Informelle Ökonomie

Leben und arbeiten in der Schattenwirtschaft

30:32 Minuten
Ein Mann entlädt am 20.07.2016 auf dem Gikomba-Markt in Nairobi (Kenia) einen Lastwagen Altkleidern.
Tausende Bündel mit gebrauchter Kleidung kommen täglich auf dem Gikomba-Markt in Nairobi an. © picture alliance / dpa / Anna Kerber
Von Caspar Dohmen · 05.11.2019
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Arbeitende weltweit verdienen ihr Geld mehrheitlich in der sogenannten Schattenwirtschaft: Sie zahlen weder Steuern noch Sozialabgaben. Aber obwohl dieser Bereich am Rande der Legalität gedeiht, ist er doch kein vollkommen ungeregeltes Terrain.

Der Gikomba-Markt – ein Chaos, in dem sich Menschen organisieren.

Der Gikomba-Markt in Kenias Hauptstadt Nairobi ist der größte Markt für Second-Hand-Bekleidung in Ostafrika. Stände mit Schuhen, Jeans, Blusen, T-Shirts. Für groß und klein, breit und schmal, jung und alt.
Verkäufer preisen Waren und ein aggressiver Prediger Gott. Tausende Besucher drängen sich über die schmalen Lehmwege zwischen den Verkaufsständen. Knallige Farben. Gedrehte Haare.
Muhord Gicheha steht in dem Trubel gelassen hinter einem Berg Pullover: "Ich bin ein Spezialist für Jacken und Pullover, andere hier sind es für Schuhe, T-Shirts oder Wickeltücher für Babys. Es gibt über 10.000 Händler hier."
Handwerker arbeiten in ihren Geschäften auf dem Gikomba Market in Nairobi.
Ein großer Teil der Erwerbsbevölkerung des Landes arbeitet im informellen Sektor. © AFP/ Simon Maina
Die Händler auf dem Gikomba-Markt werden der sogenannten informellen Wirtschaft zugerechnet– also dem Bereich Ökonomie, der praktisch keiner staatlichen Regulierung unterliegt. Ihr Einkommen reicht oft nur für ein Leben auf Subsistenzniveau. Die hier Tätigen zahlen keine Steuern oder Sozialabgaben. Arbeits- und Sicherheitsstandards gelten hier nicht und gehandelt wird oft gefälschte Markenkleidung. Man zahlt bar. Der Staat setzt hier keine Rahmenbedingungen – im Gegenteil: Er bekämpft - oft allerdings halbherzig - das illegale Tun. Das erzeugt erhebliche Unsicherheit für die Menschen dort.

Ein Geschäftsfeld mit erheblicher Unsicherheit

Sie müssen sich in einem Geschäftsumfeld zurechtfinden, dass von Kriminalität und Willkür geprägt ist. Trotzdem, und das rückt derzeit in den Fokus der Wissenschaft, gilt auch hier nicht ausschließlich das Recht des Stärkeren, gibt es Schutzmechanismen und Regeln. Trotz harter Konkurrenz hilft man sich und bisweilen stellt die Schattenwirtschaft regelrechte soziale Schattensysteme auf die Beine.
Weltweit sind rund zwei Milliarden Erwerbstätige in der informellen Wirtschaft tätig, darunter 740 Millionen Frauen. Und es werden immer mehr wie Lorraine Simbanda, Präsidentin der Organisation Streetnet, die 550.000 Arbeitende aus der informellen Wirtschaft in 47 Ländern vertritt, klarmacht: "Es gibt global eine Verlagerung von Arbeitsplätzen und eine große Verlagerung von formeller zu informeller und prekärer Arbeit."
Händler sitzen vor ihren Geschäften und warten auf dem Gikomba Market in Nairobi.
Der Marktplatz ist gefüllt mit Waren, nur die Käufer bleiben aus.© AFP/ Simon Maina
Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte der Anteil der informellen Arbeit drei Jahrzehnte abgenommen. Erst in den früh industrialisierten Ländern in Europa, Amerika oder Japan - dann vielerorts. Experten erwarteten, dass der Trend anhalten und formelle Arbeitsverhältnisse, also an soziale Standards gebundene Tätigkeiten, sich als Normalität durchsetzen würden. Aber in den 90er-Jahren kehrte sich der Positivtrend um. Seitdem steigt der Anteil informell Arbeitender wieder.
Laut Internationaler Arbeitsorganisation arbeiten im weltweiten Schnitt heute 61 von hundert Erwerbstätigen in der informellen Ökonomie, in Afrika 85, in Asien 68, in Amerika 40 und in Europa und Zentralasien gut 25 von hundert Erwerbstätigen. Neue Inseln der Informalität wachsen mittlerweile auch in reichen Industrieländern, wie die Sweatshops in Italien, England oder Argentinien.

