Innenansichten aus Stalins Armee

Die Propaganda aus Moskau stilisierte die Soldaten der Roten Armee nach dem Zweiten Weltkrieg zu tapferen Helden im Kampf gegen den Faschismus. Doch das offizielle Geschichtsbild hatte mit dem Alltag während des Kriegs wenig zu tun, berichtet die britische Historikerin Catherine Merridale in ihrem Buch „Iwans Krieg“.
Als Hitler am 22. Juni 1941 den Nichtangriffspakt mit Stalin brach und die Deutsche Wehrmacht in der Sowjetunion einmarschierte, umfasste die Rote Armee fast fünf Millionen Soldaten. Doch sie waren schlecht ausgebildet und mangelhaft ausgerüstet.

„Man holte, schulte und töte uns“, zitiert die britische Historikerin Catherine Merridale einen Soldaten in ihrem Buch „Iwans Krieg“. Die ersten Monate des Krieges wurden für Stalins Truppen zum Desaster.

„Fast die gesamte Vorkriegsarmee war Ende 1941 tot oder interniert. Und das Ganze wiederholte sich, als man eine weitere Generation in Uniform steckte, um sie töten, gefangen nehmen oder verstümmeln zu lassen.“

Die Sowjetunion hatte die Hauptlast des Zweiten Weltkrieges zu tragen, über 27 Millionen Menschen starben, in der Mehrzahl Zivilisten. Acht Millionen Soldaten ließen in den Kämpfen ihr Leben.

„Iwan aber, der russische Schütze, das Pendant zum britischen Tommy und dem deutschen Fritz, bleibt uns ein Geheimnis.“

Catherine Merridale versucht nun als eine der ersten, diese Millionen aus der Anonymität zu holen. Denn zu Sowjetzeiten waren die Soldaten zu mutigen und tapferen Helden stilisiert worden, die aufopferungsvoll gegen den Faschismus und für den Kommunismus gekämpft hatten. Die offizielle Geschichtsschreibung interessierte sich für die wahren Lebensumstände der Menschen an der Front nur, soweit sie mit dem Mythos vom Großen Vaterländischen Krieg in Einklang zu bringen waren. Missstände innerhalb der Armee, Desertionen oder die Traumata der Kriegsheimkehrer passten nicht in dieses Bild; sie wurden ebenso ausgeblendet wie Verbrechen der Roten Armee an der deutschen Zivilbevölkerung. Der Mythos vom glorreichen Krieg wurde, wie Catherine Merridale schreibt, schon in den ersten Kriegsjahren geboren.

„Die Zensoren sorgten dafür, dass Wörter wie ‚Rückzug’ oder ‚Kapitulation’ nicht in die Annalen der Roten Armee eindrangen. Noch grausamer war, dass sie sogar alle Belege für die wahren Opferzahlen tilgten. So blieb die Tatsache, dass allein der Sieg bei Stalingrad knapp eine halbe Million sowjetischer Soldanten und Flieger das Leben gekostet hatte, gut verborgen.“

So wie die Zahlen der Gefallenen, wurden auch die Gefühle der Soldaten zensiert. Publikationen durften keine Hinweise auf Ängste oder Zweifel enthalten.
Eine andere Art der Geschichtsschreibung ist erst seit rund 15 Jahren möglich. Mit dem Ende des Sowjetimperiums wurden viele – nicht alle – Archive unabhängigen Historikern zugänglich. Catherine Merridale studierte Berichte der Militär- und Geheimpolizei, las Hunderte von Soldatenbriefen und Tagebüchern und reiste auch an Originalkriegsschauplätze. Und sie führte Interviews mit fast 200 Veteranen der Roten Armee. Dreiviertel der sowjetischen Soldaten waren einfache Leute, Bauern, die durch die Kollektivierung ihr Land verloren hatten und deshalb dem System nicht unbedingt eng verbunden waren. Politoffiziere sorgten dafür, dass die Soldaten ideologisch geschult wurden und keiner es wagte, offen das Regime zu kritisieren. Was die Frontsoldaten zum Kämpfen motivierte, war zum einen der Druck, der auf sie ausgeübt wurde – Deserteure wurden erschossen. Zum anderen, so die These der britischen Historikerin, der Wunsch nach Vergeltung für das, was die deutschen Soldaten an Verwüstungen und Grausamkeiten angerichtet hatten. Dazu kam ein ideologisches Moment: Der Glaube an den Fortschritt und das Kollektiv und die Hoffnung auf einen „Sieg der Gerechtigkeit über die Düsternis“.

Nach der Niederlage Hitler-Deutschlands forderten viele sowjetische Offiziere Reformen und eine vorsichtige Liberalisierung des Systems. Das Gegenteil war der Fall. Die von den Soldaten der Roten Armee erbrachten Opfer zählten nicht bei der Gestaltung der Nachkriegspolitik – die Veteranen wurden instrumentalisiert.

„Damit nahm ein ideeller Soldat die Stelle der verschiedenartigen, eigensinnig selbstbewussten Frontheimkehrer ein. Und während man diesen fiktiven Helden pries, wurden die leibhaften Veteranen missverstanden und unfreiwillig idealisiert, ansonsten aber gewöhnlich übergangen oder zurückgewiesen.“

Das noch von Stalin verordnete Schweigen über die Fronterlebnisse hielt Jahrzehnte, das musste auch die Historikerin bei ihren Recherchen erfahren.
„Die schmeichelhafte Version, die glorreiche, gefiel den Soldaten ebenso wie dem Staat.“

Persönliche Erinnerungen wurden verdrängt, darüber sprechen wollen die Veteranen auch heute nur ungern.
„Sie entkörperlichten den Schrecken bis zum abstrakt Unbedrohlichen.“

Catherine Merridale hat mit ihrer Innensicht der Roten Armee eine lesenswerte Studie vorgelegt, auch wenn sie letztlich wenig Neues oder Überraschendes zu Tage bringen kann. Aber sie zeigt eindrücklich die totalitären Mechanismen, bringt die Unmenschlichkeit des Krieges zurück ins Bewusstsein und schafft es auch, „Iwan“ zumindest teilweise aus der Anonymität zu holen. Das Bild der Roten Armee ist nach der Lektüre differenzierter, die einzelnen Schicksale bleiben dennoch schwer greifbar – vielleicht auch wegen der durchaus nachvollziehbaren Weigerung der Kriegsteilnehmer, von ihren Grenzerfahrungen zu berichten.

„Vielmehr beschworen sie in der Terminologie des untergegangen Sowjetstaates Topoi wie Ehre und Stolz, das Recht auf Rache, das Vaterland, Stalin und die Notwendigkeit des Vertrauens. Im Zusammenhang mit Gefechten ließen sie den Einzelnen beiseite, schlossen ihn aus, so als sähe er das alles im Kino. Zwar gab es Leichen und Tränen, aber weder Blut noch Angst noch Exkremente.“

Rezensiert von Georg Gruber

Catherine Merridale: Iwans Krieg. Die Rote Armee 1939-1945
Aus dem Englischen von Hans Günter Holl
Verlag S. Fischer
480 Seiten, 22,90 Euro