Digitale Spaßguerilla oder Hacker mit Moral?
Das Hacker-Kollektiv Anonymous hat inzwischen eine bewegte Geschichte hinter sich, die Reihe der angegriffenen Gegner reicht von Großkonzernen über den Islamischen Staat bis hin zu Donald Trump. Kai Adler gibt einen Überblick.
"Am 13. November 2015 um 22 Uhr kam es in Paris zu mehreren Anschlägen. Die Terrororganisation ISIS hat sich zu diesen Attentaten bekannt. Das darf nicht ungestraft bleiben."
Ein Video der Netzaktivisten von Anonymous, veröffentlicht auf verschiedenen online-Kanälen kurz nach den Anschlägen von Paris.
"Anonymous wird euch, die arme Unschuldige töten, jagen. Rechnet mit massiven Gegenmaßnahmen. Wir werden euch finden und eine große Operation gegen euch starten. Erwartet zahlreiche Hacker-Angriffe."
In der Folge hackte Anonymous diverse Webseiten des sogenannten Islamischen Staates, sie griffen auf Konten der Islamisten zu und veröffentlichten Namen von dem IS nahestehenden Personen. In einem achtstufigen Plan, so kündigte Anonymous an, wolle man die Terroristen "auslöschen".
Der Anon redet, bleibt aber anonym
Anonymous versus IS? Über die sozialen Netzwerke gelingt ein Kontakt zu den Hacktivisten. Der Anon - so nennen sich die Aktivisten - kommt aus Hamburg. Er erklärt sich zu einem Interview bereit, möchte aber unerkannt bleiben.
"Im Rahmen von OP ISIS sind viele hingegangen, haben die Twitteraccounts gemeldet, so dass sie geschlossen werden, haben andere Propaganda-Outlets auf sozialen Netzwerken versucht zu verhindern. Oder haben Seiten versucht, lahm zu legen, dass eine gewisse Zeit die Propaganda nicht nach außen fließen kann, so dass die Außenkanäle gestört werden. Aber aus einer Sicht auf den Islamischen Staat oder Daesh, wie wir ihn nennen, ist natürlich der Krieger, der ein Sturmgewehr besitzt und in dem Gebiet, das sie beanspruchen, unterwegs ist, dem ist das völlig egal, ob da irgendein Twitter Account nicht funktioniert."
Auch US-amerikanische Aktivisten hatten die Operation "Freeze ISIS" kritisiert. Ein Ableger der Gruppe schreibt im Netz:
"Dadurch gerät Anonymous in den Ruf, die Interessen der US-Regierung zu vertreten. Dieselben Institutionen, die ihre eigenen NSA Hacker gegen den IS ansetzen, nutzen ihre Agenten, um die Bürger zu bespitzeln, ohne das Recht auf Privatsphäre zu beachten. Anonymous stand schon immer auf ihrer Liste und wenn sie uns nicht gerade diskreditieren oder inhaftieren wollen, möchten sie nun mit uns kooperieren."
Hat sich eine Gruppe abgespalten?
Es gibt Berichte, dass sich eine Gruppe von Anonymous abgespalten habe und nun mit den Sicherheitsdiensten zusammenarbeite.
"Dear citizens of the world. We are Anonymous. Let's get one thing perfectly clear."
Unterdessen tauchte im März ein weiteres Video unter dem Anonymous-Logo auf.
"Lieber Donald Trump. Wir haben Sie beobachtet. Und was wir dort sehen, ist wirklich beunruhigend."
Es folgt ein Zusammenschnitt verschiedener Fernsehauftritte Trumps, in denen sich der republikanische Anwärter frauenfeindlich, rassistisch und behindertenfeindlich - kurz menschenverachtend - äußert.
"Ihre ständigen Hasskampagnen haben nicht nur die US-amerikanische Öffentlichkeit, sondern Menschen weltweit schockiert. Sie sprechen aus, was ihr Publikum hören will, dabei stehen Sie selbst für nichts außer ihrer eigenen Machtgier. Dies ist ein Aufruf an alle Freiheitskämpfer und Hacktivisten der Welt. Lasst uns unsere Freiheit und unseren Lebensstil verteidigen! Wir wollen Trumps Webseiten lahm legen, wir wollen Dinge über ihn herausfinden, die er uns nicht wissen lassen will. Wir wollen ihn schädigen und gemeinsam gegen seine Kampagne vorgehen."