Der Textilmarkt La Salada - ein Chaos, in dem man sich hilft.

Wer aus Buenos Aires in südlicher Richtung fährt, überquert den übelriechenden Rio Matanza-Riachuelo und gelangt in die Stadt Lomas des Zamora. Hier ist der Markt La Salada, benannt nach den im Untergrund sprudelnden Thermalquellen: La Salada, die Gesalzene. Dienstags, donnerstags und sonntags kommen abertausende Menschen hierher.
Der Markt erstreckt sich über 18 Hektar, was einer Fläche von etwa 25 Fußballfeldern entspricht. Der Großteil der 8000 Stände sind wenige Quadratmeter große Drahtverschläge, die sich die Händler tageweise von den illegal tätigen Organisatoren des Marktes mieten. Auf La Salada kaufen Verbraucher und Großhändler - in großem Stil und billig. Müllsäcke voller T-Shirts, Turnschuhe und Bettwäsche werden zu wartenden Bussen geschleppt, die die Waren zu anderen kleinen Märkten fahren. Märkten in Argentinien selbst oder in den Nachbarländern Bolivien, Chile, Paraguay und Uruguay. La Salada gilt als der größte Freiluftmarkt Lateinamerikas und als Umschlagplatz für gefälschte und raubkopierte Waren.
Die öffentliche Vorstellung vom Leben und Handeln auf solchen illegalen Märkten ist von Mafiabanden, von Mord und Totschlag geprägt. Und das alles gibt es ja auch, aber jenseits solcher popkultureller Vorstellungen findet man dort eine entwickelte und durchaus regulierte Ökonomie.

Illegale Märkte als Forschungsobjekt

Matias Dewey, Soziologe am Max Planck Institut für Gesellschaftsforschung in Köln: "Wenn man denkt, dass der Staat, dass der Rechtsstaat keine Rolle spielt, könnte man, vor allem, wenn man die Literatur zu diesem Thema liest, könnte man erwarten, dass die Gewalt viel höher ist, als sie in der Realität ist."
Dewey forscht seit mehr als zehn Jahren zu illegalen Märkten. Erst untersuchte er in seiner argentinischen Heimat den Markt für gestohlene Fahrzeuge, dann den Markt für illegal hergestellte Textilien. Mehr als 30.000 illegale Werkstätten stellen im Großraum Buenos Aires Kleidung her.
Gewöhnlich produzieren Sweatshops im Auftrag von anderen Unternehmen. Das können größere Textilproduzenten, Handelsfirmen oder Modehersteller sein. In Argentinien ist es anders. Die illegal tätigen Produzenten entwerfen und produzieren Mode auf eigenes unternehmerisches Risiko und verkaufen sie anschließend selbst auf La Salada – illegal, sie zahlen keine Steuern und Sozialabgaben und fälschen häufig Markenartikel.
Wo der Staat als Regulierer fehlt oder selbst illegale Marktaktivitäten verfolgt, ergibt sich Unsicherheit auf den Märkten. Die Leute müssen Mittel und Wege finden, trotzdem ihre geschäftlichen Aktivitäten abzusichern zu koordinieren. Neben persönlichem Vertrauen, spielen dabei - wenig überraschend - latente und glaubwürdige Gewaltandrohung, Korruption und Schutzgelder eine große Rolle.

