Internationale Politik

Wo ist die Wahrheit?

Der russische Präsident Wladimir Putin während einer Pressekonferenz in Sankt Petersburg
Die russische Regierung hat den internationalen Untersuchungsbericht zum Abschuss von MH 17 als "voreingenommen und politisch motiviert" abgelehnt. © afp / Alexander Nemenov
Von Matthias Küntzel · 17.10.2016
Die ungeschminkte Lüge hat sich als Mittel der Politik etabliert, stellt der Politikwissenschaftler Matthias Küntzel fest. Mit Blick auf das Verhalten von Wladimir Putin und Donald Trump fragt er sich, ob es Wahrheit überhaupt noch gibt.
Erinnern Sie sich an den Abschuss des Passagierflugs MH 17 über der Ostukraine im Juli 2014? Damals wurden fast 300 Menschen getötet, unter ihnen 200 Niederländer. Wer hatte das Flugzeug abgeschossen? Die Ukraine, erklärte Moskau. Die von Russland unterstützten Separatisten, konterte Kiew. Zwei Jahre lang hat ein von den Niederlanden angeführtes Ermittler-Team akribisch recherchiert und kam jetzt zu dem Schluss, dass die Boeing 777 von einer russische Boden-Luft-Rakete getroffen wurde und dass diese Rakete von einem Feld abgeschossen wurde, das pro-russische Separatisten kontrollierten.
Moskau aber fegte das Ergebnis dieser Untersuchung blitzschnell und pauschal vom Tisch. Das internationale Ermittler-Team sei "voreingenommen und politisch motiviert". Es habe sich sein Wunschergebnis aus den Fingern gesaugt, erklärte eine Sprecherin der russischen Regierung noch am Tag der Veröffentlichung des Berichts.

Willkür ersetzt Vernunft

Nur auf den ersten Blick ist rätselhaft, warum eine Großmacht wie Russland den Fehler einzelner Separatisten, die den Flug MH 17 wohl mit einem ukrainischen Militärflug verwechselt hatten, nicht verurteilt, sondern deckt. Doch wir haben es beim System Putin nicht mit den üblichen Flunkereien zu tun, wie wir sie von Politikern allerorts kennen. Was Moskau in solchen Fällen betreibt, ist die Neuerfindung der Welt. Wird der Faktenscheck erst mal verworfen, gilt fortan die Losung des Führerstaats: Was wahr ist, bestimme ich! So wird die Vernunft durch Willkür ersetzt. Irren ist menschlich, doch auf dem Irrtum zu bestehen, ist teuflisch - das wusste bereits Cicero.
Auch in den USA steht die Lüge derzeit hoch im Kurs. "Ob wahr oder unwahr – Hauptsache die Show läuft" – so lautet das Motto von Donald Trump, der es im amerikanischen Präsidentschafts-Wahlkampf weit gebracht hat. Nahezu täglich weisen ihm Faktenchecker gleich mehrere faustdicke Unwahrheiten nach.

Tatsachen leugnen ist plötzlich akzeptabel

Gleichwohl wird der Demagoge von Millionen, die ihm blind vertrauen, verehrt. Die TV-Sender spielen mit: Der Kandidat wird wegen seines Umgangs mit der Wahrheit nicht ins Kreuzverhör genommen, sondern als Quotenbringer hofiert. So fördern die Medien hinter der Fassade der Meinungsfreiheit das autoritäre Herrschaftsmodell.
Wahrheit oder gar Wahrhaftigkeit – das sind Worte und Werte, die heute aus der Zeit gefallen zu sein scheinen. Gibt es überhaupt Wahrheit? Selbstverständlich, erklärt der Philosoph Max Horkheimer: "Wahrheit ist Übereinstimmung von Sprache und Wirklichkeit." Rationale Diskurse setzten das Bemühen voraus, Sprache und Wirklichkeit in Übereinstimmung zu bringen. Nichts anderes machte das Ermittlungsteam in den Niederlanden, als es versuchte, die Wahrheit über die Absturzursache zu ergründen.

Protest gegen Moskau nur aus den Niederlanden

Moskaus Reaktion auf den Untersuchungsbericht zeigt, dass eine im Europarat vertretene Regierung Tatsachen leugnet, um Verbrechen zu vertuschen und Verschwörungen zu konstruieren. Es erstaunt, dass die anderen Europäer - auch Berlin! - dies akzeptieren. Allein die Regierung der Niederlande scherte aus. Sie bestellte den russischen Botschafter ein und erklärte ihm, dass Russlands Antwort auf den Untersuchungsbericht "inakzeptabel" sei. Beachtet wurde der niederländische Protest aber nicht.
Wir erleben, wie sich die ungeschminkte Lüge als Mittel der Politik etabliert. Eine fürwahr erschreckende Entwicklung.

Matthias Küntzel, geboren 1955, ist Politikwissenschaftler, Pädagoge und Publizist in Hamburg. Sein Buch: "Die Deutschen und der Iran. Geschichte und Gegenwart einer verhängnisvollen Freundschaft" erschien 2009 im wjs-Verlag, Berlin. Er schreibt zu politischen Themen auf der Internetseite: www.matthiaskuentzel.de.


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