Insel Pellworm in Nordfriesland

Hier hat die Natur das Sagen

Sonnenaufgang auf der Insel Pellworm
Pellworm: Sonnenaufgang im Watt © Deutschlandradio / Elmar Krämer
Von Elmar Krämer · 13.05.2018
3500 Schafe, 1000 Kühe und kein Sandstrand – an der Nordseeinsel Pellworm vor Husum sind die großen Touristenströme bisher vorbeigezogen. Das macht sie zu einem einzigartigen Ort der Ruhe und Stille. Unser Autor Elmar Krämer hat Pellworm besucht.
Emmy Jensen: "Ich hatte mal, als ich am Strand lief... einen kleinen Bernstein hab ich da gefunden. Beim Suchen hatte ich nicht so doll auf das Wetter geachtet. Aber plötzlich sah ich, dass eine graue Wand ankam. Dann war ich in diesem Nebel drin und konnte überhaupt nichts mehr sehen. Man rennt und rennt und die Angst wird immer größer. Man hört zuletzt fast das Blut in den Halsschlagadern pumpen. Man steht immer mal still. Hört man vielleicht mal was von der Insel. Vielleicht mal ein Trecker oder dass ein Hahn kräht.
Aber nein, es war eine Totenstille und zuletzt hab ich gedacht, ich schaffe es nicht mehr und ich meinte schon, dass ich hörte, dass die Flut kommt. Und plötzlich sehe ich, so im grauen Dunst was Dunkles, hab ich gedacht, meine Güte, hab ich jetzt schon Halluzinationen. Und da war es zum Glück das Ende von einer Steinbuhne. Da hab ich noch die letzte Steinbuhne erwischt, bevor ich am Pellworm vorbei ins offene Meer gelaufen bin."

Am frühen Morgen gehört Pellworm den Tieren

Es ist sechs Uhr morgens. Um diese Zeit, so scheint es, gehört Pellworm allein den Tieren und der Natur. Das Licht des anbrechenden Tages, in Kombination mit dem Spiel der Wolken und dem unendlichen Horizont, ist beeindruckend. Gänse ziehen in Formation über den Himmel, Entenpärchen schnattern geschäftig durch die Luft. Immer wieder hüpfen Feldhasen über die Straße und Fasane flüchten vor dem Reporter.
Mit dem Fahrrad geht es vom Hotel, unweit des Leuchtturms, ans andere Ende der Insel zum Anleger Hooger Fähre. Dort bin ich mit den Gebrüdern Hellmann verabredet.
Andreas und Johann Hellmann wollen mich mit ihrem kleinen Schiff "Gebrüder 2" mitnehmen nach Norderoogsand. Das ist eine riesige Sandbank rund eine Stunde von Pellworm entfernt, mitten in der Nordsee.
Andreas Hellmann: "Der Ort ist einmalig dort. Wir sind das einzige Ausflugsschiff, was im Nationalpark in der Schutzzone 1 überhaupt reinfahren darf und auch aussteigen dürfen. Das ist eine Besonderheit, weil mein Vater da schon runtergefahren ist. Mein Opa, Uropa, also, das ist ein altes Traditionsrecht."
Andreas Hellmann - groß, rundes Gesicht, Gummistiefel, blaue Mütze. Er ist der Mann an Bord, der im Sommer den Touristen erklärt, was es mit Pellworm und den Außensänden auf sich hat, der ein Schauspiel der Natur präsentiert und auch die besten Stellen zum Bernsteinsuchen zeigt. Sein älterer Bruder Johann ist eher ein schweigsamer Typ, mit konzentriertem Blick aufs Meer. Er steuert das Schiff, wirkt entspannt, wie er so aufs Wasser guckt. Gelegentlich wirft er auch einen Blick auf die Instrumente.
Johann Hellmann/Andreas Hellmann: "Ein bisschen nach dem Kompass sich richten, der ist hier oben und da ist das Echolot und da richtet man sich bisschen nach."
Autor: "Was sind denn so die Sachen, wo Sie am meisten aufpassen müssen?
"Ja, die Sandbänke verändern sich ständig, da muss man vor Ort auch immer sein mehr oder weniger."
"Aber wie finden Sie das jetzt raus, wenn Sie jetzt hier so fahren und durch die Scheibe gucken, da sieht man ja nicht sehr viel?"
"Nee, das ist ein bisschen Erfahrung auch. Die Veränderungen sind so extrem, dass sich das schon nach ein paar Monaten alles verändert hat. Wenn man nur nach der Seekarte fährt, dann ist man verloren, man muss immer die Nase im Wind haben."