Trumps Webseite wurde nicht lahmgelegt
So der Aufruf per Videobotschaft. Doch entgegen dieser Ankündigung hat Anonymous Trumps Webseite nicht lahm gelegt, das Kollektiv will zwar private Daten sowie den Zugang zu dessen Mobiltelefon gehackt haben, doch ist dies kein Vergleich zu der martialischen Ankündigung des "totalen Krieges", wie er gegen Trump formuliert wurde.
Möglicherweise ist der Plan auch aufgrund interner Differenzen der Hacker gescheitert. Allerdings waren in der Vergangenheit Politiker durchaus Angriffsziele der Anonymous-Aktivisten. So zum Beispiel der rechtsradikale Populist und Holocaust-Leugner Hal Turner. Aber auch die NSA, Teile der US-Regierung, Banken und Großkonzerne hatte Anonymous zu seinen Gegnern deklariert.
"They call themselves Anonymous, they are hackers on steroids, treating real life like a video game. Sacking websites, invading myspace accounts, disrupting innocent people's lifes. And if you fight back, watch out!"
Fox News hatte die Gruppe als "Hacker auf Steroiden" bezeichnet und sie gar in die Nähe des Terrorismus gestellt. Andere hingegen betrachten Anonymous als die "good guys" - und das nicht erst seit ihrer Kampfansage gegen den IS.
"Menschen dieser Welt, gestattet, dass ich mich euch vorstelle als Anonymous, denn ich bin nichts als eine Idee. Die Idee einer freien Welt, frei von Unterdrückung. Frei von Mord durch die Hand der Tyrannen. Frei von Hoffnungslosigkeit und Völkermord. Eine Welt, in der der Sinn des Lebens ist, frei zu leben, ohne die Einschränkungen eines korrupten Systems."
Es gibt keine Struktur und keine Satzung
Anonymous ist kein Verein, keine Organisation, es gibt keine Struktur und weder Mitglieder noch eine Satzung. Vielmehr verhält es sich mit dem Kollektiv wie mit einer Chimäre, einem Etwas, das, sobald es Kontur gewinnt, wieder die Gestalt wechselt. Es begann in den 2000er Jahren.
"Zu der Zeit gab es auf den Imageboards so eine Underground Culture, die ihren Spaß daraus zog, einfach Unfug zu machen, online. Und daraus, dass man dort frei, ohne irgendwelche Einschränkungen diskutieren konnte und vor allem im Umgang mit Medien, dem Remixen von Bildern, von Musik und von Video, über das man kommuniziert hat. (...) Alle Usernamen, die damals benutzt wurden, waren einfach Anonymous. Und im Mittelpunkt der Kommunikation stand das Bild und nicht das gesprochen Wort."
2003 gründet der damals 15-jährige Amerikaner Christopher Poole das Imageboard 4chan: Ein anarchisches, für jeden Internetuser frei zur Verfügung stehendes Forum, auf dem jeder posten kann, was er will, und wo alles zu finden ist: Manga-Bildchen, Origami- und Katzenfotos, vor allem aber jede Menge Pornos und Abstoßendes jeglicher Art.
"Es wurde hauptsächlich über Bilder kommuniziert. Über Bilder, die sich dann - wenn sie Anklang fanden - zu ganzen Mems herausbildeten, die dann im Bild mehr Bedeutung hatten als das Bild, das man darauf sehen konnte, oder der Text, der darauf stand. Dieser spielerische Umgang mit Medien, mit Remix und auch diese grenzenlosen Möglichkeiten, die man hier in der Kommunikation hatte, war eigentlich eine der Hauptfaszinationen."
Der Begriff Mem stammt von dem Biologen Richard Dawkins. Er ist Teil einer Art kulturellen Evolutionstheorie, nach der sich Ideen, Theorien, Konzepte von Kopf zu Kopf gewissermaßen fortpflanzen. Gedanken, die sich bei diesem Vorgang als besonders widerstandsfähig erweisen, entwickeln sich zu Mems, werden weiter getragen, verändert, fortentwickelt. So kann ein Witz, aber auch der Marienkult, als Mem bezeichnet werden, ebenso wie die Idee von der Freiheit und Gleichheit des Menschen.
