Interview mit Liao Yiwu

"Ein Kampf zwischen Gut und Böse"

Der chinesische Schriftsteller Liao Yiwu, Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 2012, steht in Berlin im Deutschen Theater nach einer Lesung im Foyer.
Der chinesische Schriftsteller Liao Yiwu wurde 2012 mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet. © picture alliance / dpa
Moderation: Philipp Gessler · 28.09.2014
In dem Buch "Gott ist rot" befasst sich Liao Yiwu mit dem Christentum in China und den damit verbundenen Drangsalierungen durch die Regierung. Im Interview spricht er auch über sein Leben in Berlin und, warum es auch dort "das Paradies und die Hölle" gibt.
Philipp Gessler: Herr Liao, Ihr Buch ist einerseits eine Sammlung von Interviews und Reportagen der Umstände der Interviews. Andererseits eine auch poetische Auseinandersetzung mit sich selbst, auch eine Glaubenssuche, so scheint mir. Sind Sie eigentlich selber Christ?
Liao Yiwu: Ich müsste ehrlich sagen, mein Glaube basiert auf der chinesischen Geschichte. Dieser Glaube stammt aus den Lehren meines Vaters. Er hat mir in meiner Kindheit viele chinesische Klassiker zum Lesen gegeben und erläutert. Deshalb fühle ich mich sehr wohl in der chinesischen Geschichte und Philosophie. Darauf basiert auch mein ganz tiefer Glaube an die chinesische Geschichte.
Gessler: Das heißt, es ist kein christlicher Glaube?
Liao: Richtig, in der Tat. Wie ich einen Glauben oder eine Religion betrachte: Meine Perspektive basiert auf der Geschichte, in der menschlichen Zivilisation, wie sich die Geschichte entwickelt. Aus dieser Perspektive betrachte ich die Religion.
Gessler: Haben denn die Interviews mit den Christen, die Sie in China geführt haben, die meist ein sehr schweres Schicksal ja hatten, Ihren eigenen Glauben gestärkt?
Liao: In der Tat, mein Interesse beruht eigentlich auf der Frage: Wie ist das Christentum nach China gekommen? Es geht um den Ursprung dieses Geschehens – und seine Entwicklung. Wie hat sich das in den vergangenen Jahrhunderten entwickelt? Es geht um die uralten Menschen, die von diesen uralten Geschichten erzählen. Und darum, wie diese Religon im heutigen China aussieht. Dazu kommen die individuellen Schicksale. Diese vier Aspekte haben meinen Glauben gegenüber der Geschichte verstärkt.
"Es gibt das Paradies und die Hölle"
Gessler: Glaube gegenüber der Geschichte – können Sie das noch einmal erläutern?
Liao: Nur wenn ich die Geschichte besser verstehe, auch die Geschichte der Religion, habe ich einen tieferen Einblick in die Religion. So habe ich beispielsweise durch all diese Interviews die jungen Missionare in uralten Zeiten kennen gelernt, die damals nach China gegangen sind – über weite und sehr schwierige Wege: Über Berge sind sie beim Miau-Stamm gelandet. Dieser Stamm glaubt eigentlich eher an Gespenster oder Götter. Damals, als die Missionare kamen, wütete bei diesem Stamm die Pest. Deshalb haben die Missionare auch mit ihren westlichen Medikamenten diese Pest bekämpft und den dortigen Menschen beigebracht, wie man mit Tieren umzugehen hat: Menschen müssen auf der einen Seite leben, Tiere auf einer anderen, man muss auf die Hygiene achten. Sie haben Toiletten gebracht und andere hygienische Anlagen.
Und nach und nach haben die Missionare den Menschen dann auch beigebracht, wie man betet, um diesen innerlichen Glauben zu verstärken. Nach und nach haben die Missionare das dortige Leben verbessert und langsam die Religion auch ins Leben der Menschen gebracht. Ich finde, das ist eine sehr interessante Art und Weise, wie eine Religion Fuß fassen kann in einer ganz fremden Kultur.
Gessler: Jetzt sind wir hier in Berlin in einer Stadt, die als sehr säkular gilt, mit wenig Religion. Das ist ein großer Kontrast zu dem Buch, zu den Interviews, die Sie beschreiben. Kommt Ihnen diese Welt in Berlin seltsam vor hier in Berlin?