Auch mit GPS ist der Mensch im Watt klein

Die Nase im Wind und den Blick aufs Wasser – das hatten die Brüder Hellmann schon immer. Sie sind auf Pellworm geboren und mit dem Watt und der Weite großgeworden. Schon in frühester Kindheit waren sie mit ihrem Vater auf dem Meer und sind zu den Sandbänken gefahren. Seitdem hat sich einiges verändert. Auch die Brüder haben mittlerweile GPS an Bord und Smartphones in der Tasche – dennoch: der Mensch wird in der Weite des Watts ganz klein.
Andeas Hellmann: "Wir gehören sozusagen mit zur Natur, zum Wattenmeer hier und wir müssen immer mit den Gezeiten arbeiten. Also, die Natur ist immer stärker als wir selber als Mensch."
75-mal im Jahr dürfen die Brüder Hellmann mit Touristengruppen nach "Norderoogsand", die rund sieben Kilometer lange und zwei Kilometer breite Sandbank vor Pellworm. Sie ist die zweitgrößte ihrer Art in der Nordsee.
Im Nationalpark Wattenmeer gelegen, sind die sogenannten "Außensände" ein besonders Naturereignis und ein wichtiger und natürlicher Schutz vor Sturmfluten.
Andreas Hellmann: "Diese Sandbänke trennen die offene Nordsee vom Wattenmeer und sind für uns auch sozusagen Bollwerke, Küstenschutz. Und wenn die immer niedriger werden, ist es für die dahinter liegenden Halligen und auch für Pellworm eine ganz große Gefahr. Dann werden die Wellen immer größer. Und dann reichen die Deiche zum Beispiel auf Pellworm auch nicht mehr aus. Das ist ein ganz großes Problem."
Steigende Wasserspiegel, veränderte Pegel bei Ebbe und Flut. Wenn man das Meer und die Wellen sieht, dann kann man sich gut vorstellen, welche Kräfte hier wirken und dass sich dadurch auch die Natur ständig verändert. So wandern auch die Sandbänke – rund 30 Meter im Jahr Richtung Osten.
Andreas Hellmann: "Deshalb machen wir jetzt auch eine extra Fahrt da runter, erst mal alleine, um zu schauen, wie sich das über den Winter dort verändert hat. Weil, wenn wir im Winter schwere Stürme haben, dann werden dort hunderttausende von Kubikmeter Sand sozusagen umgeschaufelt vom Blanken Hans. Der Blanke Hans nennt man hier bei uns ja die Nordsee, den Sturm, und dadurch müssen wir erst mal schauen, wo wir entlangfahren können. Nicht dass wir bei der ersten Tour mit Gästen irgendwo auf dem Sand sitzen und dort steckenbleiben."
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Touristenführer Andreas Hellmann auf dem Weg nach Norderoogsand und im Gespräch mit Elmar Krämer (Deutschlandfunk Kultur© © Deutschlandradio, Johann Hellmann
Gut eine Stunde sind wir unterwegs, vorbei an Sandbänken, die Seehunden an diesem Postkartentag mit blauem Himmel als Sonnenliegen und Vögeln als Muschelbuffet dienen. Immer wieder greift Hellmann zum Fernglas, guckt aufs Wasser, beobachtet die Farbe, an der er die Tiefe erkennen kann. Sein Bruder blickt aufs Echolot, steckenbleiben wäre lästig. Angst davor haben die beiden Brüder aber nicht, dann müsste man halt auf die Flut warten, sagen sie - sie haben bei ihren Touren nach Norderoogsand schon ganz andere Situationen erlebt.
Andreas Hellmann: "Da sind wir im Winter rausgefahren und da hatten wir ein Außenborder hinten dran und der wollte nicht mehr. Und da mussten wir dann wieder zurück rudern. Seitdem fahren wir nicht mehr mit einem, sondern mit zwei Außenbordern. Wenn der eine nicht will, dass der andere wenigstens funktioniert."
Autor: Wie lange sind Sie dann gerudert?"
Andreas Hellmann: "Fünf Stunden. Das macht keinen Spaß."
Autor: "Und bleiben Sie dann immer noch ruhig oder werden auch Sie dann nervös?
Andreas Hellmann: "Nö, warum soll man nervös werden? Das verstehe ich jetzt nicht."
Seemannhumor! Die Weite des Meers macht es dem Städter unvorstellbar, dass da in Richtung offenes Meer noch etwas kommt. Doch dann erscheint ein heller Streifen am Horizont, der bald schon zu einem riesigen Sandstrand, zur Wüste mitten im Meer wird: Norderoogsand.
Andreas Hellmann: "Wir sind zwar einiges gewohnt an Veränderungen, aber solche gravierenden Veränderungen wie dieses Jahr, das sind wir auch nicht gewohnt. Da bleibt uns die Sprache weg hier. Wo wir letztes Jahr noch zwei Meter fünfzig Wassertiefe hatten, sehen wir jetzt direkt vor uns eine Sandbank, die jetzt schon rausschaut, wo man sozusagen zu Fuß auf Puschen entlang gehen kann. Letztes Jahr sind wir im Schiff da bei Niedrigwasser mit 2,50 Meter Wassertiefe noch entlang gefahren."
Veränderungen gibt es in jedem Jahr, warum sie diesmal so extrem sind, können sich die Seemänner nicht abschließend erklären – es wird wohl mit der Klimaveränderung zusammenhängen.