Kein Anspruch auf Urheberschaft bei Ideen
Zunächst aber bewegen sich - in einem unzensierten Netz - Ideen jeglicher Art anarchisch und gleichwertig durch den digitalen Raum. Nur der User selektiert, indem er sie aufgreift oder verwirft. Das alles geschieht ohne Anspruch auf Urheberschaft.
"Es gab diese Kultur des freien Teilens von kreativem Output - ohne dass "Credits" verlangt wurden, ohne dass Ideen als Eigentum betrachtet wurden oder etwas kontrolliert wurde. Als Anonymous 4chan verließ, blieb dieser Ethos erhalten."
Gabriella Coleman, Professorin an der kanadischen McGill Universität, forscht seit Jahren über digitale Protestkulturen und gilt als Kennerin des Anonymous-Kollektivs.
"Der einzige Ethos, den es bei Anonymous gibt, ist der, dass bei allen Beiträgen, die geleistet werden, nicht die eigene Person im Vordergrund stehen darf. Niemand darf sich durch seine Beiträge persönlich profilieren. Das wird sehr ernst genommen. Ich finde das sehr interessant und erfrischend in einer Zeit, die dem Personenkult in der Art huldigt, wie wir es tun."
Anonymität ist Teil der Internetkultur, aus der Anonymous stammt. Sie schützt die Netzbewohner, als diese das Imageboard verlassen und zu politischen Akteuren werden.
Das geschieht zum ersten Mal im Frühjahr 2008, als ein Video der Psychosekte Scientology im Netz auftaucht. Darin äußert sich ihr Aushängeschild, der Schauspieler Tom Cruise, über sein Selbstverständnis als Scientologe. Er gibt dabei eine merkwürdige Figur ab und wirkt geradezu größenwahnsinnig und verrückt.
Schon kurz nach seinem Erscheinen wird das Video auf Intervention von Scientology aus dem Netz verbannt - aus Urheberrechtsgründen, so wird argumentiert.
Ein Scientology-Video als Urknall
Ein Fall von Zensur hingegen finden die User. Die Geburtsstunde von Anonymous. Der US-Amerikaner Gregg Housh, Hacker, Internetfachmann und Onlineaktivist, ist seit den Anfängen dabei.
"Wir waren eine kleine Gruppe von acht Leuten, die daran arbeitete, dieses urkomische Tom Cruise-Video überall im Netz hochzuladen, wo es möglich war. Damit brachen wir kein Gesetz, wir luden es nur immer wieder hoch. Dann sagte irgendjemand, hey, die Presse möchte wissen, warum wir das machen, vielleicht sollten wir eine Erklärung rausschicken. Also machten wir das, in Form eines Videos, das wir "Nachricht an Scientology" nannten."
"Hello leaders of Scientology, we are Anonymous. Over the years we have been watching you. Your campaign of misinformation, your suppression of dissent, your litigious nature. All of this has caught our eye with the leakage of your latest propaganda video into mainstream circulation …"
"Wir sind Anonymous, wir sind viele. Wir vergeben nicht, wir vergessen nicht. Erwartet uns."
So unterzeichnet das Kollektiv bis heute seine Videobotschaften. Darunter ein Signet, das dem UN-Logo nachempfunden ist. In dessen Zentrum ein Anzugmann ohne Kopf – Zeichen für eine Gemeinschaft ohne Führerschaft. Unter diesem Logo legen die Aktivisten 2008 die Webseite der Scientology-Sekte lahm: Durch massenhafte Aufrufe von deren Homepage, so dass diese aus Überlastung zusammenbricht.
Digitale Sitzblockaden sind strafbar
Distribution Denial of Service, kurz DDOS, ist kein Hacking, sondern eine Art digitale Sitzblockade. Deren Auswirkungen gehen in einer vernetzten Welt jedoch oft über das eigentliche Angriffsziel hinaus. DDOS-Attacken sind strafbar - jedoch mit je nach Land variierendem Strafmaß.
Neben dem Protest online geht es damals das erste Mal raus auf die Straße, um gemeinsam gegen Scientology zu protestieren. Als Anonymous.
"Die Zeit war einfach reif, dass diese Online-Gesellschaft, die bisher eben online Dinge getan hat, sich auch mal in die reale Welt ergießt. Nach draußen. IRL, wie es so schön heißt."
