Intensiv geführter Kampf um Geborgenheit

10.06.2008
Hauptfigur Olivier hält Rückschau auf sein Leben angesichts der Klippen, von denen sich seine Mutter einst in den Tod stürzte. Wichtigste Stütze war ihm stets sein Bruder Antoine. Mit Freunden bildeten sie eine Clique, die sich gegenseitig unterstützten und permanent herausforderten. Olivier Adam erzählt stets von außen, aber mit großer Sensibilität von der Suche seiner Protagonisten nach ihrem Platz in der Welt.
Die natürlichen Tore in der Felsenküste links und rechts der Bucht von Etretat an der Küste der Normandie sind durch Maler von Delacroix bis Monet weltberühmt geworden, und noch Gert Heidenreich lässt eine Künstlererzählung in dem kleinen Badeort spielen. Olivier Adam hat diese Klippen zum Schauplatz der dramatischsten Szene seines gleichnamigen Romans gemacht: Die Mutter des Ich-Erzählers Olivier stürzt sich nämlich, kaum aus der psychiatrischen Klinik entlassen, von ihnen herab in den Tod.

Mit Blick auf genau diese Küste sitzt Olivier zwanzig Jahre später auf dem Balkon eines Hotels, während Frau und Tochter im Zimmer schlafen, so wie er als Elfjähriger mit seinem Bruder Antoine geschlafen hatte, als seine Mutter sich das Leben nahm. Olivier hingegen lässt sein Leben Revue passieren, in dem die innige Verbindung zum Bruder zunächst die wichtigste Stütze war, da die Verwandten den Vater und die Halbwaisen direkt nach der Beerdigung der Mutter sich selbst überließen, was den Vater offensichtlich überforderte, da er die Kommunikation mit seinen Söhnen auf Verbote und Schläge reduzierte.

Damit verleiht Adam wie schon in seinen Romanen Leichtgewicht und dem verfilmten Keine Sorge, mir geht's gut einer intensiven Geschwisterbeziehung große Bedeutung, nur ist sie hier zum ersten Mal ausgesprochen positiv, während sie in den vorhergehenden Texten eine bedrohliche Belastung für die Protagonisten darstellte.

Hier finden sich die Brüder in einer Clique der Art wieder, um die brave Bürger in der Regel einen verächtlichen, angewiderten oder ängstlichen Bogen machen, wobei diese Jugendlichen viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt sind sowie mit diversesten Drogen und dem Versuch, sich gegenseitig Geborgenheit zu geben, als dass sie Aggressionen auf ihre Mitmenschen richten würden. Viel eher gegen sich selbst wie Lorette, die schließlich jede Nahrungsaufnahme verweigert, oder wie Nicolas, der sich vor den Augen des verhassten Vaters dessen Flinte in den Mund schiebt und abdrückt.

Doch Antoine und Olivier finden ihren Weg, ersterer, indem er sich jung den Zwängen der französischen Handelsmarine unterwirft, letzterer auf vielen Umwegen und durch die Liebe Claires, die stärker ist als all seine Schwächen.

Dem knappen, nüchternen Stil Adams entspricht es, dass er keinerlei Anklage vorbringt, nicht gegen die Eltern, die es vermutlich ähnlich schwer haben wie ihre Kinder, nicht gegen die Gesellschaft, denn auch die Pariser Oberschicht-Tochter Léa bringt sich schließlich um, ohne das wir erfahren würden, ob ihre Verehrung der in Auschwitz ermordeten jüdischen Großmutter eine Ursache und ein Ausdruck ihrer Todessehnsucht war.

Olivier Adam ist klug genug, solche Fragen, die ohnehin nicht zu beantworten sind, gar nicht erst anzuschneiden. Stattdessen zeichnet er seine Figuren zwar weitgehend von außen, aber mit so viel Sensibilität, dass wir intensiv ihren Lebenskampf mitempfinden und wissen, dass jeder Sieg nur ein auf Zeit errungener ist.

Rezensiert von Carolin Fischer

Olivier Adam: Klippen
Deutsch von Carina von Enzenberg
SchirmerGraf, München 2008
238 Seiten, 17,80 EUR