Innerdeutscher Schüleraustausch

Klassenfahrt zum Klassenfeind

Eine Museumspädagogin steht in einer früheren Zelle des ehemaligen Stasigefängnis Andreasstraße in Erfurt, von der Decke hängt ein Plakat mit der Aufschrift "Ich fordere das Menschenrecht auf freie Ausreise!".
In der Gedenkstätte im ehemaligen Stasigefängnis Andreasstraße in Erfurt sollen auch westdeutsche Schüler DDR-Geschichte kennenlernen. © picture alliance / dpa / Jens-Ulrich Koch
Von Henry Bernhard · 07.02.2018
Regelmäßige Schüleraustausche zwischen Ost und West forderte kürzlich der neue Kultusministerkonferenzchef, Thüringens Bildungsminister Helmut Holter. Wir haben eine hessische Klasse zu Besuch in Weimar begleitet.
"Wenn man sich das so überlegt: Das sind ja im Prinzip Kleinigkeiten, für die hier DDR-Bürger schon inhaftiert werden konnten, also auch in Untersuchungshaft."
Jan Jakob geht langsam durch den Zellentrakt des ehemaligen Stasi-Gefängnisses in Erfurt. Die niedrige Decke hängt über ihm und seinen Mitschülern.
"Das fällt dann im ersten Moment schwer, sich da rein zu versetzen, aber wenn man direkt in so einer Zelle steht, fällt einem das natürlich leichter."
Für drei Tage ist er mit dem Leistungskurs Geschichte in Erfurt, um der Vergangenheit am authentischen Ort nachzuspüren: Der nationalsozialistischen bei der Firma Topf & Söhne, die die Öfen für Auschwitz geliefert hat, und der sozialistischen im Stasi-Gefängnis. Ihr Lehrer Ulf Thöle findet Erfurt in Thüringen perfekt dafür.
"Erfurt bietet halt die Möglichkeit, zu verschiedenen historischen Zeitpunkten abwechslungsreiche Angebote für Schüler wahrzunehmen, also auch, weil wir mit DDR-Geschichte im hessischen Lehrplan nicht so viel zu tun haben, wie es eigentlich wünschenswert wäre und die Schüler das aber aus meiner Sicht wissen und erfahren sollen."

"Macht aus dem Staat Gurkensalat!"

Zuvor waren die Schüler aus Hessen auch in der Thüringer Außenstelle der Stasi-Unterlagenbehörde, haben die Akten von Holm Kirsten studiert, der 1983 mit Freunden aufrührerische Parolen an Weimarer Häuserwände gesprüht hat. Etwa: "Macht aus dem Staat Gurkensalat!" Nun, nach einem Tag Aktenstudium, treffen sie Holm Kirsten zu einem Zeitzeugengespräch und befragen ihn zu seinen Erfahrungen.
"Und zwar würde mich interessieren, ab welchem Zeitpunkt in Ihrem Leben hatten sie sich gedacht: "Ich möchte Kritik an der SED-Diktatur üben?" Oder aus welchen Gründen kam es überhaupt dazu, dass sie diese Sprays gemacht haben, außer natürlich jugendlichem Wahnsinn? Kommt da vielleicht noch ein bisschen mehr dazu?"
"Also, "jugendlicher Wahnsinn", das würde ich erst mal von mir weisen! Jugendlicher Übermut vielleicht, jugendlicher Leichtsinn vielleicht auch. Vielleicht hat das auch eine Rolle gespielt, dass wir mit im Grunde genommen völlig harmlosen Fragen in der Schule … habe ich Dinge heraufbeschworen bei Lehrern. Ich wurde dann zum Direktor zitiert, meine Eltern wurden einbestellt, meine gesamte Haltung, meine staatsbürgerliche Haltung wurde in Frage gestellt. Ja, und Druck erzeugt Gegendruck, das ist bekannt."
Zu fünf Monaten Haft verurteilte das Gericht den damals 18-jährigen Kirsten. Weil er rebellisch war wie Jugendliche anderswo auch.
"Wir waren 18. Wir wollten jetzt nicht die DDR aus den Angeln heben, das war gar nicht das Ziel. Also, wir wollten die graue Masse mal aufrütteln und dem stumpfen Spießbürger rechts und links von uns mal ein Signal setzen."

DDR-Geschichte wird eher stiefmütterlich behandelt

Für die Schüler kommen immer mehr Facetten zu dem hinzu, was sie in Geschichte über die DDR allgemein und im Aktenstudium über Holm Kirsten gelernt haben. Lukas Gück und Jan Jakob scheinen zufrieden.
"Ja, man nimmt auf jeden Fall sehr viel mit, auch sehr viele Eindrücke. Das kann man heute gar nicht so richtig alles verarbeiten. Aber es war sehr interessant hier und verändert hat es auf jeden Fall was."
"Ja, ich denke, das hat meinen Blick auf die DDR schon nachhaltig verändert."
Mangelndes Wissen über die DDR wird aber nicht nur im Westen beklagt, sondern auch und gerade im Osten. Auch von Matthias Wanitschke, dem Landesbeauftragten für die Aufarbeitung der SED-Diktatur, der das Quellen- und Zeitzeugen-Projekt organisiert hat.
"Da kann man schon so sagen, dass Schüler aus den alten Bundesländern die Frage, ob die DDR ein Unrechtsstaat war, eine Diktatur - das wird zu fast 100% mit Ja beantwortet. Das ist bei Kindern, die DDR-Großeltern – muss man mittlerweile schon sagen – haben, anders. Dass sie sagen: "Ja, meine Eltern und Großeltern sagen, von Diktatur haben sie nichts mitbekommen. Auf einen Trabbi musste man 15 Jahre warten, aber sonst: Es gab keine Arbeitslosigkeit, es gab keine Ausländer. Das war ganz kuschlig in der Diktatur!""
Auch deswegen betrachtet Wanitschke einen Ost-West-Schüleraustausch, wie ihn der neue Vorsitzende des Kultusministerkonferenz Helmut Holter von den Linken vorgeschlagen hat, für wenig hilfreich, das Wissen der westdeutschen Schüler über die DDR zu verbessern.
"Die Mauer ist lange vorbei. Da gibt es keine Unterschiede. Aber da kann man auch für Thüringen sagen, dass das DDR-Thema nicht gerade überbelichtet ist, sondern eher stiefmütterlich behandelt wird auch."
Mehr zum Thema