Um sich vor der aggressiven Verfolgung seitens Scientology zu schützen, tragen die Aktivisten die hämische, weiße Grinsemaske des Guy Fawkes, einer Figur aus dem britischen Comic V for Vandetta. Der Freiheitskämpfer, der im Comic gegen ein autoritäres, faschistisches System ankämpft, hat ein Vorbild aus der realen Historie: Der katholische Widerstandskämpfer Guy Fawkes hatte im 16. Jahrhundert einen Anschlag auf den britischen König verübt.
Heute steht die Guy Fawkes-Maske für den globalen Protest schlechthin, sie wurde von Occupy Wallstreet ebenso verwendet wie von Demonstranten des Tahrir-Platzes. Und sie steht für eine ganze Reihe digitaler Protestaktionen: Dem Aufdecken politischer und illegaler Machenschaften durch das Veröffentlichen von Chatprotokollen, dem "Defacen" von Webseiten, indem mittels Hacking andere Inhalte auf fremde Seiten geladen werden, und einer ganzen Serie von DDOS-Blockaden.
Einzelpersonen sind ebenso betroffen wie Regierungen, Institutionen oder Firmen. Die Bank of America, Sony, Paypal, private Sicherheitsdienste, Nachrichtensender werden in den vergangenen Jahren zur Zielscheibe von Anonymous. Meist trifft es die Mächtigen, doch für oder gegen wen oder was sich Anonymous als nächstes engagiert, ist nicht vorhersehbar.
"Der Feind ist derjenige, den es heute trifft. Oft sind es die anderen Anons. Oder eben diejenigen, die Anonymous heute erzürnt haben. Oder in dieser Woche oder diesem Monat. Kommt drauf an, wie groß ein solcher Kampf ist."
"Diese vier Bestandteile müssen stimmen: Es muss das richtige Thema sein, es muss einen schon guten Plan geben, es muss ‘nen hohen Spaßfaktor haben und es muss ne gute Gelegenheit sein."
Solidarität mit Wikileaks
Aus Solidarität mit Wikileaks beteiligt sich 2010 die junge Journalistikstudentin Mercedes Haefer von ihrem Rechner in Las Vegas aus an einem DDOS-Angriff gegen die digitalen Bezahlservice Paypal, Visa, Mastercard und andere.
"Um die hundert Leute waren im Chat und jemand kam dazu und sagte, dass gerade alle Kanäle zu Wikileaks blockiert wurden. Man konnte nicht mehr spenden. Weder über die Bank of America, noch über Visa, Mastercard, Western Union, Paypal - nichts. Also schlug irgendjemand vor, dass wir eine Operation starten und schauen, was wir da machen können."
Weil Paypal und andere Bezahldienste keine Spenden mehr an die Enthüllungsplattform Wikileaks ermöglichen, schicken Anonymous-Aktivisten ihren Servern massenhaft Anfragen und legen sie so mehrere Tage lang lahm. Operation Payback, Vergeltung, nennen sie die Aktion.
Akteure und Sympathisanten kommen aus allen Teilen der Gesellschaft. Der Netzaktivist Gregg Housh:
"Der typische Hacker ist der 14-Jährige, der im elterlichen Keller wohnt und es ist die 63 Jahre alte Großmutter und alles dazwischen. Typisch gibt es in dem Zusammenhang nicht. Während der Operation Payback, als sich zeigte, wie Wikileaks behandelt wurde, befand sich unter den über 60.000 Leuten, die im Internet die Protestwerkzeuge von Anonymous nutzten, wirklich jede Altersgruppe. Wir bekamen viele Emails und den Namen nach und der Art und Weise zufolge, wie sich diese Leute äußerten, konnte man Rückschlüsse auf die Herkunft schließen. Es waren eine Menge Rentner darunter."
"Hallo Anonymous, willkommen zum Programm 'Grundlagen des Protests'. Ziel ist es, den größten Spaß unter Einsatz des geringsten Risikos zu erzielen. Denk dran, wenn du beim ersten Mal nicht erfolgreich bist, hast du verloren. Lasst uns nun beginnen."
Technische Vorkenntnisse sind nicht nötig
Um sich an einer sogenannten DDOS-Attacke zu beteiligen, bedarf es keiner technischen Vorkenntnisse. Anonymous bietet im Netz Tutorials für verschiedene Protestformen an.
Für ihre Beteiligung an der DDOS-Attacke wird die damals 20jährige Mercedes Haefer als eine von insgesamt 14 Akteuren verklagt. Für eine "digitale Sitzblockade", wie ihr Anwalt damals betont. Anonymous-Kennerin Gabriella Coleman sieht das differenzierter.
