"Die Gemeinden brauchen ein Gesamtkonzept für Flüchtlinge"
Der Stuttgarter Oberbürgermeister Fritz Kuhn fordert eine Gesamtstrategie für die Integration von Flüchtlingen. Angela Merkels Satz "Wir schaffen das" reiche nicht aus: Offen sei, wie man anerkannte Flüchtlinge unterbringen und ihnen Jobs verschaffen könne.
Bund und Länder müssten jetzt endlich ein Gesamtkonzept entwickeln, um den Gemeinden zu helfen, sagte Fritz Kuhn im Deutschlandradio Kultur vor dem Integrationsgipfel des Städtetages in Bochum. Er verwies auf die große finanzielle Not der Gemeinden und auf die Sorge um nötige Anschlussunterkünfte für anerkannte Flüchtlinge:
"Ich habe mich sehr gefreut, als Frau Merkel gesagt hat: 'Wir schaffen das.' Aber sie war nicht vorbereitet, was nun administrativ zu tun ist. Und das ist ja nicht nur eine Frage der EU oder was man in der Türkei machen kann, sondern wie man in Deutschland die Leute unterbringt und wie man Jobs zu den Leuten bringt. Das ist die offene Frage, an der alle Gemeinden arbeiten wie verrückt, aber gerne mehr Unterstützung vom Bund hätten."
"Ich habe mich sehr gefreut, als Frau Merkel gesagt hat: 'Wir schaffen das.' Aber sie war nicht vorbereitet, was nun administrativ zu tun ist. Und das ist ja nicht nur eine Frage der EU oder was man in der Türkei machen kann, sondern wie man in Deutschland die Leute unterbringt und wie man Jobs zu den Leuten bringt. Das ist die offene Frage, an der alle Gemeinden arbeiten wie verrückt, aber gerne mehr Unterstützung vom Bund hätten."
Auch die Schaffung von Wohnraum für anerkannte Flüchtlinge müsse gesteuert werden, äußerte Kuhn. Der Bund habe immer noch keine Entscheidung darüber getroffen, ob er etwa in den halbleeren Städten im Osten der Republik Flüchtlinge ansiedeln wolle. Falls der Bund das wolle, sei eine gleichzeitige Schaffung von Arbeitsplätzen notwendig – sonst mache das keinen Sinn:
"Und das meine ich mich Gesamtkonzeption. Wenn es keine klar strukturierten, diskutierten und entschiedenen Angebote gibt und Grundentscheidungen, dann gehen die Flüchtlinge in die großen Städte, wo sie sich etwas erhoffen. Und dann wird es für uns noch schwieriger."
Drei Komplexe müssten bei der Flüchtlingsproblematik endlich zusammen betrachtet werden, sagte Kuhn:
"Das eine ist die Integration selber, Sprachkurse, Integrationskurse. Das andere sind Arbeitsplätze: Wo und wie sollen die arbeiten können, die Leute? Und das dritte ist Wohnen und Familienstruktur, Kitas und so weiter. Und nur wenn man die drei Sachen zusammen denkt und zusammen entscheidet, wird langfristig eine gute Perspektive daraus entstehen."
Das Interview im Wortlaut:
Liane von Billerbeck: Es ist ein schöner Titel, der wie eine Fahne über dem Integrationsgipfel des Städtetages in Bochum flattert. Städte leben, Städte lieben Vielfalt. Zwischen Leben und Lieben ist aber bekanntlich noch ein Unterschied, da können Welten liegen. Frau Merkels "Wir schaffen das" im Ohr, stellt sich die Frage, ob man das in den Städten auch so sieht mit der Vielfalt. Stuttgart nimmt unter den deutschen Großstädten mit hohem Ausländeranteil ein, und dazu kommt nun eine hohe Zahl von Flüchtlingen, und das ist eine ziemliche Kraftanstrengung. Fritz Kuhn von Bündnis90/Die Grünen ist seit drei Jahren der Oberbürgermeister von Stuttgart, er war Bundesvorsitzender seiner Partei, Bundestagsabgeordneter und Fraktionschef dortselbst. Herr Kuhn, guten Morgen!