Norderoogsand, eine unwirkliche Welt

Es wird langsam Zeit, einen Fuß in diese unwirkliche Welt zwischen der Heimatinsel und der Weite der Nordsee zu setzen. Die Vorfreude ist den Hellmännern, wie die Brüder auf Pellworm oft genannt werden, anzumerken. Für ihre Verhältnisse wirken sie fast schon aufgeregt.
"So, jetzt wollen wir mal Anker werfen und dann müssen wir mit dem Beiboot weiter… Jetzt müssen Sie vorne draufsteigen und einen großen Satz machen… Also, wir werden so ein bisschen abdüsen. Mit Interview auf der Sandbank wird schwierig werden, denn wenn wir auf dem Sand sind, gibt es nichts mehr, dann sind wir nicht zu halten."
Für ein paar Fragen steht Andreas Hellmann dann aber doch noch zur Verfügung:
"Jetzt machen wir auf den Norderoogsand Spülsaumkontrolle. Wir gucken was da so angeschwemmt worden ist an Zeugs. Wenn gefährliche Stoffe angeschwemmt werden wie zum Beispiel ein altes Ölfass oder sonstiges, melden wir das weiter, dass es abgeworben wird. Manchmal findet man auch so Kanister mit Chemie und so einem Scheiß drin. Das muss gerne geborgen werden, bevor es durchrostet und hier unsere Umwelt versaut."
Autor: "Und was sind die schönen Sachen, die Sie hier finden?"
Andreas Hellmann: "Wenn nach schweren Stürmen auch mal so Rettungsringe über Bord gehen. Wir haben Rettungsringe von Dublin, Istanbul, Sankt Petersburg auf der Sandbank schon gefunden und Bernstein natürlich, unser großes Hobby. Also man findet hier richtig tolle Sachen. 2017 im Februar hatten wir hier Hunderte Überraschungseier. Mehrmals sind wir mit dem Beiboot hier draußen gewesen und haben dann eben Hunderte von diesen Überraschungseiern eingesammelt und die verschenken wir in den Sommermonaten an Bord an die Gäste, an die Kinder, die freuen sich riesig. Das war auch ganz interessant. Man findet immer wieder was Neues."
Andreas Hellmann läuft mit dem Blick eines Schatzsuchers in den Augen los und ruft mir noch zu: "Wir haben Sie im Auge, wenn Nebel kommen sollte, sammeln wir Sie rechtzeitig ein…"
Es ist eine unwirkliche Welt, die sich vor mir auftut. In alle Richtungen Sand. Sand, Muscheln und das Meer. Der Wind fegt über Norderoogsand und es ist beruhigend, das Schiff und die Hellmänner in der Nähe zu wissen.
Gut eine Stunde später sind die Hellmänner wieder bei mir und Andreas zeigt seine Funde: eine alte Glasscherbe mit einem Wappen darauf, ein besonders schönes Stück Holz und ein zitronengroßer Bernstein – nichts im Vergleich zu den historischen Tonkrügen, mangogroßen Bernsteinen und anderem, was die Hellmänner hier schon gefunden haben.
"Wir haben hier auch schon alte Münzen gefunden von 1750 herum, alte dänisch-norwegische Silbermünzen."
Auf dem Schiff zurück nach Pellworm wirkt Andreas Hellmann nachdenklich. Er hält die alte Glasscherbe mit dem filigranen Wappen in der Hand.
"Man sieht jetzt die Kulturspuren oder die Spuren vom 13. Jahrhundert, 15., 16. Jahrhundert. In zwei-, drei-, vierhundert Jahren weiter werden die unsere Spuren finden, aber die werden nicht so schön sein wie jetzt die alten Spuren. Dann sieht man Plastikteller und so einen Müll rumliegen"

Viele auf der Insel haben mehrere Standbeine

Knud Knudsen – der Name ist kein Künstlername - hat einen grauweißen Vollbart, wuschelige Haare und wettergegerbte Haut. Unter anderem ist er Wattführer und nimmt mich mit in seine Welt – also erst mal Schuhe ausziehen.
Knud Knudsen: "Ja, sonst werden die natürlich dreckig, ne?"
Unter dichten dunklen Augenbrauen leuchten blaue Augen hervor. Knudsen ist ein Original. Es sind 8 Grad, ich trage eine Outdoorjacke und eine Mütze. Knudsen ein Baumwollhemd und eine kurze Jeans. Schon bald stecken wir barfuß mit den Füßen im Watt. Mal sinken wir bis zu den Knöcheln im Schlick ein, mal ist der Sand fest:
"Das Watt generell ist ja sehr dynamisch, das verändert sich schon ständig und je nach Sturmlage ist Sand im Wasser immer mal weg, mal da – ich vergleich das mit dem Zucker im Kaffee, weil der auch schnell weg ist."
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Knud Knudsen im Watt vor der Insel Pellworm© Deutschlandradio / Elmar Krämer
Hauptberuflich arbeitet Knudsen als Außendeichschützer für den LKN, die Küstenschutzbehörde in Schleswig-Holstein:
"Ich bin Bauabschnittsleiter hier."
"Und was müssen Sie da machen?"
"Wir machen halt Unterhaltung der Deiche und so. Vorlandarbeiten."
"Was ist denn eine Vorlandarbeit?"
"Die Lahnungsfelder werden angelegt – das sind so die Hauptarbeiten. Küstenschutz wird zu wenig gemacht in meinen Augen. Deshalb gebe ich Pellworm noch 3-400 Jahre und dann ist das eine Hallig, wo so Überreste sind, wenn nicht mehr gemacht wird und sich besonnen wird – aber dann bin ich auch nicht mehr (lacht)."
Ganz zufrieden ist Knudsen mit der Situation offensichtlich nicht, aber er lässt sich nicht aus der Ruhe bringen. Wie so viele auf der Insel hat auch er mehrere berufliche Standbeine. Neben den Wattführungen und dem Deichschutz ist Knud Knudsen der einzige Wattpostbote Deutschlands. Zweimal in der Woche trägt er zu Fuß die Post zur Hallig Süderoog, einem winzigen Eiland, mit nur einem Haus, rund sieben Kilometer vor Pellworm.
"Ich kann nur das mitnehmen, was ich auch tragen kann und was ich in den Rucksack kriege. Einen Kühlschrank müsste er sich mit dem Schiff abholen. Ja, die Post möchte ich solange machen, wie ich fit bin – auch als Ausgleich. Ich hab ja doch auch viel Büroarbeit und das ist so ein Ausgleich auch."
Wenn Knudsen aus dem Watt zurückkommt, dann sieht er schon von weitem den Deich, der so überlebenswichtig ist für seine Heimat. Denn Pellworm liegt im Schnitt einen Meter unterhalb des Meeresspiegels. Der Außendeich, die schützende Haut der Insel, ist acht Meter hoch und rund 28 Kilometer lang. Wie einst die Berliner Mauer die deutsche Hauptstadt umschloss, umschließt der grüne Deich die flache Insel in der Nordsee – sein Zustand ist essenziell für die grüne Insel, die auch gern mal als Irland Schleswig-Holsteins bezeichnet wird.

