Interdisziplinärer Brückenschlag

Der Schweizer Physiker Bruno Binggeli liest Dantes Göttliche Komödie als Beitrag zur Kosmologie und stellt Vergleiche mit den aktuellen physikalischen Ansätzen her. Das Buch "Primum Mobile" ist ein hervorragendes Beispiel für die souveräne Verbindung von Kultur- und Naturgeschichte.
Es vergeht kaum eine Woche, da nicht in den Medien irgendeine suggestive Weltall-Aufnahme aus einem der Mega-Teleskope unsres Erdballs abgebildet würde. Galaxien, rote Riesen, weiße Zwerge, schwarze Löcher – all diese, dem durchschnittlichen Alltagsverstand nur schwer zugänglichen, aber vielleicht gerade deshalb umso faszinierenderen Phänomene erfreuen sich größter Beliebtheit bei Jung und Alt. Die astronomischen Sehhilfen befördern offenbar die Geisteszustände, die Immanuel Kant "erhaben" nannte – auch heute, gerade heute, wo wir wissen, dass wir nicht mit den Teleskopen nicht nur in die unendlichen räumlichen Weiten des Weltalls schauen können, sondern auch in die Tiefe der Zeit.

Für den Baseler Galaxienforscher Bruno Binggeli ist evident, dass das allgemeine Interesse der Öffentlichkeit und das spezielle der Wissenschaftler heute sich aus eben der selben Motivationsquelle speist, wie der Blick in den Himmel unserer alten und ältesten Vorfahren. Der Blick auf die Sternensphäre sucht die Grenzen unserer Welt und unseres Bewusstseins, die Grenze zur Transzendenz. In seinem Buch "Primum Mobile" vergleicht Binggeli das moderne kosmologische (und mikrokosmologische) Weltbild mit dem des Hochmittelalters, das er in Dantes "Göttlicher Komödie" repräsentiert sieht. Binggeli ist Hobby-Dante-Forscher, ließ sich sogar einige Jahre an ein Observatorium in Florenz versetzen, so dass er in der Heimatstadt des größten aller Dichter sein Italienisch aufbessern und Dante im Original lesen konnte und an den täglichen Dante-Lesekreisen der Florentiner Dante-Gesellschaft teilnehmen konnte.

Die Hauptthese von Binggelis wunderschön bibliophil und mit vielen Illustrationen ausgestatteten Prachtbandes ist atemberaubend: Das aktuelle Urknall-Weltbild, das den Standard der modernen Kosmologie darstellt, lässt sich besser mit mittelalterlichen Vorstellungen vergleichen, als mit dem unendlichen Weltall der Neuzeit nach Giordano Bruno bis ins 19. Jahrhundert, das, so Binggeli, zu einem reduktionistischen Materialismus und schließlich in den Nihilismus geführt habe. Einstein und Heisenberg schufen die Grundlagen zur Big-Bang-Kosmologie, in den 1960er Jahren entdeckte man die Hintergrundstrahlung des Urknalls und es entstand ein Welterklärungsmodell, das eine Anfangssingularität, den Urknall, und eine "neue" Endlichkeit des Universums wieder ins Spiel brachte. Mit den mikrokosmischen Versuchen in den Teilchenbeschleunigern nähert man sich heute auf unvorstellbar kurzen Zeiträumen dem Big-Bang, der nach den Erkenntnissen der Astrophysik vor 15 Milliarden stattgefunden haben muss.

Bruno Binggelis Buch, das er "Primum Mobile" nach der höchsten Sternensphäre in der Kosmologie des Mittelalters benannt hat, der Sphäre, die Gott am nächsten ist, bietet über seine weitreichenden Thesen hinaus eine überaus klare Einführung sowohl in die moderne Mikro- und Makrokosmologie (vom Spezialisten) und eine ebenso interessante und wohlfundierte Einführung in die Dantologie (vom "Dilettanten", wie Binggeli sich selbst bescheiden bezeichnet). Das Buch enthält auch eine ausführliche Methodendiskussion – Binggelis Ansatz ist ein "morphologischer" und geht damit auf die Pflanzenvergleiche Goethes zurück. Morphologen waren auch Jean Gebser und Oswald Spengler, auch Peter Sloterdijk müsste man heute hinzurechnen – und in diese Tradition ordnet man Binggeli am besten ein. Bestechend an Binggelis klarer und unterhaltsamer Prosa ist jedoch auch – bei aller himmelstürmender Ambition – eine sympathische Bescheidenheit.

Man kann vieles an Binggelis Großwerk kritisieren; gewiss nicht an den physikalischen Ausführungen. Aber an seinem Mittelalterbild hat etwa der Philosoph Kurt Flasch Details auszusetzen, wie die falsche Darstellung der Aritoteles-Rezeption im frühen Mittelalter, die ungenaue Darstellung der platonischen Ideenlehre und anderes. Aber diese Kleinigkeiten können das Verdienst dieses atemberaubend synthetischen Erzählduktus in den geistesgeschichtlichen Passagen nicht schmälern. Dass hier ein Laie schreibt, kann man kaum glauben.

Neben der Morphologie arbeitet Binggeli mit der C. G. Jungschen Tiefenpsychologie. Binggeli bringt es auf den Punkt: Ein unendliches Weltbild ist schlichtweg ungesund ("Sind wir allein in der Leichengruft des Alls?", Jean Paul). Wir können uns nach Binggeli kulturgeschichtlich glücklich schätzen, dass wir in einem Big-Bang-Universum zu leben scheinen – nur hat sich das noch viel zu wenig herumgesprochen.

Einige mögen Binggelis Ansatz für verrückt halten. Andere – und hoffentlich werden es derer viele sein – werden Binggelis "Primum Mobile" als Meilenstein auf dem Weg in den Grenzbereich zwischen Natur- und Kulturwissenschaft verstehen.

Rezensiert von Marius Meller

Bruno Binggeli: Primum Mobile. Dantes Jenseitsreise und die moderne Kosmologie
Ammann Verlag, Zürich 2006
528 Seiten, 29,90 Euro