Die Polizei schaut gewöhnlich weg

Auf La Salada zahlen Händler etwa eine illegale Abgabe, die in den Taschen von Polizei und lokalen Politikern landet. Dafür schaut die Polizei gewöhnlich weg. Deswegen ist der Markt praktisch ein rechtsfreier Raum und dann doch wieder nicht, weil er von einem regelrechten Netz informeller Institutionen durchdrungen ist.
"Wenn man an die Schattenwirtschaft denkt", erklärt Matias Dewey, "denkt man auch immer an Gewalt und es ist nicht der Fall. Alle Teilnehmer an diesem Markt wollen, dass diese Wirtschaft funktioniert, niemand ist interessiert daran, dass diese Wirtschaft kaputt geht, aus diesem Grund: Die versuchen genauso wie in der legalen Wirtschaft die Verträge einzuhalten."
Auf kriminelles Handeln wie Diebstahl reagieren die illegalen Händler gewöhnlich achselzuckend. Was bleibt ihnen auch anderes übrig? Denn, wenn sie einen Dieb bei der Polizei anzeigen würden, machen sie gleichzeitig ihr eigenes verbotenes Tun aktenkundig.
Auf dem Markt La Salada in Buenos Aires geht eine Frau an einem großen Berg von Stahlabfällen vorbei.
La Salada erstreckt sich über 18 Hektar, was einer Fläche von etwa 25 Fußballfeldern entspricht.© NA / AFP / Martin Di Maggio
Pablo, ein Produzent und Händler, sagte dem Wissenschaftler Matias Dewey, man müsse auf sich selbst aufpassen. Wenn man nicht auf sich selbst aufpasse, habe man ein richtiges Problem.
Immer wieder hat sich der Forscher mit Pablo unterhalten. Erst nach einigen Monaten vertraute der junge Mann und nahm ihn mit in das kleine Haus mit zwei Räumen, wo er mit seinen Eltern und beiden Geschwistern lebt und arbeitet. Die Wände sind feucht, die Farbe blättert ab. In dem Arbeitsraum stehen mehrere Nähmaschinen, auf den Tischen liegen Garne, Scheren und Nadeln. An den Wänden hängen Schnittmuster.
Hier schneidet die Familie Muster und Stoffe zurecht und näht Markenlogos auf, ob von Nike, Adidas oder Puma. Pablo gab sich zufrieden, obwohl die Familie sehr hart arbeiten muss, sechs Tage die Woche, 20 Stunden am Tag.
"Natürlich man muss diese Wirtschaft nicht romantisieren", sagt Matias Dewey. "Es geht um illegales und informelles Tun und das bedeutet auch, zum Beispiel, Ausbeutung von Kindern, Ausbeutung von Jugendlichen, es gibt auch Menschenhandel. Und natürlich muss man auch nicht sagen, dass Gewalt komplett ausgeschlossen ist oder Betrügereien auch ausgeschlossen sind. Es ist nicht der Fall."

