Intersexuelle im Talmud

Transgender gab es schon immer

 Ein Buch mit hebräischen Schriftzeichen in einer Talmud-Hochschule.
Der Talmud kennt nicht nur zwei Geschlechterrollen. © Tobias Felber / dpa
Ulrike Offenberg im Gespräch mit Gerald Beyrodt · 18.01.2019
Mann oder Frau, Ja oder Nein, Sekt oder Selters: Wir sind es gewohnt, zwischen zwei Möglichkeiten zu wählen - und klar in männlich oder weiblich einzuteilen. Doch schon der Talmud kennt gleich mehrere Bezeichnungen für Menschen, die biologisch dazwischen stehen.
Gerald Beyrodt: Ulrike Offenberg ist Rabbinerin in Hameln und hält häufig Vorträge zu Gender-Themen. Ich habe mich vor der Sendung mit ihr unterhalten. Frau Rabbinerin, wie häufig ist denn im Talmud von Menschen die Rede, die biologisch zwischen Mann und Frau stehen?
Ulrike Offenberg: Oh. Mehrere hundert Mal. Und zwar in unterschiedlicher Differenzierung. Also man unterscheidet natürlich nach Mann und Frau im klassischen Sinn (lacht), aber dann gibt es auch Menschen, die äußerlich beide Geschlechtsmerkmale aufweisen. Das ist ein so genannter Androgynos. Und es gibt welche, deren Geschlechtsmerkmale, die sekundären Geschlechtsmerkmale, nicht eindeutig sind. Das ist ein so genannter Tumtum. Man wusste sehr genau, dass es auch noch etwas jenseits gibt außer unserer dualistischen Struktur von Mann und Frau eindeutig.
Beyrodt: Das ist ja erst einmal eine Sache, die erstaunt. Der Talmud ist eine ziemlich alte Literatur, Spätantike, in den Jahrhunderten nach der Zeitrechnung geschrieben, bis zum 7., 8. Jahrhundert. Ich wüsste beispielsweise nicht, dass sich Thomas von Aquin sich jemals mit solchen Fragen beschäftigt hat. Wie kann man das erklären, dass der Talmud sich damit beschäftigt?

Der Körper spielt im Judentum eine andere Rolle

Offenberg: Ja, sogar noch viel frühere Schriften. Der früheste Teil des Talmuds, die Mischna, die etwa um 200 schon verschriftet wurde, dort wird eine Diskussion darüber geführt, über solche Menschen, deren Zuordnung nicht eindeutig ist. Dann wird auch gesagt nach dem Motto "Ich will Otto heißen", wenn dieser Mensch Mann und Frau zugleich ist, dann antwortet die Mischna: "Gut, dann soll er Otto heißen, weil das gibt es."
Und warum haben sich die Rabbiner so ausführlich damit beschäftigt? Zum einen, weil der Körper im Judentum eine andere Rolle spielt, Körperfunktionen, und weil für Jungs geklärt werden muss, ob ein Baby am achten Tag beschnitten werden kann und was man denn da beschneidet. Das sind Dinge, die sind eigentlich aus unserem Bewusstsein bis vor 15, 20 Jahren völlig verschwunden gewesen, zumindest hier in der westlichen Welt, weil diese Entscheidung, was soll es denn sein, ein Junge oder ein Mädchen sehr oft schon von Chirurgen sehr früh nach der Geburt getroffen wurde. Und dann wurden schon Babys und Kleinkinder mehrfach operiert, um ihnen eine eindeutige Zuordnung zu geben. Mit dem Problem, dass dann später oft die Menschen sagten: "Sie haben mich zum falschen Geschlecht operiert, ich bin aber innerlich, sagen wir, eine Frau."
Beyrodt: Man muss natürlich sagen, diese chirurgischen Möglichkeiten gab es zu Zeiten des Talmuds so nicht. Wir haben gesagt: Es gibt diverse Geschlechter im Talmud. Er erkennt das an. Es wird häufig genannt. Was fangen die Rabbinen denn an mit diesen diversen Geschlechtern? Was sollen die Menschen tun?
Offenberg: Ja, da läuft es dann doch wieder darauf hinaus, dass diese Menschen sich in ihrer sozialen Rolle einem der beiden Geschlechter zuordnen. Sie haben es angesprochen: Die medizinischen Möglichkeiten waren gar nicht da, Operationen vorzunehmen. Also konnte man Dinge nur durch Kleidung kaschieren oder durch Kleidung Dinge ausdrücken. Es wurde eher erwartet, dass man sich als Mann verhält und kleidet.
Denn die Aufgabe einer Frau war es ja vornehmlich, Ehefrau und Mutter zu sein. Und das heißt: Jemand, der nicht zeugungs- oder gebärfähig ist, hat es schwierig, eine Rolle als Frau zu finden, ohne Kinder. Als Mann hingegen stehen da doch noch mehr Optionen zur Verfügung. Zum Beispiel, indem jemand studiert und sonst als sehr frommer Mensch gilt, regelmäßig zum Beten geht, und all diese Dinge einhält.