Schafe sind die besten Deichpfleger

"Wollen wir da hochgehen? Das sind meine Schafe und haben grad heute den ersten Tag am Deich."
Sönke Meesenburg ist einer von rund 15 Schäfern auf Pellworm, die ihre ca. 3000 Schafe auf dem Deich grasen lassen. Beim Schutz des Deichs spielen sie eine entscheidende Rolle. Über 200 Mutterschafe und ihre Lämmer umfasst Meesenburgs Herde. Sie grasen auf einem Deichabschnitt im Südwesten der Insel.
"Also, wir stehen direkt auf dem Deich, "Alte Kirche" sagen wir dazu, die "Alte Kirche" zur einen Seite im Blick und zur anderen Seite die Nordsee. Ich denke jedes Mal, wenn ich hier stehe: Was für ein schöner Arbeitsplatz!"
Für Sönke Meesenburg spielen die Schafe eine ebenso wichtige Rolle wie für den Deich – denn die Schafe, das weiß man seit Jahrhunderten in der Region, sind für den Deichschutz nicht zu ersetzen.
"Die Schafe haben hier am Deich eine immens wichtige Aufgabe. Sie sind sozusagen die Deichpfleger, indem sie den ganzen Sommer über hier grasen. Und es geht darum, die Grasnarbe kurz zu halten, damit nachher im Winter, wenn die Stürme auflaufen und das Wasser ein bisschen höher kommt, dass das Gras nicht so viel Angriffsfläche bietet. Wenn das Wasser hier aufläuft, dann würde das zu anfällig seien. Der zweite Aspekt ist, dass der Boden schon festgetreten wird. Und das können auch Schafe am besten eigentlich von allen Tieren. Kühe wären zu schwer, Pferde wären zu schwer, Ziegen würden ständig ausbrechen. Deswegen sind Schafe eigentlich so prädestiniert dafür. Rund um die Insel, genau an der ganzen Nordseeküste sind Schafe eigentlich die die Deichpfleger Nummer eins."
Schafe zu halten, hat in der Familie Meesenburg zwar Tradition, lief aber immer parallel zum Ackerbetrieb. Sönke Meesenburg bezeichnet die Schafzucht als sein Steckenpferd – kein Wunder also, dass er diesen Bereich ausbaute.

Beim Deichgraf von Pellworm

Der Schäfer ist auf Pellworm geboren. Wie so viele junge Pellwormer musste Sönke Meesenburg, um das Abitur zu machen, aufs Festland. Anschließend studierte er Öffentlichkeitsarbeit und arbeitete einige Jahre in einer Agentur. Vor elf Jahren stand dann aber die Nachfolge auf dem Hof der Schwiegereltern im Raum:
"Wir sind zurückgekommen, weil wir gesagt haben, okay, wir wollen eine Familie gründen. Und da gibt's keinen schöneren Ort als hier dafür, weil die Kinder dermaßen frei hier aufwachsen. Wir machen morgens die Tür auf und dann rennen sie raus und kommen zum Mittag mal wieder rein und man macht sich zwischendurch keine großen Sorgen, was mit denen ist. Wenn sie ein Problem haben, dann kommen sie, sonst ist alles gut."
Mittlerweile lebt der 38-Jährige mit seiner Frau und vier Kindern auf dem idyllischen Hof in unmittelbarer Nähe des Deichs. Wenn er bei seinen Schafen steht, kann er seiner Frau, die sich um die Feriengäste auf dem Hof kümmert, zuwinken.
Während unseres Spaziergangs über den Deich folgen uns die Schafe auf Schritt und Tritt. Die wuscheligen weißen Wollknäuel auf dem grünen Deich sind äußerst wichtig für Pellworm und nicht nur ein Postkartenmotiv.
Der Außendeich ist der größte Schutzwall gegen das Wasser im Falle einer Sturmflut – aber nicht der Einzige. Denn auch durch das Inselinnere ziehen sich Deiche. Deren Pfleger Nummer Eins ist Ernst-August Thams, der Deichgraf von Pellworm:
"Der Deichgraf ist für die Entwässerung der Insel zuständig, für die Mitteldeiche, und im Katastrophenfall ist er für den Wachdienst und Katastrophenschutz zuständig. Da musst du besonnen herangehen. Traditionell hatte der Deichgraf eine wichtige Funktion gehabt: die Inselgemeinschaft, die Bürger zusammenzuhalten. Auch disziplinieren, dass der Deichbau wichtig ist. Und das ging eigentlich bis '71 so. Bis '71, dann kam eine große Reform. Da waren die Einheimischen mit den Kosten und Lasten für den Deichbau überfordert. Die Kosten waren einfach zu doll, war vorher auch schon doll, aber da ging es nicht mehr. Seitdem sind wir für den Küstenschutz mit dem Deichbau nicht mehr zuständig, für die Außendeiche. Nur für die Mitteldeiche und die Entwässerung."
Fährt man über die Insel, dann fallen immer wieder besonders schöne alte Bauernhöfe und Häuser auf, die vor etlichen hundert Jahren auf Erdhügeln errichtet wurden. Auf einem dieser Höfe wohnt seit Generationen die Familie Thams. Als wir uns treffen, neigt sich für den Deichgraf der erste Teil des Tages dem Ende zu. Er hat Entwässerungsgräben der Insel kontrolliert und Termine für die nächsten Deichschauen, Kontrollgänge über die Deiche koordiniert. Später muss er noch in den Stall, denn hauptberuflich ist er Landwirt – Deichgraf ist ein Ehrenamt.

