Internet

Das Gift der Anonymität

Von Vera Linß · 17.03.2014
Mit dem Internet wurde Anonymität ein Massenphänomen, Pseudonyme sind im Netz allgegenwärtig. Doch zu viel Anonymität ist auch nicht gut, sie ist "toxisch", meint Ingrid Brodnig. Mit ihrem Buch hat die IT-Journalistin eine schonungslose Analyse vorgelegt.
Jean-Jacques Rousseau beschrieb die Anonymität als "Werk der Finsternis". Er selbst hatte erlebt, welche Macht sie auf die Psyche ausüben kann: Als sein philosophischer Gegenspieler Voltaire ihn in der Öffentlichkeit inkognito attackierte, stürzte dieser Angriff aus der namenlosen Dunkelheit den Philosophen Rousseau in den "Abgrund". Anders als im 18. Jahrhundert ist anonymes Publizieren heute zu einem Massenphänomen geworden. Millionenfach schreiben sich Internetnutzer täglich ihr Innerstes von der Seele – viele zielgerichtet unter Pseudonym oder gleich ganz ohne Namen.
Das ist nicht nur quantitativ eine neue Dimension. Im digitalen Zeitalter droht das Prinzip der Namenlosigkeit das gesellschaftliche Klima zur vergiften, denn – so das Fazit der Wiener IT-Journalistin Ingrid Brodnig in ihrem Buch "Der unsichtbare Mensch" –: Anonymität wird im Netz zu einem "radikalerem Konzept" als in der Offline-Welt. Online treten Menschen enthemmten und aggressiver auf, da sie sich unsichtbar fühlen; Kontrollmechanismen wie das direkte Feedback des Gegenübers oder der Augenkontakt in der Face-to-Face-Kommunikation entfallen.
Beschimpfungen kann niemand abprallen lassen
Die zahlreichen Beispiele, die in diesem wichtigen und aufrüttelnden Buch angeführt werden, stimmen bedenklich. Da ist die Niederländerin Tinkebell, die wegen einer – zugegeben provokanten – Kunstaktion mit hunderttausend abschätzigen Mails überflutet wird, darunter regelrechte Hassmails, aus denen Brodnig zitiert. Oder eine junge Südkoreanerin, die zur Zielscheibe eines rasenden Internet-Mobs wurde, weil ihr Hund einen Haufen in der U-Bahn gemacht hatte – und Frauchen sich weigerte, den Dreck zu entfernen.
Doch nicht nur diese spektakulären Einzelfälle belasten den öffentlichen Austausch. Auch ganz "normale" beleidigende Postings, wie sie vermutlicher jeder schon mal gelesen hat, sei es in Diskussionsforen oder in Kommentarspalten von Blogs und Onlinezeitungen, verfehlen ihre Wirkung nicht, wie Ingrid Brodnig anhand von verschiedenen Studien belegt: Wer nämlich glaubt, man könne Beschimpfungen oder negative Unterstellungen an sich abprallen lassen, der irrt. Der so genannte "nasty effect" – der "fiese Effekt" – bewirkt, dass sich die Fronten innerhalb kürzester Zeit verhärten, einzig und allein aufgrund der Wortwahl, unabhängig von den konkreten Argumenten.
Grundrecht auf freie Meinungsäußerung
Zuviel Anonymität ist "toxisch“, zitiert die Journalistin den "Wired"-Herausgeber Kevin Kelly und nach ihrer überzeugenden Analyse kann man dem nur zustimmen. Doch abschaffen will Ingrid Brodnig Anonymität nicht. Zu wichtig ist ihr das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung, und dafür muss man manchmal eben auch seinen Namen verschweigen dürfen.
Stattdessen sollten Foren stärker kontrolliert und besser moderiert sowie wertvolle Beiträge belohnt werden. Aber auch der Staat müsse die Bürger vor Mobbing und Verleumdung im Netz schützen, meint Brodnig: wichtige Vorschläge, die als Einstieg genommen werden können in eine längst überfällige Diskussion.

Ingrid Brodnig: Der unsichtbare Mensch
Wie die Anonymität im Internet unsere Gesellschaft verändert

Czernin Verlag, Wien2014
176 Seiten, 18,90 Euro