Geschichten vom "kleinen" Aufstieg

Viele Menschen auf dem Markt sind aber zufrieden. Oft erzählten sie von ihrem kleinen Aufstieg, auch Jose. "Es hat länger gedauert zu sparen, als ich dachte, trotzdem konnte ich mir meine Wünsche erfüllen. Ich habe ein Auto gekauft und jetzt möchte ich mir ein neues kaufen. Mehr als die Hälfte des Hauses, in dem wir leben, habe ich bereits bezahlt. Es ist ein schönes Haus. Ich bin immer aktiv. Gerade habe ich ein kleines Stück Land gekauft, ich sehe es als eine Investition an."
"Ein Phänomen, das mich gewundert hat im Laufe der Feldforschung", sagt Matias Dewey, "waren die hohen Erwartungen und Hoffnungen, die diese Menschen hatten. Die Dimension der Hoffnung war so hoch, dass ich dachte, das ist doch wie ein American Dream in Buenos Aires, weil die Menschen dachten, dass mit harter Arbeit alles gut wird."
Regelmäßig drängen neue Produzenten auf den Markt. Für Neulinge sei es hart, in dem Geschäft Fuß zu fassen, hat Jose dem Forscher erklärt: "Wer hier bestehen will, muss bereit sein, hart zu arbeiten und sich zu entwickeln. Wer sich als Anfänger nicht aufopfert, schafft es nicht! Mit anderen Worten: Wenn du anfängst, wenn du kommst und aus dem Nichts anfängst, musst du viel Arbeit aufbringen. Schneiden und nähen und nur ein paar Stunden da draußen schlafen, sonst wirst du nicht bestehen können. Du hast keine andere Möglichkeit, mit den Großen zu konkurrieren."
Die Großen, das sind die etablierten illegalen Produzenten, die eigene Leute beschäftigen und bei Zulieferern Dinge erledigen lassen.
"Die Großen verfügen über eigene Werkstätten", sat Jose, "in denen sie wenig an die Beschäftigten zahlen. Sie produzieren große Mengen und haben sogar eine eigene Stempelwerkstatt." Mit denen sie die Logos bekannter Marken nachmachen.

Brutaler Wettbewerb in illegalen Verhältnissen

Auf La Salada herrscht ein brutaler Wettbewerb, weil die Käufer zwischen vielen Anbietern mit praktisch gleichen Produkten auswählen können. Da entscheidet alleine der Preis. Und trotzdem helfen sie sich auch gegenseitig, um in den illegalen Verhältnissen wirtschaftlich zu überleben.
Zwei junge Frauen stehen auf dem Markt La Salada in Buenos Aires und betrachten Textilien, die verkauft werden.
La Salada ist der größte illegale Markt Südamerikas.© picture alliance / dpa / Lisa Rauschenberger
So befreien sich auf La Salada illegale Unternehmer durch Kooperation aus einem Dilemma. Keine Bank gibt ihnen Kredit. Kein Stofflieferant gewährt ihnen Ratenzahlung. Also verhelfen sich die illegalen Unternehmer gegenseitig zum notwendigen Kapital. Ihr Kreditsystem bezeichnen sie als Pasanaku.
"Es geht einfach um eine Gruppe von sagen wir mal zehn Leuten, Produzenten, die müssen etwas kaufen, zum Beispiel Stoff, "erklärt Matias Dewey. "Die setzen zusammen einen Betrag, zum Beispiel tausend Euro, und sie sind zehn Leute. Das bedeutet jede Woche zahlt jeder Teilnehmer hundert Euro ein. Der erste von der Liste bekommt tausend, der zweite von der Liste bekommt nächste Woche tausend, der dritte bekommt in drei Wochen tausend. Und das ist wichtig aus zwei Gründen. Erst mal, die Produzenten müssen regelmäßig Stoff kaufen. Die können nicht einfach in Raten zahlen, sondern die müssen das ganze Geld haben. Aber es gibt auch, das habe ich auch entdeckt, viele Produzenten, die Alkoholprobleme haben und die auch Drogenprobleme haben. Und wenn man an diesem System teilnimmt, hat man nicht das Geld zu Hause."

