Ingo Schulze

    Von Tobias Wenzel · 30.08.2013
    Wonach suchte Ingo Schulze als Kind vergeblich zwischen den Grab-Pflanzen? Und warum freut er sich heute, wenn ein Flugzeug lärmend über den Friedhof fliegt?
    Sommer 1969. Ein sechsjähriger Junge erkundet den Alten Friedhof im Dresdner Stadtteil Klotzsche. Er geht von Grab zu Grab, schiebt mit den Händen die Blätter der Pflanzen beiseite. Zum ersten Mal hat ihn seine Mutter zum Friedhof mitgenommen. Die Oma des Kleinen ist gestorben und liegt hier nun begraben. Das Kind ist verwirrt. Es kann auf den Gräbern nicht finden, was es sucht: die Nasen der Toten.

    "Ich dachte, die müssten ja auch irgendwie Luft bekommen. Das hat mich nicht sonderlich befriedigt, als meine Mutter dann sagte: 'Nein, nein. Die sind hier tief unter der Erde und die leben auch nicht mehr.' Ich wusste ja nicht, wie Gerippe aussehen. Für mich lagen da Menschen. Und ich konnte mir nicht vorstellen, wieso die jetzt plötzlich nicht mehr atmen sollten. Tod und Schluss, das gab es für mich nicht."

    Vier Jahrzehnte später ist Ingo Schulze nun auf den Friedhof seiner Kindheit zurückgekehrt, in Anzug und mit glänzend polierten schwarzen Schuhen, als wollte er einer Beerdigung beiwohnen. An diesem Abend hat die Theaterfassung seines Romans "Adam und Evelyn" Uraufführung in seiner Geburtsstadt Dresden. Ein schöner Anlass für den Wahlberliner, um einmal wieder auf dem evangelisch-lutherischen Friedhof am Hang vorbeizusehen. 500 Meter vom Friedhof entfernt, lebte Ingo Schulze, bis er 18 wurde. Bis heute ist es für ihn der Friedhof schlechthin geblieben:

    "Hier ist jetzt viel Rasen, hier ist Ruhe, da sind die Bäume. Es ist doch wirklich sehr angenehm. Wenn man kein Hotelzimmer hat oder niemanden kennt, könnte man hier her gehen und sich einfach so mal eine halbe Stunde hinlegen und vielleicht sogar auch einschlafen. Und dann geht man wieder."

    Ingo Schulze steht vor dem Grab seiner Großeltern Klara und Friedrich Fischer. Die Buchstaben und Ziffern und ein schlankes Kreuz aus Metall sind an einem grob beschlagenen Feldstein angebracht. Ein gewaltiger Nadelbaum überragt die Friedhofsmauer.

    Ingo Schulze auf dem Alten Friedhof Dresden-Klotzsche
    Ingo Schulze auf dem Alten Friedhof Dresden-Klotzsche© Tobias Wenzel/ Knesebeck Verlag

    Ein Flugzeug fliegt über unsere Köpfe hinweg. Für Ingo Schulze gleichsam ein akustischer Aufruf, um über seinen Großvater zu sprechen:

    "So ist die Familie auch hierhergekommen. Mein Großvater war Flugzeugbauer. Die haben ja hier versucht, das erste Düsenpassagierflugzeug der Welt zu bauen. Ist ihnen auch gelungen. Aber sie wollten zu schnell sein. Und da ist es ihnen abgestürzt. Das ist ein richtiges Trauma dieser Gegend. Ein DDR-Trauma."

    Unweit des Grabes seiner Großeltern hat Ingo Schulze eine leere Fläche entdeckt: Hier stand einmal der Grabstein seiner tödlich verunglückten Mitschülerin Trixie. Nun ist das Grab, wie viele andere auch, eingeebnet.

    "Man hat sich immer die Grabsteine so angeschaut und gedacht: Dann und dann gestorben. Und jetzt bleibt dieser Stein hier. Aber dann ist da nicht nur jemand tot, sondern verschwindet auch noch irgendwann der Stein. Also auch die Erinnerung daran. Das wird mir hier eigentlich erst in diesem Moment klar. Das ist schon irritierend. Aber ich finde es doch schön, dass das Grab von meinen Großeltern noch hier ist. Auch wenn ich fünf, sechs, sieben, acht Jahre nicht mehr hier gewesen bin."

    "Ich habe gerade gesagt, dass es hier so still ist. Aber jetzt hört man ständig ein Flugzeug. Und das hat auch etwas Schönes. Mein Großvater kann sich jetzt praktisch die Flugzeuge, die hier in Dresden-Klotzsche starten, angucken. Da ist die Hanglage ein guter Beobachtungsposten."

    "Ingo Schulze, Alter Friedhof Dresden-Klotzsche, Deutschland"