Fritz Kuhn: Guten Morgen!
von Billerbeck: Stuttgart wird nachgesagt, dass die Integration von Ausländern verhältnismäßig gut gelungen sei. Woran liegt das?
Kuhn: Wir haben eine lange Tradition, die geht schon bei Alt-OB Rommel los, über meinen Vorgänger Schuster bis hin zu mir, dass wir schauen, sehr früh und sehr gut die Leute zu integrieren, die zu uns kommen. Das geschieht meistens so, dass entweder sehr schnell Arbeitsplätze zur Verfügung gestellt werden, oder aber, dass sehr früh Kontakt zur Stuttgarter Bevölkerung aufgebaut wird.
Wir haben zum Beispiel, wenn heute Flüchtlinge kommen, ehe die überhaupt nach Stuttgart kommen, schon eine zivilgesellschaftliche Gruppe drum herum um die Aufnahmestelle, sodass die integriert werden im Sinne von, dass Kontakt stattfindet, Fußball gespielt werden kann, gesungen werden kann, was auch immer. Das heißt, es kommt extrem drauf an, dass man ganz früh mit der Integrationsarbeit anfängt, auch Sprachkurse, Integrationskurse macht. Und dass die ganze Stadtbevölkerung weiß: Die kommen jetzt zu uns, und wir wollen sie eigentlich als Stuttgarter oder Stuttgarterinnen sehen.
Die Situation ist auch in Stuttgart angespannt
von Billerbeck: Das heißt, keine Kritik nirgends in Stuttgart?
Kuhn: Doch, wir haben natürlich durch die große Zahl von Flüchtlingen, die jetzt kommt, wird das ganze System angespannter. Wir haben jetzt 7.200 Flüchtlinge in über 50 Unterbringungsstätten. Wir machen das nämlich sehr dezentral, damit die Zahl an einer Stelle nicht zu groß wird. Und ich habe schon deutlich gespürt, dass es schwieriger wird. Aber wir nehmen das hin, wir jammern nicht einfach, es geht gar nicht, sondern wir bemühen uns halt. Wir müssen ja die Flüchtlinge auch aufnehmen.
Wichtig wäre, dass der Bund und die Länder jetzt endlich mit einem Gesamtkonzept den Gemeinden helfen. Die Gemeinden haben große Not, was die finanziellen Mittel angeht. Und was uns ganz arg Sorgen macht: Wenn die Flüchtlinge dann anerkannt sind und einen Anspruch haben, hier zu bleiben, dann brauchen wir ja Anschlussunterkünfte, dann brauchen wir Wohnungen und so. Und in dem Bereich gibt es starke Defizite, vor allem kein Gesamtkonzept.
Ich habe mich sehr gefreut, als Frau Merkel gesagt hat, wir schaffen das. Aber sie war nicht vorbereitet, was nun administrativ zu tun ist. Und das ist ja nicht nur eine Frage, EU oder was man in der Türkei machen kann, sondern wir man in Deutschland die Leute unterbringt und wie man Jobs zu den Leuten bringt. Das ist die offene Frage, an der alle Gemeinden arbeiten wie verrückt, aber gern mehr Unterstützung vom Bund hätten.
Zuwanderung muss gesteuert werden
von Billerbeck: Das steht ja auch in einem Positionspapier des Städtetages. Darin kann man lesen, man müsse die Zuwanderung steuern und reduzieren und dürfe die Kommunen nicht überfordern. Die Diskussion dreht sich ja auch darum: Wohin eigentlich mit den Flüchtlingen? Und es gibt immer die Debatte, entweder in die Städte oder aufs Land. Und die Befürworter der Städte sagen, die Flüchtlinge gehen ohnehin dahin, wo schon andere aus ihrem Land sind, Verwandte, Freunde, und wo sie Arbeit finden. Und Stuttgart ist ja da vermutlich ziemlich gut aufgestellt, wo vielleicht auch das Klima ein liberaleres ist. Das heißt, Sie in Stuttgart und in anderen großen Städten müssen eigentlich damit rechnen, dass noch mehr Flüchtlinge zu Ihnen kommen und wollen, auch.
