Intime Notizen

Wen gehen Tagebücher etwas an?

Ein Tagebuch des deutschen Wanderpredigers Gustaf Nagel (1874-1952).
Ein Tagebuch © picture-alliance/ dpa / Jens Wolf
Von Kristina Hüttl · 17.10.2016
Biografisches, das gedruckt auf den Markt kommt, ist in der Regel bereinigt. Wie aber ist das mit Tagebüchern, die gar nicht für die Öffentlichkeit gedacht sind, aber irgendwann trotzdem öffentlich werden? Theodor Schmidt macht Lesungen mit Tagebüchern.
"Ich fange an mit dem ersten Eintrag (Räuspern): Du, Tagebuch hast von Irene gehört, als noch mein Herz so einfältig war zu klagen, wenn ein Mensch von mir ging. Irene, Du bist gekommen und hast einen Neuen gefunden. Sieh, vor wenig Wochen noch, hab ich gesucht und habe ich mich an Menschen gehalten…"
Ein wackeliger, niedriger Holztisch mit roter Leselampe, Theodor Schmidt krümmt sich zum Lesen nach unten, sein langer, schmaler Oberkörper wirft einen Schatten auf den Stapel DIN-A4-Seiten. Wort für Wort hat er abgetippt, aus dem handschriftlichen Tagebuch eines 17-jährigen Österreichers. Geschrieben 1919, voll ungestümer Leidenschaft, Selbstmitleid und Hochmut.
Es geht um Naturerlebnisse, der Schreiber wanderte gern, am häufigsten aber um Frauen. Viele Namen fallen: – Irene, Gretel, Friedel und später immer wieder Helga. Helga – seine Königin, wie es im Tagebuch heißt.
"27. Goldmärz 1919: Am 27. habe ich mein Mädel gefunden, so rein und blütenweiß wie ich sie mir nur erträumte. Rein ist einer, der seine Seele vor Gott nicht zu verstecken braucht, so sagt sie mir. Es regt sich etwas in mir, wie eine Lust, ein Umarmenwollen, Leben wollen – die Lüsternheit."

Ein Tagebuchschreiber voller Ideale

Theodor Schmidt hat das private Tagebuch von einem österreichischen Antiquar ersteigert – zusammen mit dem Nachlass des Schreibers, darunter auch das Tagebuch seiner späteren Frau, die nicht Helga sondern Agnes heißt und im Jahr 1940 – also gut 20 Jahre später – ihre Ehe beschreibt. Theodor Schmidt wird heute auch hieraus lesen. 20 bis 30 Zuhörer sind in den Nebenraum einer Berliner Bar gekommen, lauschen der gestelzten, poetischen Sprache des 17-jährigen Tagebuchschreibers, der voller Ideale steckt. Wäre der einverstanden, dass man fast 100 Jahre später seine intimsten Gefühle und Gedanken öffentlich vorträgt?
"Die Intention, wie das Tagebuch geschrieben wurde, war ja ganz klar auf Wirkung geschrieben. Also ich glaube, wenn die Leute über das lachen, was er sagt, würde er es doof finden. Aber er wäre schon ein bisschen geschmeichelt, wenn fast hundert Jahre später Leute kommen um ihn zu hören."
Auf Suche nach unveröffentlichten Tagebüchern, je älter umso besser: Für Theo Schmidt ist das nicht nur ein Hobby, sondern sein Beruf. Der 35-Jährige lebt vom Kauf und Verkauf privater Tagebücher und seinen Lesungen daraus.
Zu Hause im WG-Zimmer steht seine Sammlung: 200 bis300 Stück sind es, am effektivsten sei die Suche im Netz, sagt er.
Nur manchmal läuft er noch über Flohmärkte, wie heute hier über den Antikmarkt am Berliner Ostbahnhof. Nicht nur weil starker Regen einsetzt, rechnet er nicht wirklich mit einem Fund.

Die Perspektive der Ehefrau

Schon früh faszinierten ihn alte Handschriften und Bücher, als Schüler jobbt er in einem Antiquariat. Später studiert er Germanistik und Geschichte. Noch hat er nicht abgeschlossen, seine Zukunft beunruhigt ihn aber nicht.
"Ich mach was und denke, dass irgendwas Gutes raus kommt, also wenn irgendwas was mit Kunst daraus entsteht. Oder was auch mein Traum ist, sie als gedruckte Edition zu veröffentlichen. Und natürlich: Irgendwann einen Roman schreiben."
Ein eigenes Tagebuch schreibt er nur, wenn er auf Reisen ist. Er ist kritisch, findet seinen Ton nicht, sagt er. Er liebt Sprache, manchmal ist es weniger der Inhalt als die Wortgewalt so manchen Tagebuchschreibers, das ihn fasziniert. Wie bei dem 17 Jährigen Österreicher.
Im zweiten Teil nach der Pause erfahren die Zuhörer nun die Perspektive der späteren Ehefrau: Ihre Aufzeichnungen entstanden 1940, 20 Jahre sind vergangen. Im Großdeutschen Reich herrscht Krieg. Ihr Mann, den sie beim Wandern kennenlernte, arbeitet bei Telefunken – macht viele Überstunden, nicht alle verbringt er bei der Arbeit, wie das Publikum von Theodor Schmidt erfährt.
"26.4.1940 – früh um 7 Uhr ging mein Mann weg zum Dienst, küsste und streichelte mich noch – um halb zehn kam der Brief seines Rechtsanwalts. Ich konnte es nicht fassen, dass mein Mann tage-, wochenlang verhältnismäßig gut zu uns allen war, sich um uns kümmerte – ohne ein Wort zu sagen zum Scheidungsanwalt ging..." (lachen)
Das Publikum hört von zahlreichen Affären, dem Scheitern am Ideal der reinen wahren Liebe.
"Nicht alle Tagebuchhelden, die ich präsentiere, gefallen mir vom Charakter her, aber es sind alles interessante Menschen."
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