Ausgeklügeltes Pumpsystem hält die Insel trocken

Wir sitzen in einem Strandkorb vor dem erhöhten Haus. Weiter Blick über die umliegenden Felder und in die Abendsonne.
Thams: "Und das ist eine historische alte Warft. Und wo wir darauf sitzen, das ist über 800 Jahre alt.
Autor: "Können Sie gleich noch beschreiben, was eine Warft ist?"
Thams: "Eine Warft ist ein künstlich aufgeschütteter Erdhügel. Der stammt noch aus der Zeit, wo die Insel nicht eingedeicht war. 1150, da ist das erste Mal gemerkt worden, wir müssen was machen und historisch gesehen war das immer so: Da haben die einzelnen, man sagt Bauern, aber die einzelnen Leute, die da gewohnt haben, angefangen, und haben ihre kleinen Grundstücke eingedeicht. Sehr schnell ist das an die Grenze gestoßen und dann hat man sich verständigt, dass man zusammen was macht und dann ist das mit der Zeit so entwickelt, dass sie sich zusammengetan haben und haben größere Gebiete eingedeicht. Und das ist die Idee eines Kooges, oder wie man das in Holland heute nennt, eines Polders. Da hat man ein Gebiet, wo mehrere Leute wohnen, eingedeicht, um da hochwassergeschützt zu leben."
Wo die Menschen in früheren Zeiten mit dem Wasser leben mussten, sorgt heute ein ausgeklügeltes System von Entwässerungsgräben, Auffangbecken und leistungsstarken Pumpen dafür, dass die Insel im Inneren meist trocken bleibt.
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Deichgraf Ernst August Thams wird von Feature-Autor Elmar Krämer interviewt.© Deutschlandradio
Vor allem für viele alte Pellwormer, die auch schon Sturmfluten miterlebt haben, ist das Wissen um den Schutz der Insel vermutlich sehr beruhigend. An einem fast windstillen Tag mit blauem Himmel ist es für den Städter unvorstellbar, dass es Tage gibt, an denen hier mit den Wassermassen gekämpft wird.
Thams: "Wir stehen im Hafen der Insel Pellworm und da ist ein Pegelhaus. Da wird historisch aufgeschrieben, wie die Wasserstände sind und da ist zum Beispiel die Sturmflut vom 03.01.1976. Ist die höchste, die wir hatten. Da war das Wasser 4,74 Meter über Normal-Hochwasser, und das ist schon viel."
Autor: "Also heißt, an diesem Tag hätte uns das Wasser bis zum Hals gestanden."
Thams: "So sieht es aus. So sieht es aus. Und wenn man bedenkt, dass mitten in der Insel Pellworm nur 50 Zentimeter unter Meeresspiegel ist, dann hätten da fünf Meter Wasser gestanden theoretisch."
Autor: "Wenn der Deich nicht wäre."
Thams: "Genau, wenn der Deich nicht wäre."
Es scheint, als wäre der Pellwormer jemand, der die Natur kennt und sich der Möglichkeiten des Menschen bewusst ist. Der sich auf Wind und Wetter einstellt und der grundsätzlich nicht zu Sorgen, Aufregung und Hektik neigt.
Thams: "Nein, man hat keine Angst, das gehört einfach dazu, das ist für jeden Pellwormer so. Sobald Sturmflutwarnung kommt, da wird so ein Schalter umgelegt, da wird man ruhig, versucht zu überlegen, hab ich alles sturmsicher gemacht – das geht ganz ruhig ab. Da wird man nicht nervös oder so. Für mich ist es schön, auf einer Insel zu leben. Ich fühle mich hier richtig wohl. Aber das ist der Preis, den man bezahlt, dass man die Küste schützen muss, um auf einer Insel leben zu können.

"Entweder liebt man Pellworm oder man hasst es"

