Internetdiskussionen

Hier spricht nicht das Volk!

04:41 Minuten
Verschiedene Smartphones mit zersprungenen Bildschirmen liegen auf einer weißen Fläche.
Shitstorms geben eher nicht die Meinung der schweigenden Mehrheit wieder, meint der Kommunikationswissenschaftler Wolfgang Schweiger. © Getty Images / Smith Collection / Gado
Ein Standpunkt von Wolfgang Schweiger  · 04.11.2020
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Soziale Medien - ein guter Raum für rationale, egalitäre Kommunikation. So weit die Theorie. In der Praxis dagegen kommen dort keineswegs alle Meinungen zu Wort, sondern vor allem die mittelalter, durchschnittlich gebildeter Männer, so Wolfgang Schweiger.
Wer sich Diskussionen im Netz ansieht, stellt fest, sie weisen immer wieder ähnliche Muster auf. So wird ein Medienartikel zum Bauprojekt "Stuttgart 21" auf Facebook folgendermaßen diskutiert:
Nutzer 1: "Die Bundesbahn kommt mit Ihren Bauvorhaben nicht vorwärts, aber in einen einzigen Bahnhof werden 10 Milliarden reingesteckt!"
Nutzer 2: "Noch nie so ein Schwachsinn gelesen."
Nutzer 3: "Ihr Kommentar trifft genau und die Profiteure füllen sich die Taschen."
Was lernen wir daraus? Nutzer 1 kritisiert die Bahn, weiß aber nicht, dass sie schon lange nicht mehr Bundesbahn heißt. Nutzer 2 findet das irgendwie unsinnig. Nutzer 3 beklagt irgendwelche Profiteure.
Ein typisches Beispiel für Diskussionen im Netz, das zwei fundamentale Missverständnisse illustriert. Das erste Missverständnis besagt, dass sich soziale Medien für egalitäre und rationale Diskussionen eignen, ganz so, wie es Jürgen Habermas in seiner Diskurstheorie fordert. Wir sollten diese Hoffnung begraben – und zwar aus mehreren Gründen.

Fehlende Mimik und Gestik enthemmt

Je mehr Menschen sich an einer unmoderierten Diskussion beteiligen, die einander nicht kennen, desto schwieriger wird es – vor allem im Netz. Dort reden oft Hunderte von Menschen mit. Sie wissen auch nicht, wie die anderen aussehen, wie sie sprechen – mit Ironie in der Stimme oder Zornesröte im Gesicht oder ob sie gerade frustriert oder betrunken sind.
Dieses Fehlen "sozioemotionaler Hinweise" enthemmt Kommentarschreiber – und kann sie anstacheln. Denn sie sehen nicht, wie ihre Äußerungen bei den anderen ankommen. Keiner verzieht das Gesicht, keiner runzelt die Stirn, keiner verlässt den Raum. Das kann dazu verleiten, möglichst provokativ in die gesichtslose Runde zu schreien. Treffend stellt der Wissenschaftsjournalist Ranga Yogeshwar fest: "Die Menschen sind nicht härter geworden, sondern die Umgebung ist lauter geworden. Dann neigen Leute dazu, sich anzuschreien, obwohl sie das eigentlich gar nicht wollen."

Im Netz kommunizieren meist Gleichgesinnte

Zudem finden die meisten Netzdiskussionen zwischen Gleichgesinnten statt. Sie schaukeln sich in ihrem Schimpfen und Hassen gegenseitig auf. Dieser Echokammer-Effekt gilt nicht nur für Veganer und Tierschützer, sondern auch für Verschwörungstheoretiker, Reichsbürger oder Nazis. Deren Gruppennorm besteht zudem darin, politische Eliten und Sündenböcke zu verachten. Das verstärkt die Bereitschaft der Gruppenmitglieder zu Hasstiraden, auch wenn sie eigentlich friedliche Menschen sind.
Habermas fordert, dass im Diskurs alle Meinungen zu Wort kommen. Wer aber diskutiert im Netz? Studien zeigen: Es sind überwiegend Männer, nicht mehr ganz jung, eher durchschnittlich gebildet. Eindeutig unterrepräsentiert sind Frauen. Gerade sie wollen sich das oft gruselige Diskussionsniveau nicht antun oder haben Angst vor Beleidigungen und Bedrohungen. Wenn Sie sich also wundern, warum im Netz bei Diskussionen zum Tempolimit auf Autobahnen oder zum Umgang mit Flüchtlingen konservative Meinungen dominieren – dann liegt das auch an der soziodemografischen Zusammensetzung der Diskussionsrunden.

Soziale Medien eignen sich nicht für echte Diskurse

Damit sind wir beim zweiten Missverständnis: dem Glauben, dass Äußerungen auf Facebook oder Twitter die öffentliche Meinung repräsentieren. Es ist unsinnig, die allgemeine Stimmungslage im Land von den sozialen Medien ableiten zu wollen. Denn wie gesagt sind bestimmte Gruppen über- bzw. unterpräsentiert. Zudem ist die Stimmung unterschiedlich, je nachdem, auf welche Plattformen, Medien oder Gruppen man blickt. Und schließlich ist das Netz viel zu riesig und unzugänglich, um alle Meinungen einzufangen.
Die sozialen Medien sind großartige Kommunikations-Infrastrukturen. Wer aber glaubt, man könne dort echte demokratische Diskurse führen, ist fahrlässig naiv. Vorsätzlich naiv ist, wer glaubt, man könne aus Meinungsäußerungen im Netz die öffentliche Meinung ablesen.

Wolfgang Schweiger wurde 1968 in München geboren. Er ist Kommunikationswissenschaftler und leitet den Lehrstuhl für interaktive Medien- und Onlinekommunikation an der Universität Hohenheim in Stuttgart. Er lehrt, forscht und publiziert zu Netz-Öffentlichkeiten, zum Vertrauen in Journalismus und zu Kommunikationswirkungen. Zuletzt erschienen die Bücher "Der (des)informierte Bürger im Netz. Wie soziale Medien die Meinungsbildung verändern" (2017) und "Algorithmisch personalisierte Nachrichtenkanäle – Nutzung und Wirkung" (2019, beide Springer-Verlag).

Porträt des Kommunikationswissenschaftlers Wolfgang Schweiger.
© privat
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