Liao: Ja, Sie haben recht, die Stadt Berlin ist auch zu spüren, aber wenn Sie so wie ich oftmals Spaziergänge auf dem Friedhof machen würden, dann würden Sie diese Aussage über die Stadt Berlin korrigieren. In allen Welten gibt es lebendige und tote Menschen, es gibt das Paradies und die Hölle. In unserer Welt gibt es immer zwei Seiten. Ich wohne nicht weit vom Olympiastadion, da gibt es einen wunderschönen Friedhof. Nicht nur ich, auch andere Menschen machen Spaziergänge auf diesem Friedhof. Da gibt es absolut eine ganz enge Verbindung zur Religion, das spürt man. Außerdem ist Berlin eine Stadt mit einer schwierigen, interessanten und lebendigen Geschichte. Das passt mir einfach. Was wir gerade besprochen haben: Bei all diesen Themen - Geschichte und Religion - ist Berlin sehr gut vertreten.
Gessler: Wenn man Ihr Buch liest, hat man auch den Eindruck, dass die Staatsführung in Peking fast Angst hat vor den Christen, dass sie auch deshalb den Christen das Leben in China so schwer macht.
Liao: Sie haben vollkommen recht: Es sind diese Ängste, die zu beobachten sind, und zwar schon seit 1950. Da sind viele Missonare vertrieben worden. Damals fing die chinesische Kommunistische Partei überall an, Gehirnwäsche als Machtmittel einzusetzen. Sie haben damals auch viele Missonare erschossen. Das war ein ganz langer Prozess, der sich nicht nur gegen die Christen, sondern auch gegen die Buddhisten wandte: Religion, das ist der Feind des chinesischen, atheistischen Regimes. Deshalb müssen sie gegen alle Religionen kämpfen.
Für die chinesische KP ist die Religion absolut die Bedrohung. Bis heute hat sich das nicht verändert. In meinen Augen sind die besten Waffen gegen Diktatoren die Religion und die Freiheit. Sie können das auch beobachten: Heutzutage gibt es sehr viele Versammlungen von Untergrund-, Haus- und Familien-Christen. Das ist eine ganz milde und stille Bewegung. Aber jeder von denen hat ein Verhalten, das bedeutet: Wir kooperieren nicht mit dem Regime. Allein das Verhalten bestärkt den Widerstand gegen das Regime. Solange die Anhänger der Christen zunehmen, so denke ich, wird es langfristig für die chinesische KP zu einem politischen Vakuum führen.
Vor der Zahl der Christen hat die KP keine Angst
Gessler: Offiziell gibt es in China ungefähr 19 Millionen Christen, doch Schätzungen gehen davon aus, dass es bis zu 80 Millionen oder sogar noch mehr sein könnten, auch im Untergrund. Können diese Christen, wie Sie es angedeutet haben, die Gesellschaft verändern – oder verändern sie sie bereits?
Liao: Klar, diese Statistiken: 19 Millionen oder gar 80 Millionen Christen in China, das mag beeindruckend sein, aber in der historischen Perspektive liegt auch der Grund für meine Buch. Wie ist diese Buch zustande gekommen? Da möchte ich Ihnen den Doktor Sun vorstellen, den habe ich kennen gelernt. Diese Person hat mir unglaubliche Geschichten erzählt. Er hat mir gesagt, über zehn Jahre lang habe er in den Bergen, tief in den Bergen einen medizinischen Beruf ausgeübt. Er hat verschiedene medizinische Stationen gegründet, ganz allein. Wenn man sieht, was er alles gemacht hat, würde man denken, er ist ein Arzt. Aber nein, was er genau ausgeübt hat, das ist eigentlich ein Torpedieren der chinesischen KP, dieses Regimes.
Er hat zum Beispiel eine Augen-Operation und eine Operation gegen Brustkrebs gemacht. In den Bergen, auf der Straße, im Dorf hat er Patienten operiert. Das sind für mich wirklich unglaubliche Geschichten. Also sein Einfluss ist nicht zu messen. Deshalb denke ich: Auch wenn das Christentum viele Anhänger hat und alle Menschen in China Christen werden – davor hätte die chinesische KP keine Angst, nicht vor dieser Zahl von Menschen, sondern vor den ganz außergewöhnlichen Persönlichkeiten unter diesen Christen, davor sollte die chinesische KP wirklich Angst haben, etwa vor diesem Doktor Sun.