"Guck mal, ist das der Hammer? Guck mal, wie schön das ist."
Petra Feldkamp blickt in südlicher Richtung über das Watt und das Meer. Die Sonne lässt die Wellen glitzern, Gänse fliegen vorbei. Von unserer Position aus sehen wir sie von oben.
"Weißt du, hier hast du wirklich das Gefühl, wenn du hier oben stehst und du guckst raus aufs Wasser, das ist einfach – ja- ein Gefühl von Glück."
Wir stehen auf dem Leuchtturm von Pellworm und lassen den Blick schweifen. Mit seinen über 40 Metern Höhe ist das immer noch aktive Leuchtzeichen der höchste Punkt auf der flachen Insel. Von hier aus hat man die perfekte Übersicht.
"Und dies ist wirklich so ein Fleck hier oben auf dem Leuchtturm, da kannst du so richtig runterkommen, finde ich jedenfalls. Hier oben kannst du mal richtig deine Seele baumeln lassen."
Pellworm ist mit seinen 37 Quadratkilometern Fläche nach Sylt und Föhr die drittgrößte nordfriesische Insel. Die wohl unbekannteste und ungewöhnlichste: Keine Touristenmeile, keine Partyzone und vor allem kein Sandstrand. Dafür aber Stille und Natur mit weiten Wiesen und Feldern und der sogenannten Streubesiedelung. Das heißt, hier und da ein paar Häuser, dazwischen flaches Land. Der nächste Nachbar ist oft einige hundert Meter entfernt.
"Das Besondere für mich an Pellworm: Weißt du, es gibt eigentlich kein Dazwischen. Entweder liebt man es oder man hasst das. Du musst dieses Leben, diese Art von Leben mögen. Und du darfst kein Stadtkind sein, denn dann hast du das Gefühl, du vermisst irgendwas. Aber du bekommst hier alles, was du brauchst und das, was du nicht bekommst, ist eigentlich Luxus."
Petra Feldkamp blickt über die Insel Pellworm.
Petra Feldkamp kam nach vielen Jahren auf dem Festland zurück nach Pellworm.© Deutschlandradio / Elmar Krämer
Petra Feldkamps Biografie ähnelt denen einiger Pellwormer: Sie ist auf der Insel groß geworden, ging für Schule und Ausbildung zur Bankkauffrau aufs Festland, arbeitete lange in der Stadt und kam dann, Jahrzehnte später, doch wieder auf die Insel zurück.
"Als Bankkauffrau hatte ich in dem Moment Glück, weil die Nord-Ostsee-Sparkasse jemanden suchte. Ich hab mich beworben und ich habe dann auch den Job bekommen und hatte dann lange die Leitung der Filiale auf Pellworm, was mir unheimlich viel Spaß gemacht hat. Leider wurde dann später die Filiale geschlossen und ich musste mich umorientieren. Ich bin dann erst noch ein paar Monate jeden Morgen mit dem Boot um viertel vor sechs nach Husum gefahren, in die Hauptstelle, und abends um 18 Uhr 30 zurück. Da stellte sich mir dann die Frage: Will ich das? Will ich das in dem Alter? Will ich mit Anfang 50 jeden Tag aufs Festland fahren und dann eigentlich nur zum Schlafen zu Hause sein? "
Wollte sie nicht und machte sich wie viele Jung-, Wieder- und Neu-Pellwormer auf die Suche nach einem neuen Lebensmodell, was auch eine berufliche Veränderung nötig machte. Heute bewirtschaftet sie mit ihrem Freund einen Bauernhof, organisiert Hochzeiten auf dem Leuchtturm, leitet das Hotel Lieblingsplatz und freut sich jeden Tag über ihr neues Leben auf der Insel.
"Für mich ist das von der Natur her, wie du das jetzt auch hörst, dieses Vögelzwitschern – für mich hört sich das einfach sehr, sehr zufrieden an."
Und wenn ihr doch mal der Trubel in der Stadt, Konzerte, Partys oder vor allem die Freunde auf dem Festland fehlen – dann gibt es ja die Fähre und eine recht gute Bahnverbindung.

Vom Silicon Valley nach Pellworm

Um die 1200 Menschen leben auf Pellworm. Und auch wenn viele junge Pellwormer die Insel verlassen, um in der Stadt beruflich Karriere zu machen oder einfach nur, weil ihnen die Natur und die Stille auf Dauer zu langweilig sind: Einige von ihnen kommen dann doch irgendwann wieder. Und, es gibt es auch immer wieder Neu-Pellwormer, die ganz bewusst das Leben in der Metropole und auch gut bezahlte Führungsjobs an den Nagel hängen, um auf Pellworm zu leben.
Christa Drigalla und Lydia Sieweke stehen im Garten vor dem Haus, das Lydia vor rund 13 Jahren eigentlich als Ferienhaus gekauft hat – der größtmögliche Kontrast zu ihrem beruflichen Alltag damals. Lange arbeitete Lydia Sieweke in einem großen deutschen Medienkonzern mit Jetset-Leben zwischen Deutschland und den USA. Zwei Jahre davon lebte sie im Silicon-Valley:
"Ich habe eine Standortleitung gehabt, im Bereich Financial Services auf dem Google-Campus, also in der Google Zentrale. Und das war halt ein Jahr, wo extrem viel Wachstum angestanden hat. Dann explodierte im Grunde genommen das gesamte Geschäft und damit auch unsere kleine Organisation vor Ort. Ich glaube, das alles hätte ich auch ohne Burnout überlebt. Aber das Spannende war die Unternehmenskultur Google, im Vergleich zu der Unternehmenskultur des europäischen Medienkonzerns, für den ich gearbeitet habe, also einmal Schnellboot versus Schlachtschiff oder keine Ahnung wie. Dazwischen in den Mühlen habe ich mich zerrissen. Und das hat mich im Grunde genommen von jetzt auf gleich auf die Insel gebracht. Ich bin dann 2008 hier gestrandet sozusagen mit einem Burnout und habe ein Sabbatjahr verbracht."
Der Startschuss in einen völligen Neuanfang in einer anderen Welt. Das Ende ihrer bisherigen Karriere und die Aufgabe ihres festen und gutbezahlten Jobs. Seit drei Jahren lebt Lydia Sieweke nun ständig auf Pellworm. In einer Umgebung, die geprägt ist von Ruhe und Weite, aber leider nicht gerade von gutbezahlter Arbeit in hohen Positionen. Eine riesige Umstellung für die Ex-Managerin, die sich an das neue Leben erst langsam gewöhnen musste:
"Und hab da aber irrsinnig viel gelernt, nämlich dass es gar nicht notwendig ist, auf so hohem Niveau Geld zu verdienen. Und es ist auch gar nicht notwendig, in so sicheren Konzernstrukturen zu sein, sondern dass es einen ganz großen Reiz hat, letztendlich auch mit verschiedenen Tätigkeiten für einen eher geringen Lohn, aber dennoch mit einer sehr hohen Lebensqualität hier sein zu dürfen, so. Und der Weg dahin war natürlich auch steinig. Das war inklusive Klos putzen in der Pension, Matjes-Brötchen verkaufen am Hafen. Also man muss halt vielseitig sein. Darauf zu pochen, was man gelernt hat oder wer man mal war, zählt dann nicht mehr. Und hier schon mal gar nicht."

