"Wir wollen nicht als Behindertentheater gesehen werden"
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Seit 1990 arbeiten Menschen mit und ohne Behinderung im Theaterprojekt Thikwa in Berlin zusammen. Anfangs ein Novum: das erste Inklusionsprojekt dieser Art in Deutschland. Heute hat das Theater Thikwa einen festen Platz in der Theaterszene.
Auf einem alten, charmanten Fabrikgelände im Bergmannkiez befindet sich das Theater Thikwa. Das Besondere: Hier arbeiten Schauspieler, Tänzer, Choreografen, Künstler ohne und mit Behinderung gleichberechtigt zusammen.
In einem kleinen Hinterhofstudio erfüllen Ausgelassenheit und Wärme den Raum. Das Ensemble des Theaters probt das neue Stück "Aftershow". Nicole Hummel ist seit 14 Jahren künstlerische Leiterin des Thikwa-Theaters:
"Alle Beschäftigten, die das Ensemble des Theaters darstellen, sind eine extrem heterogene Gruppe", sagt sie. "Wir haben Menschen mit Lernschwierigkeiten, oder ich spreche auch gerne von Lernverlangsamung, psychischen Schwierigkeiten im Alltag bis hin zu Menschen mit Down-Syndrom, Autismus. Es ist eigentlich eine sehr breit gefächerte Gruppe, auch was die kognitiven Verarbeitungsfähigkeiten angeht, extrem unterschiedlich."
Individuelle Ausbildungs- und Arbeitsmöglichkeiten
Das Thikwa besteht aus zwei Bereichen: den Werkstätten für Theater und Kunst - und dem Theater, wo experimentelle Tanz- und Theaterstücke entwickelt werden. Für alle Beschäftigten gibt es individuelle Ausbildungs- und Arbeitsmöglichkeiten als bildende Künstler in den Werkstätten und als Tänzer und Schauspieler auf der Bühne. Viele kombinieren verschiedene künstlerische Arbeitsbereiche in ihrem Alltag. Zusätzlich finden Schulungen statt:
"Es gibt Tanztrainings, Performancetrainings, Schauspieltrainings, Dramaturgiegruppen, Bewegungsgruppen und so weiter - was wöchentlich stattfindet, für alle im Wechsel wie so eine Art rotierendes System."
Thikwa ist hebräisch und heißt Hoffnung. Seit der Gründung 1990 ist viel passiert. Damals waren sie das erste Inklusionsprojekt dieser Art in Deutschland. Mittlerweile hat sich das Thikwa eine eigene Spielstätte und einen anerkannten Platz in der Kunst- und Theaterszene erarbeitet. Auch innerhalb der Inklusionsdebatte sind sie weiter gekommen:
"Wir wollen aber nicht als Behindertentheater aus dieser typischen Ecke wahrgenommen werden, sondern wir sagen, wir arbeiten mit mix-abled Personen und sprechen da lieber von Ressourcen als von Beeinträchtigung oder Defiziten womöglich."
"Ich bin so gut, wie ich bin"
Der 29-jährige Konstantin Langenick hat eine Lernschwäche. Er ist seit 2016 Teil des Theater-Teams: erst als Praktikant, nun als Schauspieler und Tänzer. Derzeit übt er seine Rolle in "Aftershow", der neuen Tanzproduktion. Er trägt Bustier und Shorts, lacht viel und bewegt sich selbstbewusst. Der Raum gehört ganz ihm.
"Theater Thikwa hat mich gut behandelt und mich sehr gut aufgenommen. Bevor ich ins Theater Thikwa kam, hatte ich sehr viele Schwierigkeiten. Besonders im Arbeitsbereich. Thikwa hat mich auf einiges in meinem Leben vorbereitet, was für mich wichtig ist, aber auch gezeigt, dass ich für mich nicht schämen brauche und ich so gut bin, wie ich bin. Egal ob ich langsam arbeite oder schnell arbeite."
In "Aftershow" sowie anderen Theater-Darbietungen im Thikwa ist das Werk ein gemeinsamer, künstlerischer Prozess aller Beteiligten. Die Autorin und Choreografin Juli Reinartz hat bereits mehrere Tanzstücke mit dem Thikwa-Ensemble entwickelt. Sie wünscht sich, dass mit den Schauspielern, egal ob mit oder ohne Behinderung, auf Augenhöhe gearbeitet wird. Für sie heißt das: Der Inklusionsaspekt soll keine Rolle spielen.
"Ich glaube, dass Leute mit Behinderung anfangen müssen, selber Stücke zu machen. Und ich glaube, natürlich, es gibt viele Leute auf der Bühne, aber es gibt nicht so viele Leute hinter der Bühne oder um die Bühne rum. Sowohl was jetzt das Tanztraining betrifft als auch die Autorenschaft."
Die Gehälter kommen von der Arbeitsagentur
Die finanzielle Struktur des Thikwas ist komplex. Die Werkstätten leben von der Nordberliner Werkgemeinschaft. Die Theaterproduktionen werden durch Kulturfördergelder des Berliner Senats bezahlt. Nicht aus sozialen, sondern aus Kulturfördertöpfen. Somit steht das Thikwa in Konkurrenz zu allen anderen Berliner Theatern. Die Gehälter der 44 Beschäftigten stammen von der Arbeitsagentur - also dem zweiten Arbeitsmarkt. Hummel wünscht sich für das Ensemble aber auch größere Chancen auf dem regulären Arbeitsmarkt:
"Sie sind in einer Werkstatt eingestellt und verdienen entsprechend so wie in anderen Werkstätten für Menschen mit Beeinträchtigung. Die Kritik ist eben: in der Werkstatt sind sie nicht auf dem ersten Arbeitsmarkt, sondern werkstattgebunden mit allen Regelungen, die es da eben gibt. Man kann ja Thikwa-Performerinnen und -Performer ausleihen an andere Theater, und für diese Zeit sind sie dann natürlich auf dem ersten Arbeitsmarkt. Aber danach dann eben auch nicht."
Die Kritik gilt den Staatstheatern, aber auch der freie Szene. Wenn Verantwortliche Lust haben, mit behinderten Schauspielern zusammenzuarbeiten, sind es immer Einzelprojekte. Hummel hofft für die Zukunft, dass es auch Interesse an einer Festanstellung gäbe. Bisher ist das noch nicht passiert. Offensichtlich existieren für sie noch immer Barrieren innerhalb der deutschen Theaterlandschaft. Und viel Raum für Verbesserung.