Inspirationsfrei durchbuchstabierte Mozart-Partitur

Von Holger Hettinger · 18.09.2011
Das klang aufregend und vielversprechend: Doris Dörrie und Simone Young waren angetreten, Mozarts "Don Giovanni" von tradierten Rollenmustern und überkommenen Geschlechterklischees zu befreien.
Die (männliche ...) Wunschprojektion vom Großverführer sollte abgelöst werden durch eine andere, analytische, weibliche Sicht auf den Don-Juan-Stoff. Aber leider: Die Produktion der Hamburgischen Staatsoper zum Auftakt der Spielzeit erreicht die hoch gesteckten Ziele nicht.

Zwar wird so mancher gute Regie-Einfall effektvoll und mit sicherem Gespür für Timing vorgeführt, und auch musikalisch erlebt man Momente von großem Mozart-Glück. In der Summe war der Abend jedoch gründlich misslungen. Eine unschlüssige, belanglose und betriebsam überladene Regie, ein Gesangsensemble von höchst unterschiedlicher Qualität und eine weitgehend inspirationsfrei durchbuchstabierte Mozart-Partitur addierten sich zu einer Vorstellung, bei der die negativen Eindrücke überwogen.

Vielleicht lag's ja daran, dass Doris Dörrie nicht ausreichend Interesse für die Figur des Don Giovanni aufzubringen vermochte. Langweilig sei der, letztlich eine uninteressante Person, so war es im Programmheft zu lesen – allerdings funktioniert mit einem Giovanni als schaler Hanswurst die ganze Geschichte nicht. In Dörries Inszenierung gerät er zum ebenso brachialen wie hirnlosen Sex-Maniac. Dagegen ist vorerst mal nichts einzuwenden – nur muss man sich dann überlegen, warum die drei so unterschiedlichen Frauenfiguren in Giovanni jeweils etwas ganz Eigenes erkennen, warum sie kämpfen, streiten, verzweifeln.

Überhaupt: Handlungsmotive, Figurenkonstellationen, Zwischentöne, Kräftelinien? Die Frage, was die Figuren antreibt? Fehlanzeige. Die Inszenierung ist letztlich eine optisch eindrucksvolle, inhaltlich jedoch schwache Bebilderung von Trivialem. Die Figuren agieren wie im Vakuum (okay, wie im Vakuum, in dem gevögelt wird ...) – und diese Leere wird gefüllt mit dem anscheinend obligatorischen Butoh-Tanz und mit allerlei mexikanischem Brimborium. Vieles ist eindrucksvoll anzuschauen – aber es interessieren eigentlich immer nur die erlebten Einzelmomente, und nie die dahinterliegenden Strukturen und Motive.

Reichlich kühn ist Doris Dörries Sichtweise, wonach der "Giovanni" immer nur als Revoluzzer und toller Hecht gezeichnet würde – als hätte es die Regie-Arbeiten von Ruth Berghaus und Harry Kupfer, von Neuenfels, Kimmig, Guth und Co. nie gegeben. Sich einfach mal etwas zurechtfabulieren und dann behaupten, den Stein der Weisen gefunden zu haben - dafür muss man schon sehr viel von dem ausblenden, was über Mozarts "Don Giovanni" geschrieben und gesagt worden ist.

Musikalisch war dieser Mozart überwiegend mit der Wurzelbürste gezeichnet, man erlebte wenige Lichtblicke und viel Mittelmaß – das Spektrum reichte von einem edel deklamierenden, darstellerisch hochpräzisen Don Ottavio (Dovlet Nurgeldiyev) hin zu einer Zerlina, die als Totalausfall gewertet werden muss. Wolfgang Koch war durch die Rollenanlage des Giovanni auf ein weitgehend nuancenfreies Powerplay festgelegt. Eindimensional und ermüdend.

Wo bleibt das Positive? Doris Dörries Idee, den drei Frauenfiguren drei unterschiedliche Zeitebenen zuzuordnen (Donna Anna: Rokoko, Donna Elvira: ausgehendes 19. Jahrhundert, Zerlina: Gothic-Babe der Jetzt-Zeit) hat eine strukturierende Wirkung; dadurch ergeben sich sehr reizvolle Verschränkungen, die nicht nur optisch prickelnd sind, sondern auch eine schöne Tiefendimension eröffnen: Der Typus des Don Giovanni wird durch die Zeit gejagt.

Simone Young verwaltete die "Giovanni"-Partitur mit Übersicht und Aplomb – aber wo war der Schmelz, die Sinnlichkeit? Da, wo Mozart bedrohlich leise wird, klingt's aus dem Graben oft wie ein dürres Gerücht, energiegeladene Passagen schnurren schmucklos ab. Plastizität, tänzerische Bewegtheit oder gar Tiefenzeichnung suchte man hier vergebens. Schade!