Intimes Kammerspiel

Von Natascha Pflaumbaum · 30.10.2011
Mit "Siegfried" hat die bulgarische Regisseurin Vera Nemirova an der Oper Frankfurt den dritten Teil ihres "Rings des Nibelungen" vorgelegt. Darin zeigt sich ihre Vorliebe für die psychologische Ausleuchtung von Charakteren.
In Frankfurt inszeniert die bulgarische Regisseurin Vera Nemirova Richard Wagners "Ring des Nibelungen". Frankfurts GMD Sebastian Weigle steht am Pult. Am Sonntag hat Nemirova mit "Siegfried" den dritten Teil ihrer Ring-Arbeit vorgelegt, die noch in dieser Spielzeit beendet wird.

Die Welt ist eine Scheibe, zumindest in der bornierten Götterwelt Wotans, in der ja sowieso sehr spezielle Gesetze gelten, zum Beispiel dass man einen besonderen Ring benötigt, um die Macht über die Welt zu haben. Vera Nemirova lässt alle vier Teile der Wagner'schen "Ring"-Tetralogie auf und unter und neben einem bühnenfüllenden Rondell spielen, einer mit Jahresringen gezeichneten Scheibe eines Baumstammes ähnelnd, die so karg und weit ist, dass nichts ablenkt von dem, was ihr wichtig ist: von den Menschen, die sich hier allmählich vernichten. "Der Wanderer" (Terje Stensvold), Siegfried (Lance Ryan), Mime (Peter Marsh) scheinen sich in dieser Weite als Protagonisten eines intimen Kammerspiels einzufinden, in dem die Rede, das Spiel miteinander alles, die Ausstattung eher wenig ist.

Wie groß die Vorliebe der Regisseurin für die psychologische Ausleuchtung von Operncharakteren ist, sieht man am Beispiel "Siegfried" bereits im ersten Aufzug an der Figurenkonstellation Mime/Siegfried. Nemirova zeichnet den verschlagenen Zwerg, der Siegfried großzieht, um an den Ring zu kommen, gegen Wagners Libretto als tölpelhaften "Nerd". Im beschmierten Kapuzenpulli, mit langer dicker Unterhose, Geschirrhandtuch als Schurz und dicker Brille stolpert der Tenor Peter Marsh über die Bühne: sein klarer, heller Tenor ist manchmal so gellend komisch, dass man das Böse an ihm komplett ausblendet.

Siegfried (Lance Ryan) hingegen ist der Held par excellence, ein Held-Prototyp: blonde Mähne, Lederhemd und -hose. Anfangs gibt sich der Heldentenor stimmlich noch ein wenig schroff, passend zur Rolle des Aufsässigen im ersten Aufzug lässt er seine Stimme klein, plump und ruppig. In den beiden folgenden Aufzügen gewinnt er an Größe und lyrischer Ausdruckskraft: Figur und Sänger finden immer mehr zu sich selbst.

Beide Figuren – Mime und Siegfried – würden so, wie sie aussehen, so wie sie singen, nie in ein und derselben Welt aufeinandertreffen. Das ist das Merkmal aller Figuren, die Vera Nemirova in diesem "Siegfried" zeichnet: Stimme und Kostüm machen sie zu Individualisten. Besonders fällt das bei dem Wanderer (Wotan) auf, der – mal dandyhaft in Smokinghose, mal rüpelhaft in schwarzem Ledermantel – passend zum Outfit unterschiedliche Register zieht und jetzt im dritten Teil des Nemirova-"Rings" endlich das Format gewinnt, das diese Figur braucht.

So karg und zeichenhaft reduziert Nemirova auf der Bühne agiert, so groß und opulent setzt Sebastian Weigle seinen Wagner-Klang dagegen. Mit voller Wucht und weit ausschweifender Geste marschiert er durch die Partitur, lässt sie dampfen, strotzen. Seine Forti sind brachial, berauschend, aber nicht grobschlächtig, seine Mezzoforti und wenigen Pianos extrem transparent – mit deutlichem Augenmerk auf die sinntragenden Phrasen im Orchester, die er exakt herausschält und exponiert. Sänger und Orchester finden im Verlauf der Aufführung die richtige Balance. Dass die Oper Frankfurt hier zum Teil auf Rollendebütanten setzt, zeugt wieder einmal von der großen Stimm-Kennerschaft des Intendanten Bernd Loebe. Jochen Schmeckenbecher als Alberich und Meredith Arwady als Erda waren echten Entdeckungen!

Der Frankfurter "Ring" stellt sich auch mit seinem dritten Teil "Siegfried" in die Tradition besten Geschichtenerzählens. Hier wird die "Ring"-Geschichte weder transformiert noch aktualisiert. Hier wird modernes Storytelling propagiert: rätselhaft, lebendig, konstruiert und darum ein sehr sinnliches und intellektuelles Spiel.


"Siegfried" an der Oper Frankfurt