"Ich denke, es ist nicht grundlegend falsch, dass DDOS-Attacken illegal sind. Denn sie können sehr destruktiv sein und auch kleinere Organisationen zerstören. Aber die Strafen sind in den USA zu hoch. Sie lassen den Vertrag zwischen Staat und Bürger, das Recht des Bürgers auf zivilen Ungehorsam, außer acht."
Die Payback-Akteure erfuhren damals Sympathien seitens einer breiten Öffentlichkeit. Doch seither habe sich Anonymous verändert, erzählt Mercedes Haefer.
"2010, 2011 gab es einen ethischen Code, der durch sozialen Druck entstand. Wenn jemand im Forum vorschlug 'Lasst uns Fox News angreifen', würde jemand anderes sagen 'Wir werden nicht gegen die amerikanische Verfassung, den Artikel, der uns Redefreiheit garantiert, verstoßen und du solltest von hier verschwinden!' Oder jemand wollte mit uns gegen irgendjemanden in seiner Schule vorgehen, dann sagten wir ihm, dass wir keine Privatarmee sind. Diese Regeln entstanden im sozialen Miteinander. Es gab eine Ethik. Aber mit LULZsec ist das anders geworden. Die haben die Namen von Unschuldigen veröffentlicht oder Kreditkarteninfos gehackt. Einfach, um Chaos zu schaffen, um Mist zu bauen."
Unter anderem hackt die Splittergruppe LULZsec Weihnachten 2011 den privaten US-amerikanischen Nachrichtendienst Strategic Forward, kurz Stratfor. Die Hacker legen das zum Teil dubiose Vorgehen der von Kritikern als "Schatten-CIA" bezeichneten Strategieanalysten auf. Sie veröffentlichen Millionen von Emails und Kreditkartennummern von Kunden. Dies ist möglich, weil ausgerechnet die private Sicherheitsfirma, die vor allem für die US-Regierung arbeitet, die Daten unverschlüsselt auf ihrem Server lagert. Ein peinliches Leck.
Fünf Jahre Haft für einen Hack
Zu diesem Zeitpunkt hat der US-Geheimdienst bereits einen Informanten bei Anonymous und verhaftet in Folge den Hauptverantwortlichen des Stratfor-Hacks, Jeremy Hammond sowie den Journalisten Barrett Brown, der seit Jahren dem Anonymous-Kollektiv nahesteht. Im vergangenen Jahr verurteilte ein US-Gericht Brown zu fünf Jahren Haft und einer Geldstrafe von 890.000 Dollar. Gabriella Coleman:
"Er teilte einen Link auf einem Chatkanal. Der Link beinhaltete gestohlene Kreditkarteninformationen. Dieser Link war öffentlich zugänglich, viele haben ihn geteilt. Trotzdem spielte die Tatsache, dass er ihn geteilt hat, in seine Haftstrafe hinein. Er musste eine hohe Strafsumme an eine Firma zahlen, die von Hackern gehackt wurde, nicht von ihm. Barrett hat lediglich mit den Hackern zusammen gearbeitet, um an Informationen zu gelangen. Warum muss er dafür eine Strafe zahlen? Obwohl er nicht hackte? Das kann ich nicht verstehen."
Intellektuelle, Journalisten, Mitstreiter protestieren und sehen in dem Urteil einen Rückschlag für die Presse- und Meinungsfreiheit in den USA. Regeln eines legalen digitalen Protestes seien oft nur vage formuliert, sagt Gabriella Coleman.
Neubauer lehnt DDOS-Angriffe ab
Der Chemnitzer Netzaktivist Christian Neubauer ist in vielen Internetprojekten aktiv, er macht sich für Bürgerrechte im digitalen Raum stark, ist Mitglied der Piraten-Partei und setzt sich für den Zugang zu einem freien, unzensierten Netz für alle Bürger ein. Teil von Anonymous war er nie, weil er die Vorgehensweise der Gruppe wie etwa die DDOS-Attacken ablehnt. Und doch gibt es für Christian Neubauer durchaus Situationen, in denen auch Hacking ethisch vertretbar ist.
