"Informationen nicht einfach schreddern"

Herbert Ziehm im Gespräch mit Klaus Pokatzky |
Ein Déjà-Vu-Erlebnis für Deutsche, das an 1990 erinnert: Auch die Ägypter haben ihren verhassten Überwachungsapparat zu Fall gebracht. Herbert Ziehm von der Stasi-Unterlagen-Behörde sprach mit den Revolutionären über gemeinsame Erfahrungen.
Klaus Pokatzky: Ägypten hat 83 Millionen Einwohner. Rund 100.000 davon sollen als hauptamtliche Agenten für die Staatssicherheit gearbeitet haben. Dazu könnten noch einmal 300.000 inoffizielle Mitarbeiter kommen. Während der Revolution im Land wurden die Zentralen des Sicherheitsapparates gestürmt wie weiland die der Stasi der untergehenden DDR vor gut zwei Jahrzehnten.

Bei der Erstürmung der Stasi-Zentrale in der Berliner Normannenstraße im Januar 1990 war auch Herbert Ziehm dabei, als Mitglied eines Bürgerkomitees. Heute ist er stellvertretender Leiter der Abteilung Auskunft der Stasi-Unterlagen-Behörde und nun bei uns im Studio. Herzlich willkommen, Herr Ziehm!

Herbert Ziehm: Ja, schönen guten Tag!

Pokatzky: Herr Ziehm, jetzt waren Sie in Ägypten und haben da gesprochen mit den Leuten, die da die Staatssicherheit gestürmt haben. War das alles so ein Déjà-vu-Erlebnis für Sie?

Ziehm: In gewisser Weise schon. Ich war sehr erinnert an die Tage in Berlin vor 20 Jahren, auch wenn es heutzutage aufgrund modernerer Kommunikationstechnik auch wieder ganz anders ist. Es waren viele Leute, junge Leute in Kairo unterwegs, die sich aber nicht so altertümlich wie wir uns verabredet haben, in irgendwelchen Räumen zusammengesetzt, sondern per Internet, per Facebook sozusagen sich auf den entsprechenden Seiten verständigt haben. Und natürlich, ich war ein wenig später da: Die Haupterstürmung am 5. März war ja schon ein paar Tage vorbei.

Pokatzky: Sie haben also mit Leuten, die ja ganz offenbar in einer Aufbruchstimmung sind, gesprochen. Welche Gedanken machen die sich denn überhaupt, was sie jetzt mit den Hinterlassenschaften in Form von Akten, was ihre Staatssicherheit angeht, tun sollen?

Ziehm: Die Fragen waren eigentlich die gleichen, die wir vor 20 Jahren hatten: Sollen wir die Akten nicht lieber alle vernichten, sollen wir die Informationen nicht einfach schreddern und den Deckel des Schweigens und Vergessens darüber bringen …

Pokatzky: … und welches waren die Antworten, die …

Ziehm: … meine Antwort war, auch wir haben ja das diskutiert, aber was ist die Alternative? Man hat das Kopfwissen noch, das kann man nicht zerschreddern, das Kopfwissen der Stasi-Mitarbeiter. Und ich möchte daran erinnern, wir hatten in den 1990er-Jahren die gleichen Diskussionen in Polen, und letztendlich hat man sich aber auch in Polen dazu entschieden, die Unterlagen öffentlich zugänglich zu machen, um eben nicht Gerüchten und Intrigen von ehemaligen Geheimdienstmitarbeitern aufzusitzen.

Pokatzky: Das heißt also, die dann die Einzigen wären im Grunde, die vielleicht Akten beiseite geschafft haben und die dann andere Leute damit erpressen können in der Politik …

Ziehm: … genau. Das ist die Erfahrung gerade auch unserer osteuropäischen Nachbarn, die ja ähnliche Probleme hatten und deren Situation vielleicht noch besser vergleichbar ist mit der Zeit, die wir jetzt in Ägypten gerade erleben. Aber ich denke, da muss eine große Diskussion in der Bevölkerung in Ägypten stattfinden und ein möglichst großer breiter Konsens, wie mit den Akten umzugehen ist. Wir können sagen, wir haben nicht nur in Deutschland, wir haben im gesamten Osteuropa eigentlich gute Erfahrungen, diese Unterlagen offen zugänglich zu machen.

