Inklusives Gymnasium Tellkampfschule

Motiviert aus tiefstem Herzen

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Ein Kind im Rollstuhl sitzt mit einem zweiten Kind an einem Schultisch.
An der Tellkampschule versucht Förderlehrerin Birthe Stolper viel Unterrichtszeit im Gruppenraum zu verbringen. Aber nicht immer macht das Sinn. (Symbolfoto) © picture alliance / dpa / Maurizio Gambarini
Von Alexander Budde · 03.05.2021
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In der Schullandschaft ist das inklusive Gymnasium ein junges Phänomen. Vom gemeinsamen Lernen können alle Beteiligten profitieren. Ob das auch in Zeiten der Covid-Pandemie gelingt, lässt sich in einer Inklusionsklasse in Hannover beobachten.
"Ich musste noch zwei Blätter machen. Aber die gingen schnell. Zuhause hat man Ablenkung. Da rennt man manchmal in die Küche. Da sagt man: Mama, darf ich Fernsehen gucken? Aber in der Schule nicht, weil da hat man so Aufgaben zu tun."
In der Tellkampfschule in Hannovers Stadtbezirk Südstadt büffeln sie an diesem Morgen zu viert in der Notbetreuung. Der zwölfjährige Arnas ist mit Englisch schon fertig. Gerade hilft der Fünftklässler seinem Mitschüler Tjark beim Minusrechnen. Neben dem Tablet, von dem Arnas die Aufgaben abliest, liegen bunte Holzklötzchen. Sie dienen zur Visualisierung und als Rechenhilfe.
Arnas, der hier gerade "Nachhilfe" gibt, hat selbst Lernschwierigkeiten. Seine Mutter hat in der Schwangerschaft Alkohol getrunken, seine geistige Behinderung ist eine Folge davon. Arnas braucht viele Wiederholungen und Ruhepausen.
Durch den gymnasialen Lehrplan kommen Förderschüler wie Arnas mit Herausforderungen und Themen in Berührung, die sie unter anderen Bedingungen wohl nicht kennengelernt hätten. Zugleich droht Überforderung.
Schulbegleiterinnen helfen ihm unter anderem dabei, die täglichen Handlungsabläufe zu strukturieren: "Das erste Mal, da musste man sich erstmal die ganzen Räume, die ganzen Wege im Kopf denken. Wo die Mensa ist, wo das Lehrerzimmer ist."

Ausweichen in den "Differenzierungsraum"

Das ehemalige Internet-Café der Schule wurde schon beim Einzug der ersten Inklusionsklasse vor zwei Jahren zum so genannten Differenzierungsraum, "der einfach eine Ausweichmöglichkeit bietet, mit den Schülern mit Förderbedarf in einem eigenen Setting zu arbeiten", sagt Birthe Stolper.
Sie ist speziell als Förderschullehrerin ausgebildet und hat sich gerne an dieses besondere Gymnasium versetzen lassen, eines der wenigen mit Inklusionsklassen in Deutschland. In Arnas Klasse, der 5na, begleitet sie die fünf Schülerinnen und Schüler mit Förderbedarf geistige Entwicklung. Sie wähnt sich mitunter im Spagat:
"Soziales Miteinander kann meiner Meinung nach nur entstehen, wenn die Schüler auch wirklich viel Zeit miteinander verbringen. Weil ansonsten ist das immer die Extragruppe, die halt ab und zu nur da ist", sagt Birthe Stolper und räumt dann ein: "Aber natürlich kann ich, wenn ich mit den Schülern mit Förderbedarf im Gruppenunterricht drüben bin, nicht einfach ungehemmt alles so machen, wie ich das vielleicht in diesem Differenzierungsraum machen würde – weil man natürlich Rücksicht aufeinander nehmen muss, in Bezug auf Unruhe im Klassenraum, Rein und Raus, Materialumsatz."
Die Corona-Pandemie tut ihr Übriges: Abstandsgebot und Maskenpflicht seit den Sommerferien. Kein Präsenzunterricht, keine Ausflüge. Wie soll die Klassengemeinschaft da unbefangen zusammenwachsen? Im Dezember, vor den Weihnachtsferien, haben sich die 26 Förder- und Gymnasialschüler das letzte Mal in der Schule gesehen.