Für viele scheint es sinnvoller als Mann zu leben

Beyrodt: Wir wollten eigentlich über das Dritte Geschlecht reden, aber man merkt an dieser Stelle: Das kann man gar nicht tun, ohne über die traditionellen Geschlechterrollen zu sprechen. Welche Rollen gesteht der Talmud denn Männern und Frauen zu?
Offenberg: Man muss vielleicht vorher schicken, dass das Verhältnis zwischen Menschen und Gott im Sinne von bestimmten Pflichten und Aufgaben definiert wird. Also, man dient Gott nicht alleine durch bestimmte Glaubensaussagen und bestimmte rituelle Handlungen, sondern das ganze Leben steht unter der Überschrift: Du sollst heilig sein. Und dazu gehören verschiedene Körperfunktionen dann eben auch. Natürlich, biologisch bedingt, für Frauen das Kinderkriegen. Und für Frauen sind dann viele Gebote aufgehoben oder nicht zwingend gemacht, nämlich diese, die an eine bestimmte Zeit gebunden sind.
Beyrodt: Zum Gottesdienst gehen, so etwas?
Offenberg: Zum Beispiel zum Gottesdienst gehen, bestimmte Segenssprüche zu einer bestimmten Zeit sagen. Das hat sich meistens ausgewirkt auf das rituelle Leben, dass Frauen im religiösen Raum nicht so sichtbar sind. Es gibt einige wenige, wo sie dann doch angehalten werden, zum Bespiel, zum Schabbat die Lichter zu zünden. Sie sind auch auf alle Verbote verpflichtet. Aber Männer sollen eben alle zeitgebundenen Gebote einhalten. Dieser Unterschied wird gemacht, wie Frauen mit Kindern, besonders mit kleinen Kindern, eben nicht alles stehen und liegen lassen können, um zu irgend einer zeitgebundenen religiösen Pflicht zu eilen.
Deshalb hat man gesagt, wir wollen nicht, dass Frauen automatisch Sünderinnen werden, indem sie zerrissen werden zwischen ihren Pflichten als religiöser Mensch und als Mutter. Darum wurden sie befreit. Daraus hat sich später entwickelt, dass Frauen das gar nicht machen sollen. Das ist aber eine Frage der patriarchalischen Geschlechterzuordnung. Männer können alle diese zeitgebundenen Dinge tun. Deshalb wäre es für einen Menschen, der zeugungsfähig oder gebärfähig ist, sinnvoller, sozial als Mann zu leben.

Intersexualität ist kein moderner Spleen

Beyrodt: Jetzt geht der Talmud auf eine bestimmte Weise um mit dem dritten Geschlecht, haben wir gesagt, oder mit Menschen, die dazwischen liegen. Er sagt: einem der beiden Geschlechter zuordnen und am liebsten sollen sie Männer sein. Es hörte sich erst mal so progressiv an: 'Es wird anerkannt, dass es etwas Drittes gibt.' Ist es denn dann noch so furchtbar progressiv, wenn die Intersexuellen am Ende doch zu Männern und Frauen gemacht werden?
Offenberg: Zum einen würde ich sagen: Es ist kein jüdisches Spezifikum, dass Menschen Schwierigkeiten haben mit Uneindeutigkeiten. Das wird jeder von uns sagen können: Wir sind verunsichert, wenn wir einem Menschen gegenüberstehen und wir nicht in Zehntel-Sekundenschnelle einordnen können, der ist so und so oder die ist so und so. Also, da waren die Rabbiner des Talmuds nicht anders und haben sich deshalb um diese Zuordnungen bemüht.
Was Transgender-Leute heute damit anfangen können, ist, dass sie zumindest sagen können: Seht mal, das gab es alles. Das ist keine neue Erfindung, kein moderner westlicher Spleen, nur der ewigen Identitätssuche (geschuldet), nur Verfolgung des eigenen Egos und Perfektionierung des Egos, sondern: Das hat es schon immer gegeben. Und es gab schon immer ein Bewusstsein dafür. Die Frage natürlich, und da muss man dann in die Jetzt-Zeit springen und neue Antworten finden, die Frage ist, wie wir damit umgehen, dass die Biologie ganz offensichtlich vorsieht, dass nicht alles schwarz oder weiß ist, sondern auch alle möglichen Schattierungen dazwischen.

Gesellschaftliche Akzeptanz ist ein langsamer Prozess

Beyrodt: Von Transgender-Menschen verlangt man ja eigentlich ein Schwarz oder Weiß. Jemand, von dem man erst mal sagt, biologisch eine Frau, muss dann auch biologisch zum Mann werden, um es sich im Personalausweis eintragen lassen zu können. Sehen Sie da mehr Chancen, mit der Uneindeutigkeit zu leben?
Offenberg: Ja. Ich denke, das wird schon mehr staatsbürgerliche Freiheiten diesen Menschen ermöglichen. Zum Beispiel, dass sie bei einer Passkontrolle nicht immer sich stundenlang erklären müssen, wenn da ein männlicher Name im Pass steht, aber vor den Grenzsoldaten steht eine Frau. Das, denke ich, wird schon Dinge erleichtern. Aber die Frage der gesellschaftlichen Akzeptanz ist ein sehr, sehr langsamer Prozess.
Diese Unsicherheiten, die Transgender-Leute erfahren, das sind ja auch dieselben Unsicherheiten, die wir in der Diskussion des Verhältnisses von Männern und Frauen haben und die Frage überhaupt von Geschlechtergleichberechtigung. Weil in dem Moment, wo traditionelle Geschlechterrollen aufgelöst werden, tritt eine Verunsicherung ein: Was ist meine neue Rolle jetzt? Was wird von mir erwartet? Rollen geben ja Stabilität und Sicherheit. Man weiß, wo man sich einzuordnen hat. Und das ist eine Herausforderung für die gesamte Gesellschaft. Und zwar nicht nur mit Blick auf Leute, die Transgender sind, sondern auch für das Verhältnis von Männern und Frauen. Das erleben wir in den ganzen Diskussionen immer wieder: Wer bleibt zu Hause mit den Kindern? Und die Unterschiede in der Bezahlung zwischen Männern und Frauen und so.
Beyrodt: Mehr als nur Männer und Frauen - der Talmud kennt auch Intersexuelle. Rabbinerin Ulrike Offenberg aus Hameln war das.
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