Schicksale, die mit Jesus vergleichbar sind
Gessler: Sie beschreiben ja seine unglaublichen Operationen: Krebsoperationen und eine Amputation unter härtesten, einfachsten Bedingungen. Das heißt, die Wirkung der Christen liegt in den Persönlichkeiten, die Sie auch im Widerstand gegen die KP entwickelt haben.
Liao: So meine ich das auch: Allein die Geschichten in der Bibel weiter zu erzählen und zu verbreiten oder auch religiöse Lieder zu singen – das wäre zu einfach, um eine Gesellschaft zu verändern. Lesen Sie meine Buch, und dann lernen Sie all diese Figuren, diese Persönlichkeiten kennen, dann werden Sie feststellen: Sie haben eine Biografie, ein Schicksal, das fast vergleichbar mit Jesus ist. Das ist außergewöhnlich. Für mich ist es wichtig, dieses Stück der Geschichte, die christliche Geschichte in China zu dokumentieren. Das sind Persönlichkeiten, nicht nur Jesus oder gar Gott, sondern auch viele Märtyrer, die auf dem Weg zu Religion wirklich viel Leid erleiden mussten. Da findet man viele schöne, außergewöhnliche Geschichten und Schicksale. Ich denke, nur so können gesellschaftliche Veränderungen stattfinden. In der Tat haben meine Freunde mir gesagt, mein Buch „Gott ist rot" rangiere auf Platz 1 auf dem Untergrund-Buchmarkt in China.
Gessler: Sie sprechen in Ihrem Buch von der chinesischen Führung auch als Satan – und von Christen, die dem Herrn folgen. Ist dieser Kampf der Christen mit dem Staat auch ein Kampf zwischen Gut und Böse?
Liao: Das ist nicht so, wie ich die Geschichten von vielen verschiedenen Persönlichkeiten betrachten möchte, sondern sie haben mir erzählt von ihren Geschichten. Es ist tatsächlich ein Kampf zwischen Gut und Böse. Nehmen wir als Beispiel diese uralte Nonne Zhang Yinxian. In meinem Buch ist sie 101 Jahre alt, inzwischen ist sie 107 Jahre. Sie wurde als Waise groß gezogen von Missionaren. In den Fünfziger Jahren wurden diese Missionare vertrieben. Aber diese Nonne wusste sehr genau, wieviel Vermögen ihre Kirche eigentlich besaß, bevor die chinesische KP kam. Als die Nonne ungefähr 70 Jahre alt war, hat sie eine andere Nonne, die über 90 Jahre alt war, auf den Rücken gepackt und ist zu einer lokalen Behörde gegangen. Sie haben einen Hungerstreik begonnen, den sie 28 Tage durchgehalten haben. Und das in den Achtziger Jahren! Da würde man heute sagen: Das ist ein Wunder! Es ist ein absolutes Wunder, was diese zwei alten Frauen gemacht haben – das heißt: Was haben sie eigentlich gemacht? Sie haben nichts gemacht. Sie haben nur ihre Wut aufrecht erhalten, eine ganz gesunde Wut.
Also: Was die chinesische KP versucht, ist zu sagen: Religion gehört zu uns, in unser politisches System. Das kriegen sie aber so nicht hin. In meinen Augen kann die Religion viele Probleme lösen. Zum Beispiel allein durch diese Art und Weise zu sagen: Wir kooperieren nicht mit euch, mit dem Regime, mit der Politik! Und das beobachte ich auch beim Dalai Lama oder Karmapa: Auch sie folgen diesem Weg: Null Gewalt, und wir kooperieren nicht mit diesem Regime!
Westliche Kaufleute haben Interessen wie vor 100 Jahren
Gessler: Sie haben ja auch während Ihrer Friedenspreisrede in der Paulskirche in Frankfurt durchaus Ihre Wut darüber geäußert, dass unter anderem auch die deutsche Regierung jetzt wieder kooperiert mit der chinesischen Regierung, aus wirtschaftlichen Gründen. Ist diese Wut immer noch da, nachdem die Kooperation der deutschen Regierung mit dem Regime in China wegen der Wirtschaft doch immer weiter geht?