Pellworms Motto: "Dat löpt sich all torecht"

Lydia Sieweke wirkt mittlerweile äußerst entspannt, fast schon wie die Ur-Pellwormer. Derzeit arbeitet sie an der Rezeption im Hotel und hat aus der Garage an ihrem Haus ein kleines Yoga-Studio gemacht. Hier bietet sie Achtsamkeits- und Meditationskurse und Yogastunden an. Die Wohnung im Obergeschoss ihres Hauses hat sie vermietet an Christa Drigalla, die vor kurzem pensioniert wurde. Christa Drigalla war Krankenschwester. Sie kommt eigentlich aus Niedersachsen. Eine Stellenanzeige brachte sie aber nach Pellworm. Sechs Jahre lang leitete die engagierte Frau die Sozialstation auf der Insel – perfekt, um die Pellwormer kennenzulernen. Doch auch ihr Weg auf die Insel fing am anderen Ende der Welt an:
"Ich war beteiligt beim Aufbau eines Krankenhauses für plastische Chirurgie in Nepal und plastische Chirurgie bedeutet nicht Schönheitschirurgie in Nepal, sondern Wiederherstellung. Und da hatten wir sehr viele Patienten, besonders Kinder mit schwersten Verbrennungen oder Verbrennungsnarben. Die Kinder haben mich besonders erbarmt. Und aus dem Wissen ist hervorgegangen, dass ich versuche die Verbrennungsverletzungen in Nepal zu verhindern. Und das kann man nur machen indem man die offenen Feuer reduziert. Statt Lagerfeuer kochen Öfen einbauen in die Bauernhäuser. Dazu wurde ein Verein in Nepal gegründet – Ofenmacher.e.V. Das ist so mein großes Projekt, wo ich von hier aus sehr viel dran arbeite."
Oft sitzt die Rentnerin sehr früh morgens auf der Terrasse ihrer Wohnung auf Pellworm. Blickt über die Felder und die Mitteldeiche in Richtung Außendeich und Leuchtturm. Dann hat sie den Laptop vor sich und skypt mit ihren Leuten in Nepal.
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Leuchtturm auf der Nordsee-Insel Pellworm.© Deutschlandradio / Elmar Krämer
Gelegentlich essen die Ex-Managerin und die Ex-Krankenschwester zusammen zu Mittag, dann philosophieren sie nicht selten über "ihre Insel". Und sie sind sich sicher, dass Pellworm noch für viel mehr Menschen aus der Stadt ein lebenswertes Zuhause sein könnte:
"Es gibt so einen schönen Ausspruch, der heißt: 'dat löpt sich all torecht', das läuft sich alles zurecht. Also wenn dann irgendwas schief läuft, man einen Job verlören hat oder irgendwie sonst was ist, dann sagt der Pellwormer gerne mal 'Ja, dat löpt sich all torecht', warte mal einfach ab, dat löpt sich all torecht. Und das ist auch so. Am Anfang hab ich auch großen Respekt davor gehabt, überhaupt hier einen Job zu finden, über die Runden zu kommen, den auch zu behalten. Mittlerweile weiß ich, es bewegt sich immer so viel auf der Insel, dass ich jetzt keine Angst mehr habe. Da habe ich jetzt tatsächlich die Haltung, es löpt sich torecht."

Im Atelier der "Himmelsmalerin"

Junkersmitteldeich – einer der großen Mitteldeiche auf Pellworm. Auf der Deichkrone verläuft eine für hiesige Verhältnisse viel befahrene Straße. Direkt hinter dem Deich steht das Haus von Emmy Jensen.
"Da ist hier noch abgeschlossen, was ist hier denn los? Guten Tach, Moin, kommen Sie rein."
Guckt man aus Emmy Jensens Fenster, sieht man den gelegentlich vorbeifahrenden Autos auf die Reifen - eine ungewöhnliche Perspektive, so direkt hinterm Deich.
In der Regel blickt man aber schräg über den Deich in den Himmel – den Himmel, den alle Pellwormer so lieben, dem sich Emmy Jensen aber vielleicht am intensivsten widmet.
"Das ist wohl irgendwie aus der Kindheit her, weil wenn wir im Haus waren früher als Kinder, dann hat mein Vater plötzlich gerufen, kommt mal schnell alle raus. Guckt euch doch mal diesen Himmel an. Er hat es immer gesehen, wenn der Himmel wieder besonders schön war und hat uns alle rausgerufen, damit wir uns das anschauen."
Emmy Jensen, Jahrgang 1931, ist eine Ur-Pellwormerin. Auf der Insel kennt sie jeder. Ihre Energie ist legendär, ihr wacher Geist und ihre positive Lebenseinstellung beeindruckend.
Wer auf der Insel lebt, der muss mit der Natur leben, sagt sie. Hier auf Pellworm, unter diesem gigantischen Himmel und in der Weite des Watts, da würde der Mensch schnell ganz klein.
"Der Mond hat ja so viel Kraft. Das ganze Leben wird nach Ebbe und Flut. Zum Beispiel, wenn abziehendes Wasser ist, Ebbe, dann kommt hier keinerlei Lebewesen zur Welt. Immer mit Kommen der Flut, dann kommen auch die Geburten, und darum früher, wenn wir nun zum Ernteball waren und da stand grad eine Kuh zum Kalben und dann haben wir auf den Flutkalender geschaut, haben wir gesagt, halb zwei heute Nacht setzt die Flut an, solang können wir bleiben und dass wir dann erst nach Hause gehen. Aber in der Stadt oder in Berlin oder wo sie auch wohnen, wer weiß da was von Ebbe und Flut. Aber auch da geht es nach dem Mond, nur sie wissen es nicht."
In Emmy Jensens Haus hängen die Wände voller Bilder: Ölbilder, Acrylbilder, vor allem aber Aquarelle. Das Motiv ist immer das Gleiche, aber doch jedes Mal anders.
"Bei meinen Bildern ist immer nur unten ein bisschen Land und das andere ist alles Himmel, weil ich meine, der Himmel ist nirgends so schön und so groß und so gewaltig wie hier bei uns an der Nordsee."
Stammtouristen verpassten Emmy Jensen den Namen "Himmelsmalerin" und schenkten ihr ein entsprechendes Schild für den Eingang zu ihrem Haus und Atelier.
"Die Pellwormer ham gesacht, was ist denn mit dir los, bist du befördert worden? (lacht) Seitdem bin ich hier die Himmelmalerin."