Spezielle Formen der Finanzierung und Unterstützung

Alle Kreditnehmer müssen den Betrag zu einem vereinbarten Zeitpunkt zurückgeben – ohne Zinsen. Viele der Geschäftsleute beteiligen sich gleichzeitig an verschiedenen solcher Kreditsysteme – auch aus Sicherheit. Denn auf dem illegalen Markt werden alle Geschäfte in bar getätigt. Deswegen sind Unmengen an Bargeld im Umlauf. Es ist sicherer für den Einzelnen, sein Geld zirkulieren zu lassen, als es zu Hause zu deponieren. Das funktioniert nur, weil die Produzenten sich an ihre eigenen Regeln halten.
In einer Halle auf dem Markt hat ein Betreiber ein informelles Unterstützungssytem für Lastenträger eingerichtet, also für die Menschen, die den härtesten Job auf dem Markt erledigen und in der Hierarchie des Marktes unten rangieren. Sie hieven die Stoffballen auf die Karren, kurven zwischen den Ständen hindurch auf die Parkplätze und verladen die Ballen in die Busse. Eine harte Arbeit. Besonders im Winter, wenn die Temperaturen unter den Gefrierpunkt sinken.
Der Hallenbetreiber hat die Zahl der Lastenträger in seinem Bereich auf 145 Beschäftigte begrenzt. Jedem händigte er ein Shirt mit einer persönlichen Nummer aus. Mit der Begrenzung verhindert der Hallenbetreiber einen ruinösen Wettbewerb der Träger um Kundschaft.
"Diese 145 Positionen in dem Markt, die haben einen Preis. Die Menschen haben so ein T-Shirt mit einer Nummer. Und weil die Stellen einen Preis haben, benutzen sie diese in verschiedenen Formen. Eine Form, wie man von diesem T-Shirt profitiert, ist, dass wenn ich krank bin, vermiete ich mein T-Shirt, damit ein anderer Junge arbeiten kann. Das bedeutet, es wird als Krankenversicherung genutzt. Wenn ich krank bin, kann ich mein T-Shirt vermieten, damit jemand anders arbeiten kann. Wenn ich plane in die Rente zu gehen, informell in die Rente zu gehen sozusagen, dann vermiete ich mein T-Shirt und es wird als Rentensystem benutzt. Das heißt, lange Zeit arbeite ich nicht mehr, ich vermiete mein T-Shirt und jemand anders zahlt mir monatlich oder wöchentlich etwas."

Armut und Hunger in Argentinien auf dem Vormarsch

Ausgebeutete beuten Ausgebeutete aus. Das ist nur möglich, weil es in der legalen Wirtschaft in Argentinien zu wenige Jobs gibt und Armut und Hunger wieder auf dem Vormarsch sind. Die T-Shirts können ihre Träger auch als Sicherheit einsetzen, weil legale Geschäftsleute außerhalb des Marktes ihnen einen Wert attestieren.
"Damals war es ungefähr wie 5000 Euro", sagt Matias Dewey, "was in diesem Kontext ziemlich viel ist. Es dient als Pfand für den Einkauf von Elektrogeräten in Geschäften in der Gegend von La Salada. Das heißt Leute, die da arbeiten, die keine Kreditkarte hatten, die waren komplett ausgeschlossen vom System, die konnten trotzdem Elektrogeräte kaufen, weil sie so ein T-Shirt hatten, das einen Preis hatte. Falls diese Leute das Geld nicht zurückgeben, dann nehmen die Manager ihnen das T-Shirt weg - und geben dieses T-Shirt jemand anderem."
Die Existenz illegaler Betriebe hat erhebliche Folgen: Für legal agierende Konkurrenten entstehen Wettbewerbsnachteile und die Standards für Umwelt, Soziales und Arbeit werden ausgehöhlt. Und es gibt einen gehörigen Druck auf die Löhne im legalen Sektor. Denn die informell beschäftigten Näherinnen verdienen zum Beispiel in Argentinien nur halb so viel Lohn wie formell angestellte Näherinnen.
Gleichzeitig finden auf dem illegalen Markt regelmäßig Menschen einen Broterwerb, die sonst geringe Chancen haben. Mancher vergleicht La Salada mit einem Bus, der neue Menschen einsammelt. Auf La Salada sind zehntausende legale Jobs infolge der Aktivitäten der illegalen Sweatshops entstanden. Davon profitieren etwa Sicherheitsleute, Putzkräfte, Köche oder Busfahrer.
Viele dieser Jobs gäbe es nicht, wenn das Land seine Gesetze rigoros durchsetzen würde. Eine solche Menge an Jobs wiegt schwer, wenn lokale Politiker abwägen, ob sie den Markt erhalten oder schließen sollen.