"Wir haben ja auch Menschen geholfen, Dokumente zu veröffentlichen, die nicht zur Veröffentlichung gedacht waren. Unter anderem die Protokolle von Bluecode, dieser Firma, die entgegen diverser Embargos Filtertechnologie an Regime verkauft hat, die das gar nicht hätten kriegen dürfen, die das aber abgestritten haben. Aber einzelne von uns konnten das auch nachweisen, was passiert ist und konnten die Geräte ausfindig machen und was die genau tun. Das gehört für mich zum politischen Handeln natürlich dazu und ist immer rechtlich gesehen ein dünnes Eis. Da setzt man sich immer der Gefahr aus, dass man etwas Widerrechtliches tut."
"We have seen surveillance machines made in the west then sold to the east. We have seen dictators killing people in the south while being supported by the governments of the north …"
Zusammen mit seinem Mitstreiter Stephan Urbach wirkte Christian Neubauer als Teil des Internetkollektivs Telecomix von Deutschland aus aktiv an den Geschehnissen rund um den arabischen Frühling mit. Als Reaktion auf die Proteste seiner Landsleute schaltet im Januar 2011 der damalige ägyptische Präsident Mubarak das Netz in Ägypten ab.
Von Berlin aus sorgen die beiden Hacker dafür, dass die Ägypter wieder Zugang zum Internet bekommen und Informationen innerhalb Ägyptens wieder ausgetauscht und nach außen gelangen können. Stephan Urbach:
"Da haben wir dann Modemserver gebaut und haben die weltweit verteilt und haben die Nummern nach Ägypten gefaxt. Und so wurden wir plötzlich bekannt, international als Gruppe. Und als es dann in Syrien losging, wurden wir von Syrern kontaktiert. Das ist vom Geheimdienst stark überwacht. Wenn Menschen was gepostet haben in Syrien sind die danach verschwunden. Und das Problem musste irgendwie gelöst werden und da haben wir technische Hilfestellung gegeben dazu. (...) Wir haben Software gebaut, dass Menschen vom Geheimdienst unentdeckt kommunizieren konnten. Mehr kann ich dazu nicht sagen, weil das ist zum Teil noch in Benutzung."
Tag und Nacht kommen Bilder aus Syrien
Tag und Nacht nahmen Stephan Urbach und seine Mitstreiter Filme und Berichte der Aufständischen in Syrien entgegen. Bevor sie diese auf diversen online-Kanälen veröffentlichen, entfernen sie Metadaten daraus, um die Urheber zu schützen.
"Haben da für Öffentlichkeit gesorgt, indem wir den Flaschenhals gespielt haben, wo das durchkam, ohne dass der Geheimdienst davon mitbekam. Und haben uns aber alles wirklich angucken müssen. Es wurde halt immer schlimmer, es wurde immer härterer Tobak. Bis hin zu Erschießungen. Wo Panzer in die Menge reinfahren."
Informationen und vor allem Bilder, an deren Brutalität er fast zerbrochen wäre. Über seine Zeit bei Telecomix hat Stephan Urbach jüngst ein Buch geschrieben: "Neustart" handelt auch von seiner Depression, die sich durch seine erschöpfende Arbeit als Aktivist einstellte.
Doch Urbach und die Akteure rund um die Telecomix sehen diese Aufklärungsarbeit als moralisch notwendige Aufgabe.
"We have seen incredible sights of cruelty. We have seen unprecedented bravery. Sometimes we got very scared. At times even angry. But we always try to remain true to the principles of daily life …"
Ursprünglich war Telecomix gegründet worden, um sich im Europaparlament für Bürgerrechte im digitalen Raum stark zu machen. Durch Zufall entstehen Kontakte zu arabischen Bürgerrechtlern.
Auch Anonymous zählt damals zu den Unterstützern der Aufständischen in Tunesien und Ägypten. Doch trotz manch personeller Überschneidung, möchten sich Stephan Urbach und Christian Neubauer von Anonymous distanzieren. Aus moralischen Gründen.
"Ich finde Proteste dann ethisch vertretbar, wenn sie ganz klar eine politische Forderung beinhalten. Aber nur so auf Freiheit, finde ich ein bisschen schwierig."
"Die Distanzierung zu Anonymous beruht auf der Tatsache, dass Anonymous mit Mitteln vorgeht wie den sogenannten DDOS Attacken, die viele Menschen und auch ich als gewaltsame Angriffe betrachten."