Respekt vorm Wind, aber keine Angst

Schon als Kind hat Emmy Jensen gern gezeichnet. Die Zeit für die Kunst hat sie sich immer genommen. Im künstlerischen Bereich zu arbeiten, war damals aber mehr als heute Illusion – also wurde sie Bäuerin auf der Insel, das heißt, früh in den Stall und erst sehr spät abends Feierabend.
"Aber da ich das große Glück hatte, dass ich den allerbesten Mann der Welt erwischte - er hat nie gesagt, wenn ich gemalt habe, hast du nichts anderes zu tun? Er hat mir hölzerne Rahmen gemacht. Und die haben wir dann noch mit Leinen bespannt und hab dann einfach so mit Ölfarbe drauflos gemalt."
Außendeich, Innendeich – Wiese, Feld, Watt – überall auf der Insel kann man Emmy Jensen treffen. Oft sitzt sie mit ihrem Aquarellblock in der Landschaft – den Blick fasziniert in den Himmel gerichtet – und das bei Wind und Wetter.
"Man sieht ja das Wetter hier schon immer von weitem ankommen. Man sagt ja, bei uns ist die Landschaft so flach, da kann man am Karfreitag schon sehen, was man zu Ostern für einen Besuch bekommt. Aber man kann auch das Wetter mehr beobachten und man beobachtet auch mehr den Himmel - na, wenn die Wolken so sind, dann wissen wir, das gibt Wind oder so. Da machen wir nicht groß was draus. Das ist eben so. Das sind wir ja gewohnt."
Jeder Pellwormer, so scheint es, hat seine eigene Art, sich auf die Launen der Natur einzustellen und sie zu genießen. Emmy Jensen hat auch vor dem Sturm keine Angst – Respekt aber sehr wohl. Auch 1976 bei der Sturmflut war sie natürlich draußen, mit der Nase im Wind und dem Blick in den Himmel.
"Ja natürlich, ich bin immer am Deich. Ich mag das so gern. Ach, ich glaube, das kann man gar nicht beschreiben, wieviel Gewalt hinter dem Wind ist. Da sitzt schon Wumm dahinter."
Der größte Künstler sei immer die Natur und die Bilder würden nie so schön wie die Wirklichkeit, sagt Emmy Jensen. Doch ich fühle die Leidenschaft, die in ihnen steckt: Farben, die mal fröhlich, mal bedrohlich wirken, und Formen, die aus der Natur kommen. Und so schnell, wie sich der Himmel über Pellworm verändert, so schnell versucht die Malerin auch, ihre Eindrücke auf Papier oder Leinwand zu bringen. Bei Aquarellbildern sowieso, aber auch bei Öl – langes Gefrickel an einer Wolke, das ist nichts für die immer unter Strom stehende Seniorin:
"Da sitte doch keen Krawumm – datt muss einfach in ein Stück jemalt wern."

Plattdeutsch ist die erste Sprache

Wenn Emmy Jensen sich in Rage redet oder auch ganz versonnen von bestimmten Stimmungen in der Natur erzählt, dann fällt sie immer wieder aus dem Hochdeutschen heraus – kein Wunder: Auf Pellworm ist die erste Sprache Platt – auch bei Gemeinderatsitzungen, Veranstaltungen und Festen. Das ist für die Zugezogenen zwar erstmal ein Problem – aber so wie die Feriengäste auf Pellworm zu "Einheimischen auf Zeit" werden sollen, so sollen die "Neu-Pellwormer" zu "Voll-Pellwormern" werden – da kommen sie am Plattdeutschen nicht vorbei – und an Emmy Jensen.
"Also, es gibt ja viele Leute, die sich hier ein Haus kaufen und hier auch wohnen möchten und so. Und ich mach dann Plattdeutsch-Kurse für sie. Ja, datt wär nu datt Plattdütsche, datt wär nu ersma Abschitt, so!"
Natürlich geht es auch in den Plattdeutsch-Kursen immer wieder um die Schönheit der Natur auf und um Pellworm. Und auch wenn man des Plattdeutschen nicht mächtig ist, man bekommt doch mit, um was es geht: das silbrige Glitzern über der Nordsee, den gewaltigen Himmel über der Insel und die Augen, die dieses Wunder sehen.
"Wenn du mal op de Pellwormer Seediek spazeerst, wünsch ick di nicht, dat di dor een gutde Fee in de möt kümmt, und di riek maken deit. Awer ick wünsch di Ogen, de dat gewahr warn, wenn sick wedder mal een gewaltige Himmel över unse Insel wölbt und de Fennen und Pütten alle Ogenblick in een anner Farf schienen. Dat du dat Wahrnimmst, wenn de Sünn de Nordsee to een sülverige Geglitzer makt. Dat du Ogen hest, de dat sehn, wenn di op dien Weg een Wunner bemött. Denn für Wunner bruken wie keen Mörchen, waer Ogen um se to sehn. Und een Hart, datt versteiht vör een Wunner to danken."
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