Der illegale Diamantenmarkt in Kono, Sierra Leone, ein Chaos mit Regeln

Im Osten von Sierra Leone wechseln sich Graslandschaften mit dichten Wäldern ab. Es ist die Gegend der großen Diamantenvorkommen. Die wertvollen Steine kommen hier auch in den oberen Bodenschichten vor. Nina Engwicht, die am Max-Plank-Institut für Gesellschaftsforschung mehrere Jahre zu dem illegalen Diamantenmarkt gearbeitet hat und heute als Dozentin beim Bundeskriminalamt tätig ist, erzählt, wie sie Zugang zu den illegalen Schürfern und Händlern von Diamanten fand.
"Die fanden mich einfach ein Kuriosum", sagt sie, "also eine über 30-jährige Frau, die alleine in Sierra Leone reist und forscht und nicht verheiratet ist und keine Kinder hat und dann sagt, dafür ist Zeit, wenn sie ihr Buch geschrieben hat."
Sie zeigt Fotos von ihren Forschungsaufenthalten in dem westafrikanischen Land: Unter dem bedeckten Tropenhimmel klaffen in der Gegend tausende Erdlöcher in der Vegetation. Oft wühlen darin Menschen. Arbeiter schaufeln rostrote Erde in Blecheimer. tragen den Eimer an einen Wasserlauf, kippen die Erde in ein Sieb. Heben und senken das Sieb in schnellem Rhythmus, waschen die feine Erde heraus, bis der Schotter im Sieb übrigbleibt. Wenn sie sehr viel Glück haben, sehen sie den weißlichen Schimmer eines größeren Rohdiamanten.
Meistens finden sie nur Diamantensplitter von der Größe eines groben Salzkorns, die nur wenige Dollar einbringen. Oft haben die Schürfer kein Glück. Beim Sieben der Erde stehen sie bis zu den Knien im Wasser, Brutstätte für Bakterien, Parasiten und Mücken.

Grausame Bürgerkriege um die Bodenschätze

Sierra Leone ist reich an Bodenschätzen, um die es grausame Bürgerkriege gab, hier wurde das Wort von den Blutdiamanten geprägt. Heute herrscht Frieden. Aber trotz Gold, Mangan, Bauxit, Graphit, Platin und Diamanten leben drei von fünf Menschen unterhalb der Armutsgrenze, zwei von fünf Erwachsenen sind Analphabeten und eines von fünf Kindern stirbt vor seinem fünften Geburtstag.
"Natürlich wünschen sich die meisten Menschen sichere Arbeitsverhältnisse", sagt Nina Engwicht, "dass sie einen menschenwürdigen Lohn verdienen, dass sie im Krankheitsfall abgesichert sind, dass sie ihre Kinder in die Schule schicken können und nicht in den Steinbruch schicken müssen zur Arbeit. Ich glaube aber, man muss sich die realen Bedingungen in den jeweiligen Ländern anschauen und die Art und Weise, wie eben der Staat in so einem Land funktioniert, und sich fragen, ist das realistisch, dass man unter diesen Bedingungen Arbeitsverhältnisse formalisieren kann, Arbeitsbedingungen verbessern kann und das dann auch durchsetzen kann."
Kleinbergbauern in Kono, im Osten von Sierra Leone, die nach Diamanten suchen.
Harte Arbeit für wenig Geld - Kleinbergbauern in Kono.© picture-alliance / dpa / Tugela Ridley
40,5 Millionen sogenannte Kleinbergbauern gibt es weltweit - sechsmal mehr als 1993. Die Kleinbergbauern buddeln vier Fünftel der Weltproduktion an Saphiren und je ein Fünftel des Goldes und der Diamanten aus der Erde.
Illegal schürft, wer sich nicht an die staatlichen Vorgaben hält, sich zum Beispiel keine Schürflizenz besorgt. Und die zu bekommen, ist nicht leicht. Denn häufig stellen die Beamten erst dann die Lizenz aus, wenn jemand die Gebühr und ein Bestechungsgeld zahlt. Das können viele der Schürfer nicht, oft reicht es nicht mal für Schaufel, Eimer und Sieb.