Richtig und falsch, legal und illegal
Anonymous-Aktivist Gregg Housh:
"Was meine Moral ist? Ich glaube nicht, dass richtig und falsch synonym sind für legal und illegal. Das meint komplett verschiedene Dinge. Du kannst absolut moralisch handeln und gleichzeitig das Gesetz brechen. Und du kannst absolut legal handeln und im moralischen Sinne ein Verbrechen begehen. Recht und Moral haben nichts miteinander zu tun."
Wie werden Recht und Moral im Netz definiert? Welche Regeln gelten für Protestformen in der digitalen Welt? Wem steht das Internet wie zur Verfügung? Und wer hat die Kontrolle über das Netz und damit nicht nur über unsere digitalen Lebensräume? Diese Fragen gehen nicht nur eine Gruppe technisch versierter Computernerds etwas an.
"Gibt es einen demokratischen, freien Raum im Netz? Eine schwierige Frage. Durch die Snowden-Dokumente wissen wir, dass sie so ziemlich alles ausspionieren können."
"Wenn du eine Facebook-Seite hast und dort etwas postest, machst du von deiner Redefreiheit Gebrauch. Das Problem ist, dass deine Äußerung nun Facebook gehört. Dasselbe gilt für Twitter, Myspace, Instagram, Redid. Du hast das unterschrieben und es ist ihr Server. Die Frage ist nun, was zählt mehr: Deine individuelle Meinungsfreiheit oder das Eigentumsrecht dieser Konzerne? Ist das wichtiger als deine Meinungsfreiheit? Das ist eine riesige ethische Frage, die diese Generation beantworten muss: Wollen wir, dass Konzerne alles, was wir sagen, besitzen?"
Mercedes Haefer sagt, sie sei derzeit zu erschöpft vom Internetaktivismus, um sich weiter zu engagieren. Ihr Landsmann, Gregg Housh, hingegen ist bis heute auf vielfältige Weise aktiv, setzt sich für Aufklärung zu online-Themen ein und betreibt die kritische Plattform Rebelnews.com.
"Ich habe das letzte Jahrzehnt über so viel Zeit mit Internetaktivismus zugebracht - es hat wirklich mein Leben bestimmt. Ich stehe voll dahinter, aber ich kann nicht wirklich Geld damit verdienen. Also musste ich auch Jobs annehmen, die nichts mit meinen Idealen zu tun haben."
Auch Hacker müssen Geld verdienen
Um Geld zu verdienen unterschrieb Housh inzwischen einen Buchvertrag bei Amazon. Für die Serie "House of Cards" beriet er Drehbuchautoren bei der Entwicklung der Hackerfigur Gavin. Dabei sei viel eigene Erfahrung eingeflossen, so erzählt Housh. Ist Anonymous nun also vermarktet, vom System absorbiert und somit überflüssig geworden? Was ist heute, was ist in Zukunft von dem Kollektiv, das keines ist, zu erwarten? Dazu Gabriella Coleman und Anonymous Hamburg:
"Im Vergleich zu den großen Kampagnen, die es zwischen 2011 und 2013 in Nordamerika und Westeuropa gab, ist es hier inzwischen ruhiger geworden. Aber im internationalen Kontext trifft das gar nicht zu. Eine der interessantesten Kampagnen ist die Kampagne Green Rights, die jetzt seit vier Jahren läuft. Da gibt es ständige Aktionen gegen multinationale Konzerne, die gehackt werden und gegen die DDOS Attacken laufen. Gegen Monsanto zum Beispiel. Oder japanische Firmen, die wegen des dortigen Walfanges attackiert werden. Aber Umweltaktivismus erhält kaum mediale Aufmerksamkeit."
"Anonymous kam als Internetschlägertruppe von den Imageboards, und hat sich aber in Deutschland so entwickelt, dass man sich um die Bürgerrechte und vor allem um die Bürgerrechte im Internet kümmert. Also dass man sich gegen die Vorratsdatenspeicherung stellt, dass man sich für Netzneutralität einsetzt, dass man sich allgemein für Verschlüsselung und andere Dinge einsetzt, die einfach für die freie Meinungsäußerung im Netz stehen. Man kann schon sagen: Hier ist doch ein tolles Thema für Euch. Aber es gibt keine moralische Verpflichtung von Anonymous, wirklich für das alles einzutreten. Wenn die keine Lust haben, dann tun die das nicht. (…) Man kann nicht wissen, was Anonymous als nächstes tut."