Liao: Was die Wirtschaftsentwicklung angeht, ist China ein reiches Land, das ist wohl wahr. Aber wir wissen doch alle, wie China reich geworden ist. Wir wissen, dass die Chinesen bereit sind, ihre Umwelt verschmutzen zu lassen. Immerhin, sie haben viele Dividende sammeln können. Was für mich wichtig ist, und die Aufgabe, die ich für mich immer noch im Auge habe: Die westlichen Kaufleute gehen heute nach China und wollen ihren Profit machen. Das war genauso vor 100 Jahren. Auch damals kamen Menschen aus dem Westen nach China. Aber damals haben sie nicht an den Profit gedacht, sondern sie sind gekommen, haben Toiletten repariert, haben kranke Menschen geheilt. Das kam aus dem Westen! Wenn wir diese Geschichte vor Augen haben, fragen wir: Was sind eigentlich ihre guten Absichten – und was sind ihre bösen Absichten? Beides kommt aus dem Westen.
Wenn Sie mich fragen, was hat mein Buch heute zu bedeuten, so müssen wir auch den Westen fragen: Ihr könnt eigentlich beides. Wenn die Menschen aus dem Westen heute genauso handeln würde wie vor 100 Jahren! Heute haben sich die materiellen Bedingungen in China stark verbessert. Man leidet heute nicht mehr so materiell wie vor 100 Jahren. Wenn die Menschen aus dem Westen heute noch nach China kommen würden, ohne nach Profit zu fragen, sondern nach dem guten Willen, da wäre eine ganz andere Geschichte in China passiert. Was mich neulich sehr irritiert hat, war das, was in dem Sender Deutsche Welle passiert ist: Der Journalist Frank Sieren hat nach seiner Definition das Massaker von 1989 neu interpretiert, ganz nach seinen eigenen, persönlichen Empfindungen. Das beängstigt mich sehr!
Ich denke, dass das letzte saubere Land in Sachen Medien Deutschland ist. Es sind Waffen, die Politiker und Wirtschaftsbosse zu kritisieren oder zur Rechenschaft zu ziehen. Ich meine, jedermann hat die Wahl: Nach China kann jeder kommen – aber was will man da, in China? Eines Tages wird man das in den Geschichtsbüchern lesen können. Dafür ist auch mein Buch da. Der Westen bietet der Welt wunderbare Dinge und eine wunderbare Religion, aber auch ein sehr schmutziges Geschäft. Das ist nun mal wahr.
Gessler: Wenn man Ihr Buch liest, hat mein den Eindruck, dass Sie kaum mehr Hoffnung haben, jemals nach China zurückkehren zu können, weil Sie mit dem Buch ja auch die möglichen Brücken verbrennen hinter sich. Ist dieser Eindruck richtig?
Liao: Eigentlich bin ich gar nicht so verzweifelt. Ich betrachte das nicht so, dass ich wirklich alle Brücken hinter mir schon verbrannt hätte. Ich meine und ich habe auch die Hoffnung, dass eines Tages die chinesische KP vertrieben wird. Und dieses riesige Reich wird auseinander brechen. Klar, solange die chinesische KP im Zentrum Chinas bleibt, werde ich nicht zurückkehren können. Aber ich habe doch noch die Hoffnung, dass ich eines Tages zur Sichuan-Nation kommen kann, meiner Heimat. Man nennt Sichuan zwar eine Provinz, aber ich wünsche mir sehr, dass diese Provinz dann eines Tages eine Nation wird.
Und ich hoffe auch, dass alle Orte, wo ich meine Interviews geführt habe – dass auch diese Orte eines Tages unabhängig werden von diesem Riesen-Reich. Und wissen Sie: Wenn ich ein paar Tage unterwegs war und kam endlich in die tiefen Berge, dann sah ich viele Bauern auf den Feldern. Und die hießen Paul oder Peter oder Jakob! Da denke ich: Wo bin ich denn hier?! Da habe ich den Eindruck: Die Samen der Religion sind längst aus uralten Zeiten hier. Und sie sind aufgeblüht. Ein solches Dorf zu erleben ist für mich eine Unabhängigkeit, im wahrsten Sinne des Wortes.
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