Sehr harte Arbeit für sehr wenig Geld

"Das sind Menschen, die wirklich am Subsistenzminimum arbeiten und deren Überleben eindeutig gefährdet wäre, wenn sie jetzt zuerst noch Lizenzgebühr und dazu noch Bestechungsgeld bezahlen müssten" sagt Nina Engwicht. "Das ist einfach eine gefährliche Situation. Und Ähnliches gilt auch für Straßenhändlerinnen oder für eine Vielzahl von Beschäftigten, die sehr, sehr hart arbeiten und dafür sehr, sehr geringe Geldbeträge verdienen."
Andererseits kann diese harte Arbeit praktisch jeder ausüben. Schürfen sehen viele als einzige realistische Möglichkeit eines Broterwerbs. Alle von der Forscherin Befragten hoffen aber auf eine andere Tätigkeit. Viele träumen von dem Fund eines größeren Steins. Einem Stein, von dessen Erlös sie etwa ein kleines Geschäft gründen können. Meistens lassen die staatlichen Kontrolleure die illegalen Schürfer gewähren. Oft sind die schlecht bezahlten Beamten auch auf Geldgeschenke der Schürfer angewiesen, um selbst über die Runden zu bekommen.
"Es gibt verschiedene Gründe dafür", erklärt Nina Engwicht, "beispielsweise dass doch Staatsangestellte Mitleid haben mit den Menschen, die im informellen Sektor arbeiten. Natürlich ist auch Korruption ein wichtiger Grund oder einfach bestehende soziale Beziehungen wie Freundschaft, Familienbeziehungen, oder dass man seinen Nachbarn nicht festnehmen möchte. Das sind Faktoren, die die effektive Strafverfolgung in solchen Situationen dann verhindern, zuweilen auch die Formalisierung von bestimmten Arbeitsverhältnissen."
Trotz harten Wettbewerbs kooperieren Konkurrenten in der Schattenwirtschaft häufig, erlebte Nina Engwicht beim Diamantenhandel in Kono. Auf dem illegalen Markt gibt es einen gewählten Vorsitzenden, es gibt Berater und sogar Schatzmeister.
Ein Diamantensucher filtert in Koidu, der Hauptstadt des diamantenreichen Kono-Distrikts, im Osten Sierra Leones, Erde aus einem Fluss.
Der Kleinbergbau hat das Kono Gebiet seit der Entdeckung von Diamanten im Jahr 1930 bewahrt, die Oberflächendiamanten sind jedoch fast erschöpft.© AFP/ Issouf Sanogo
Ein Neuling muss sich auf dem illegalen Markt in Kono anmelden und Geld in einen gemeinsamen Fonds einzahlen. Sofort werden 20.000 bis 25.000 Leone fällig, umgerechnet etwa zwei Euro, später auch noch ein Teil der Erlöse. Aus diesem Topf bekommen Händler Geld, etwa wenn sie krank sind, sie heiraten oder ein Kind bekommen haben.

