"Irgendwann muss dieser Wahn doch aufhören"

Von Gesine Dornblüth · 25.09.2013
Die Angeklagten hatten an einem genehmigten Protestmarsch am 6. Mai 2012, dem Abend vor Putins Amtseinführung, teilgenommen. Am Ende schlug die Demonstration in Gewalt um, etwa 80 Polizisten wurden leicht verletzt und es gab mehr als 600 Festnahmen. Seit drei Monaten läuft der Prozess und ein baldiges Ende ist nicht in Sicht.
Das Moskauer Stadtgericht. Auf dem Korridor vor Saal Nr. 635 stehen etwa 40 Menschen in Grüppchen zusammen. Einige tragen weiße Schleifen, Symbol der Protestbewegung. Viele begrüßen sich mit Küsschen. Es sind Angehörige der Angeklagten und Menschenrechtsaktivisten.

Es ist der 35. Verhandlungstag in einem Mammutprozess, der sich seit drei Monaten zieht und vermutlich noch viele Monate dauern wird. Die zwölf Angeklagten sind überwiegend jung: Studenten, Arbeiter, eine Chemikerin. Die meisten sitzen seit mehr als einem Jahr in Haft, ohne Urteil. Schon das ein Skandal. Die Staatsanwaltschaft wirft ihnen vor, sie hätten an "Massenunruhen" teilgenommen.

Am Fenster des Gerichtsflurs steht Vadim Klyuvgant, der einzige Staranwalt unter den Verteidigern. Er vertritt auch Michail Chodorkowskij. Für Klyuvgant ist klar: Die Anklage ist völlig haltlos.

"Die Polizei hat unverhältnismäßige Gewalt angewendet. Die Gewalt ging nicht von den Demonstranten aus, sondern von anderen Umständen."

Polizisten versperrten den Demonstranten damals entgegen allen Absprachen den Weg zur genehmigten Abschlusskundgebung. Vermummte mischten sich unter die Menge und warfen Steine auf Polizisten, um dann unbehelligt in den Reihen der Uniformierten zu verschwinden. Erst dadurch eskalierte die Situation. Das hat eine unabhängige Expertenkommission bestätigt. Von Massenunruhen zu sprechen, ist ihrem Gutachten zufolge maßlos übertrieben. Anwalt Klyuvgant erzählt von seinem Mandanten, Nikolaj Kavkazskij. Bevor er verhaftet wurde, hat er sich unter anderem für Homosexuelle und Behinderte eingesetzt.

"Seine Teilnahme an Massenunruhen soll, vereinfacht gesagt, darin bestehen, dass er zu einer genehmigten Kundgebung kam und dort aus unbekannten Motiven irgendetwas getan hat. Die Anklage konnte aber nicht mal ein Opfer präsentieren. Meinem Mandanten drohen dafür bis zu acht Jahre Haft."

Die Tür zum Gerichtssaal geht auf. Elitesoldaten in schusssicheren Westen beäugen die Zuschauer. Der Saal: Hohe Decken, Leuchter, Mosaikboden. Die zwei winzigen Fenster sind mit Stores verhängt. Die Angeklagten sitzen jeweils zu zweit und zu dritt in Glaskästen. Stella Anton beugt sich über die Balustrade, die den Zuschauerraum begrenzt, und macht ihrem Sohn Zeichen.

"Wir haben in den vergangenen Wochen eine eigene Gebärdensprache entwickelt. Eben hat er mir bedeutet, dass er mein Päckchen bekommen hat. Und dass es ihm gut geht."

Ihr Sohn Denis ist hochgewachsen, 21 Jahre alt, hat selbst in einer Eliteeinheit gedient. Bei der Demonstration am 6. Mai hat er einem Mädchen geholfen, das von Polizisten weggeschleppt wurde. Das sagen seine Verteidiger. Daraufhin wurde er selbst festgenommen und, so seine Aussage, später von den Beamten verprügelt. Seit einem Jahr und drei Monaten sitzt er in Untersuchungshaft. Hinter der getönten Scheibe sieht er blass aus.

"Er beklagt sich nie. Selbst wenn es ihm schlecht geht, sagt er das nicht."

Eine Rentnerin nimmt in der letzten Stuhlreihe Platz und holt ein Sudoku-Heft heraus. Sie bleibt dort bis zum Ende der Verhandlung sitzen. Sie kennt keinen der Angeklagten, aber die jungen Leute tun ihr leid. Es ist ihre Art, Solidarität und Protest auszudrücken.

Einige haben offen und böse gelogen
Im Prozess werden seit Wochen Zeugen der Anklage vernommen: Polizisten. An diesem Tag ist Denis Muchin dran, Angehöriger der Elitetruppe OMON. Er tritt breitbeinig in den Zeugenstand, in ausgewaschenen Jeans und Lederjacke, den Kopf kahl geschoren. Die Staatsanwältin Natalja Kostjuk, eine junge Frau in sehr kurzem Uniformrock, liest die Fragen von einem Laptop ab. Der Zeuge antwortet einsilbig. An Einzelheiten während der Demonstration kann oder will er sich nicht erinnern.
Er habe nur gesehen, dass einer eine Flasche warf. Später sagt er, er wisse nicht mal, ob es eine Flasche war oder ein Stein. Und ob der Gegenstand einen Polizisten getroffen habe, weiß er auch nicht.

Im Saal sitzt Sergej Scharow. Er hat das unabhängige Expertengutachten zu dem Prozess mitorganisiert.

"Ein typischer Polizist. Wir hatten schon schlimmere hier. Einige haben offen und böse gelogen."

Richterin Natalja Nikischina, eine unauffällige, blasse Frau Mitte 40, leitet den Prozess mit weicher Stimme. Sie erteilt jedem der insgesamt zwei Dutzend Angeklagten und Verteidiger das Wort, lässt alle ausreden, macht sogar hier und da einen Scherz. Alles läuft formal korrekt - man könnte fast an einen fairen Prozess glauben. Doch für Anwalt Klyuvgant steht am Ende des Verhandlungstages einmal mehr fest:

"Dies ist die Imitation eines Verfahrens. Es gibt keine Beweise, nur Quasi-Beweise, falsche Geschädigte, falsche Zeugen. Einige geben das offen zu, andere lügen. Zusammenstöße zwischen der Polizei und Demonstranten geschehen heutzutage auf der ganzen Welt. Aber ich weiß keinen Fall, bei dem daraus so ein Strafprozess gemacht wurde."

An einen Freispruch glaubt niemand im Gerichtssaal. Stella Anton, die Mutter des angeklagten Denis, winkt ihrem Sohn zum Abschied noch einmal zu. Sie gibt die Hoffnung dennoch nicht auf:

"Ich hoffe, dass sie freikommen. Dass wir Recht bekommen. Irgendwann muss dieser Wahn doch aufhören."
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