Ein Erklärvideo über Sklaverei

"Sklaven sind Menschen. Aber es sind gefangene Menschen", hört man Birthe Stolper in einem Erklärvideo zur Sklaverei im alten Griechenland. "Sie sitzen nicht im Gefängnis, aber sie gehören einem anderen Menschen. Ihr Besitzer hat sie gekauft. Das heißt, er hat Geld bezahlt für den Sklaven. Und dann gehört der Sklave dem Besitzer."
Ganz unabhängig von der Pandemie sind beim zieldifferenzierten Lernen Reflexion und Kreativität gefragt. Alle Schüler, die nach gymnasialen Richtlinien beschult werden, sollen am Ende ihr Abitur machen. Das hat oberste Priorität.
"Für mich bedeutet das in der Praxis, dass die Fachlehrer mir ihre Themen, die sie mit den Gymnasialschülern behandeln, nennen – und ich Aspekte heraussuche und in einer Weise aufbereite, die ich für geeignet halte, dass die Schüler mit Förderbedarf auf ihrem Niveau dann daran mitarbeiten können. Deswegen muss ich immer überlegen, bei den Anforderungen, die ich stellen will, welche Kompetenzen bringt jeder mit?"
Von nicht-sprechenden Kindern bis hin zu relativ flüssigen Lesern: Die Spannbreite der kognitiven Fähigkeiten ist groß. Zugleich bringen die Förderschüler ihren eigenen Lehrplan mit besonderen Fächern wie Hauswirtschaft, Mobilitätstraining und selbstständige Lebensführung mit. Denn mehr als theoretische Inhalte zu büffeln geht es hier um praktisches Tun.
"Natürlich habe ich mich gefragt, haut das hin?", sagt Birthe Stolper. "Das Kollegium ist außerordentlich offen und freundlich eingestellt. Allerdings würde ich jetzt nicht sagen, das sind alles Inklusionsverfechter. Ich glaube, keiner bildet sich hier ein, dass wir fertig sind oder dass das hier perfekt ist. Sondern wir probieren aus und versuchen, unseren Weg zu finden."

Im Team denken, neue Wege ausprobieren

Inklusion funktioniert am besten, wenn sie gar nicht mehr in Frage gestellt wird, sagt Schulleiterin Katharina Badenhop: "Es gibt eine Behindertenkonvention. Und für mich ist klar, dass Teilhabe heißt, alle Kinder haben das Recht, da an Schulleben teilzuhaben, wo sie hinmöchten oder wo auch ihre Eltern sie sich denken können. Die Motivation ist schon aus tiefstem Herzen, weil alle davon profitieren, von diesem Zusammenleben."
Im Team denken, sich reinzuversetzen in andere, neue Wege ausprobieren – all das lernen die Regel- und Förderschüler sowie auch das Kollegium hier. Badenhop erzählt, wie neugierig und engagiert viele dem Projekt gegenüberstehen, aber die Schulleiterin weiß auch: Inklusion kostet Kraft, Nerven und am Ende auch Geld.
Es zuzulassen, dass es eben mal nicht einen vorgeregelten Alltag gibt, sondern man sich auf Einzelne einstellen muss – damit tun sich einige noch schwer, sagt Badenhop. Sie attestiert der Schulform einen Förderbedarf.
"Schule verändert sich, das ist noch nicht angekommen. Gymnasium ist ein System, das so starr ansetzt, dass es natürlich die Leute gibt, die sagen: Bildungseliten, Leistungsprinzip – wir können uns jetzt nicht mit Inklusion aufhalten! Wenn ich mir die Lehrpläne angucke, die schon lange von individualisiertem Lernen sprechen, dann haben wir da ordentlich aufzuholen."

Kampf um den Kontakt zu anderen Kindern

Ginge es nach der Schulleitung, müssten sich Gymnasial- und Förderschullehrkäfte, Schulpsychologen und die von Trägern entsandten Schulbegleiter noch enger vernetzen. Doch momentan müssen – wegen der Pandemie – vor allem die Eltern zu Hause darum kämpfen, dass ihre Kinder nicht den Kontakt untereinander verlieren und dass der Distanzunterricht funktioniert.
Barbara Wierse ist Realschullehrerin. Ihr jüngster Sohn Ingmar ist 13 und hat das Downsyndrom. Nach Monaten im Lockdown ist die Familie ziemlich ausgelaugt, sagt Wierse.
Doch es gebe auch Glücksmomente: "Wir waren im Zoo, Ingmar und ich, und standen bei den Eisbären. Ingmar freut sich sehr, wenn die Eisbären ins Wasser springen, und lachte. Und auf einmal stand ein Junge neben ihm und sagte: Diese Lache kenn ich doch! Da hat er einen Jungen aus seiner Klasse getroffen. Und die beiden sind dann mit uns Müttern im Schlepptau zwei Stunden durch den Zoo getollt. Das sind so Momente, wo man selber weiß, Inklusion klappt!"
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