten doch machen, was sie wollen.
"Bisschen aufräumen hier…"
Der nächste Morgen. Noch zwei Stunden bis zur Abfahrt, 16 Stunden bis zum Abflug. Martin räumt sein Zimmer auf. Um drei Uhr ist er heute Nacht nach Hause gekommen. Alex und er sind dann doch ziemlich abgestürzt. Martin trägt jetzt Jeans und ein schwarzes T-Shirt mit dem Emblem eines Wodka-Herstellers auf der Brust. Das hat er nachts in der Kneipe nach dem zehnten Mixgetränk gewonnen.
Im geöffneten Fensterrahmen sitzt Christian, guckt Martin beim Aufräumen zu. Bin ganz happy, sagt Martin plötzlich, und zeigt auf seinen Nachttisch. Dort liegt - noch original verpackt - eine Playstation im Miniformat. Gerade noch rechtzeitig mit der Post gekommen. Genau wie die drei Ballerspiele. Gegen die Langeweile im Camp.
Unten, in der Küche, hat sich inzwischen die ganze Familie versammelt. Martins älterer Bruder Maik, er wohnt gleich nebenan. Martins achtjähriger Neffe Phillip, Martins Mutter und Christian. Alle stehen rum, reden belangloses Zeug. Martins Neffe Phillip spielt den Clown, versucht auf Martins Schulter zu steigen. Christian klopft dumme Sprüche dazu. Nur Martins Vater sitzt im Wohnzimmer, guckt Autorennen. Alle paar Minuten steht er auf, geht in den Flur, wo Martins Rucksack steht. Und geht dann wieder zurück zum Fernseher.
"Martin, hier, nicht vergessen. Was macht Ihr denn noch…?"
Werner Wedel ist nervös. Regt sich auf, dass seine Frau bis zur letzten Minute RTL-Serien für Martin aus dem Internet herunter lädt, beide auch deshalb immer noch nicht auf der Autobahn Richtung Kaserne sind. Irgendwie, so scheint es, will er den Abschied endlich hinter sich bringen. Martins Bruder Maik spürt das, macht den Anfang. Geht zwei Schritte auf Martin zu, nimmt ihn einmal fest in den Arm.
"Komm her, pass auf Dich auf…"
Dann schickt er Phillip zu Martin. Der hebt seinen Neffen hoch, drückt auch ihn einmal fest. Phillip wünscht Martin viel Spaß.
"Tschüss Martin, bis in fünf Monaten."
"Tschüss Christian."
"Tschüss Martin, hab' Dich lieb."
"Ich Dich auch."
"Tschüss Martin. (Stöhnen.)"
Rita Wedel ist nicht mehr in der Küche. Abschiede mag sie nicht, sagt sie später. Ein paar Minuten später läuft sie mit einem zerknüllten Tempotaschentuch in der Hand durch den Flur. Auch sie will jetzt los.
"So, hast ja noch was liegen, Martin? Aus dem Auto hast Du alles raus, was Du brauchst?"
"Jou. Wo habe ich denn meine Zigaretten."
Martin packt seinen Rucksack in den Kofferraum, die neue Playstation und ein Päckchen Zigaretten auf den Beifahrersitz. Dann steht auch schon Christian hinter ihm.
"Grüß' Deine Mutter und Deine Frau noch mal. Halt' die Ohren steif."
"Sowieso."
Ein leises "Halt die Ohren steif" bekommt der schlaksige Sprücheklopfer von eben heraus, mehr nicht. Nickt Martin zu, schluckt dabei tief. Dann steigt er, ohne sich noch einmal umzudrehen, auf seinem Motorroller und ist weg. Hinter Martin steht jetzt sein Vater.
"Tschüss, und pass gut auf!"
Vater und Sohn umarmen sich. Kurz, aber fest. Ein Bild, das Martins Mutter nicht oft sieht, sagt sie später. Dann geht alles ganz schnell. Rita Wedel steigt auf der Fahrerseite ein, Martin auf der Beifahrerseite. Im Türrahmen des kleinen Einfamilienhauses steht Martins Vater und winkt.
Auf der Fahrt zur Kaserne ist es im Auto still. Martin lädt sein neues Spielzeug am Zigarettenanzünder auf, spielt fast nur noch. Seine Mutter konzentriert sich aufs Fahren.
"Das ist eigentlich der Tag, vor dem einem am meisten gegraut hat, diese ganzen Abschiede. Ich bin froh, dass ich fahre, dass ich mich konzentrieren muss. Deswegen wollte ich auch alleine fahren."
Später wollen beide noch Essen gehen, in eine Pizzeria in Augustdorf, von wo Martin am nächsten Morgen um sechs der Bus zum Flughafen abholt. Komisch, sagt Rita Wedel plötzlich, eigentlich ist fast alles wie immer. Martin nimmt seinen Rucksack, fährt nach ein paar freien Tagen zurück in die Kaserne. Alles kein Problem, sagt sie. Das Problem ist zu wissen, wo er diesmal hinfährt. Und deshalb ist eben doch nichts wie immer.
*Der Name wurde von der Redaktion geändert.