Kuhn: Wenn die Flüchtlinge anerkannt sind, dann können sie ja hingehen, wo sie wollen, und dann gehen sie natürlich dahin, wo sie große Hoffnungen haben, dass es ihnen gut geht. Bei uns sieht es so aus, im Bundesvergleich relativ gut bei der Jobseite, aber schlecht bei der Wohnungsseite, weil wir knapp sind beim Wohnraum.
von Billerbeck: Und weil Stuttgart auch teuer ist ...
Kuhn: Ja. Es muss auch irgendwie gesteuert werden. Der Bund hat noch immer keine Entscheidung getroffen, ob er zum Beispiel in den halbleeren Städten im Osten der Republik Flüchtlinge ansiedeln will. Wenn er sie dort ansiedeln will, dann geht das nur, wenn dort auch Arbeitsplätze neu entstehen, sonst hat das ja keinen Sinn – und das meine ich mit Gesamtkonzeption.
Wenn es keine klar strukturierten, diskutierten und entschiedenen Angebote gibt und Grundentscheidungen, dann gehen die Flüchtlinge in die großen Städte, wo sie sich was erhoffen, und dann wird es für uns noch schwieriger. Deswegen noch mal mein Appell: Der Bund muss jetzt endlich eine Gesamtstrategie, wie die Integration in Arbeit und Wohnen und Leben stattfinden soll, aufstellen und nicht nur von einem Programm zum anderen jagen oder von einer Versprechung zur anderen.
von Billerbeck: Man könnte ja auch sagen, schickt sie aufs Land sogar, da ist noch viel mehr Platz, da haben wir also Gegenden, wo die Leute wegziehen, wo es Überalterung gibt. Da wären also Menschen, die zuziehen, Familien, die kommen, ja eigentlich sehr willkommen.
Forderung nach Arbeitsplätzen auf dem Land
Kuhn: Vorsicht. Vorsicht an der Stelle. Aufs Land schicken kann man die Flüchtlinge nur, wenn dort auch Arbeitsplätze entstehen.
von Billerbeck: Ich habe das mit Anführungsstrichen gesagt gerade.
Kuhn: Das ist ganz entscheidend, weil sonst geht es katastrophal aus. Dann wohnen die da, können dort nichts machen und ziehen sehr schnell wieder weg. Das heißt, es muss konzentriert werden und entschieden werden: Wenn wir Leute in ländliche Räume schicken, können wir es dann auch schaffen, dass Unternehmen da zum Beispiel Ansiedlungen machen, sodass Arbeitsplätze entstehen? Sonst hat es keinen Sinn. Und diese Grundentscheidung, die wäre nun zu treffen.
von Billerbeck: Das heißt, es braucht den großen Plan und Wirtschaftsförderung auch für die Gegenden, in die man Flüchtlinge ansiedeln möchte?
Kuhn: Es gibt drei Komplexe, die man jetzt endlich zusammen sehen muss: Das eine ist die Integration selbst, Sprachkurse, Integrationskurse. Das andere sind Arbeitsplätze – wo und wie sollen die arbeiten können, die Leute? Und das Dritte ist Wohnen und Familienstruktur, Kitas und so weiter. Und nur, wenn man die drei Sachen zusammen denkt und zusammen entscheidet, wird langfristig eine gute Perspektive draus entstehen.
von Billerbeck: Fritz Kuhn war das, der grüne Oberbürgermeister von Stuttgart, über die Integrationsnotwendigkeiten für Flüchtlinge. Ich danke Ihnen!
Kuhn: Ich danke auch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.