Alternative Sicherungssysteme für Notfälle

"Das bedeutet dann aber in der Realität, dass sehr viele Menschen sich alternative soziale Sicherungssyteme aufbauen und diese pflegen, die eben einspringen", sagt Nina Engwicht. "Das bedeutet, dass man im familiären Kreis oder im Patronage-Netzwerk Menschen hat, an die man sich wenden kann, wenn man einen familiären Notfall hat, wenn man sich ein Medikament kaufen muss, dann gibt es eben diese gesellschaftlichen Netzwerke, die dabei einspringen."
Die illegalen Händler verschaffen sich durch dieses solidarische Auffangnetz für Risikosituationen ein minimales Maß an Sicherheit. Und das in einem Land, das keine wohlfahrtsstaatlichen Maßnahmen kennt. Für manche ist der Fonds im Ernstfall der einzige Lichtblick. Auf diesen illegalen Diamantenmärkten beobachtet die Forscherin auch ein besonderes Verkaufsgebaren.
Wenn ein Händler einen Stein von einem Schürfer erstand, verkaufte er ihn nicht gleich an einen legalen Großhändler, sondern an einen seiner illegalen Kollegen auf dem Markt. Und dieser Händler verfuhr genauso. Ein Diamant wanderte durch die Hände mehrere illegaler Kleinhändler, bevor er an einen legalen Großhändler oder Exporteur verkauft wurde. Mehrere Händler bekommen so etwas vom Erlös des Diamanten - und nicht einer alles. Was für Außenstehende als unsinniges ökonomisches Verhalten erscheint, macht für die Beteiligten Sinn. Der Einzelne verdient zwar weniger an einem Stein, aber dafür verdienen sich alle stetige Einnahmen.

Der Staat lässt die Akteure gewähren

Der Verkauf von Altkleidern auf dem Gikomba-Markt oder neu hergestellten Textilien auf La Salada oder das Schürfen und Handeln illegaler Diamanten in Sierra Leone sind nur möglich, weil der Staat die Akteure gewähren lässt. Hier wie vielerorts findet das staatliche Nichtstun gegenüber illegalen Märkten den Beifall großer Teile der lokalen Bevölkerung, weil sie es als legitim erachten. Was Menschen als legitim oder illegitim ansehen, variiert zwischen Gesellschaften, Milieus und mit der Zeit.
So waren Schwarzmärkte nach dem Krieg in Deutschland verboten. Obwohl der illegale Handel mit überlebensnotwendigen Gütern teilweise drakonisch bestraft wurde, war er in den Augen großer Teile der Bevölkerung und sogar mancher Autoritäten sozial legitimiert.
Ende 1946 hielt Kardinal Josef Frings im kriegszerstörten Köln eine Predigt. Zum siebten Gebot, "Du sollst nicht stehlen", sagte er: "Wir leben in Zeiten, da in der Not auch der Einzelne das wird nehmen dürfen, was er zur Erhaltung seines Lebens und seiner Gesundheit notwendig hat, wenn er es auf andere Weise, durch seine Arbeit oder durch Bitten, nicht erlangen kann."

Legitimität hängt von vielen Faktoren ab

Die Menschen sprachen daraufhin vom "Fringsen" als Bezeichnung für Stehlen aus blanker Notwendigkeit. Das Gleiche gilt heute zum Beispiel für das illegale Handeln und Schürfen von Diamanten in Sierra Leone. Beide genießt ein hohes Maß an Legitimität unter den Einheimischen, anders als in großen Teilen der Weltbevölkerung. Darum wird es auch immer informelle und illegale Arbeit geben. Viele informell Tätige erfüllen wichtige soziale Funktionen, zum Beispiel in der Altenpflege.
Das ist kein Plädoyer für unsichere und unbezahlte Arbeitsverhältnisse. Aber viel wäre gewonnen, wenn wir uns in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung auf die sozial schädlichen Aspekte illegaler Märkten konzentrieren würden. Dazu gehört die Bekämpfung der organisierten Kriminalität, der Steuerhinterziehung durch Konzerne oder schwere Verbrechen. Aber nicht die Bestrafung des kleinmaßstäblichen Handels auf den Straßen oder das mühselige Schürfen von Diamantensplittern auf Subsistenzniveau. Diese Tätigkeiten gilt es zu tolerieren, solange den Betroffenen kein Ausweg bleibt, ihren Lebensunterhalt auf legale Weise zu sichern.

Autor: Caspar Dohmen
Es sprechen: Markus Hoffmann, Cornelia Schönwald, Birgit Dölling
Regie: Klaus Michael Klingsporn
Ton: Jan Fraune
Redaktion: Martin Hartwig

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