Pokatzky: Wie sind Ihre Ratschläge da angekommen? Sind die da auch offen angenommen worden oder gab es vielleicht doch auch Skepsis, dass Leute gesagt haben, ja oh Gott, oh Gott, aber dann haben wir weiter Diskussionen, die wir vielleicht gar nicht haben, wenn wir jetzt schreddern?

Ziehm: Meine Worte wurden, denke ich, sehr offen aufgenommen und sie wurden auch nach allen Seiten hin offen diskutiert. Ich habe mich auch zurückgehalten mit Ratschlägen, das kann man nicht machen, das muss die Bevölkerung, das müssen die Einwohner Ägyptens letztendlich selbst entscheiden, wie sie mit diesen Dingen umzugehen haben. Denn jede Situation ist anders und auch nicht vergleichbar, diese Erfahrung haben wir gerade ja auch mit unseren osteuropäischen Partnern erlebt. Aber ich denke, wir haben ein Nachdenken angeregt, ein Nachdenken angestoßen, und ich gehe auch davon aus, dass die Kontakte nicht das letzte Mal so geknüpft worden sind, sondern man wird sich mit diesem Thema weiter auseinandersetzen. Ich glaube, wir sind eher so zur Stunde Null dort angekommen.

Pokatzky: Nun ist die ägyptische Staatssicherheit unrühmlich dafür berühmt gewesen, dass sie gefoltert hat, dass sie vergewaltigt hat, also sich doch ganz anderer Methoden bedient hat als die Staatssicherheit in der DDR. Hatte die ägyptische Staatssicherheit auch so diesen Drang, eine unglaubliche Masse an Akten ja quasi in so einem preußisch-pedantischen Sinne anzuhäufen, wie das die Stasi in der DDR getan hat?

Ziehm: Ja, das waren auch meine Fragen an die Aktivisten dort vor Ort und die waren zum einen Teil sehr euphorisch und präsentierten ja auch Kopien von Aktenbergen, aber ich persönlich bin da sehr skeptisch, dass das wirklich alles war. Auch das erinnerte mich sozusagen an den Januar 1990, als in der Normannenstraße die ersten Aktenberge aus dem Fenster flogen. Heute wissen wir, dass das eigentlich das Unwichtigste war, was diese Stasi zu verbergen hatte, nämlich Unterlagen über Sportvereine und über Kantinenessen.

Pokatzky: Also sozusagen, mit denen der Appetit der Bürgerrechtler geweckt werden sollte und die dachten, da haben wir jetzt wichtige Sachen?

Ziehm: Ja, es ist nicht auszuschließen, dass es so war, und auf meine Frage hin, ob man denn überhaupt über die Strukturen Bescheid weiß, über die Mengen der Information, da bekam ich doch sehr ausweichende Antworten. Und ich glaube, man muss sich erst mal sozusagen sachkundig machen, was hat man da für eine Krake Stasi in Ägypten jetzt lahmgelegt. Und ja eigentlich mein Hinweis: Wenn man auch noch nicht weiß, was man damit macht, so sichert doch die Akten, sichert die Gebäude und sorgt dafür, dass nichts vernichtet wird. Das ist, glaube ich, so im Moment der wichtigste Rat, den man geben kann.

Pokatzky: Herbert Ziehm von der Stasi-Unterlagen-Behörde über die Aufarbeitung der Geheimdienstakten in Ägypten. Aber Herr Ziehm, welches Bild haben Sie denn jetzt von dieser ägyptischen Revolution mitbekommen? Im Moment herrscht ja ein Militärrat, der das Ganze so auf demokratische Wege bringen soll. Ja, wie groß ist denn überhaupt die Chance, dass die, die demonstriert haben, gekämpft haben für eine Demokratisierung, überhaupt an die Akten auch richtig rankommen und sie verwalten können? Sind die nicht in den Händen der Militärs jetzt?

Ziehm: Ja, Sie haben recht, das Gebäude der Staatssicherheit direkt in Kairo, ich habe es mir von außen angeschaut, leider konnte ich es nicht betreten, aber es sieht sehr martialisch aus und wird auch im Moment vom Militär gesichert. Wobei das Militär sagt, sie vernichten nichts, sie sichern nur alles.

Pokatzky: Glauben Sie das?

Ziehm: Ja es bleibt abzuwarten, ob die Aktivisten, die jungen Revolutionäre sozusagen ihre Forderungen letztendlich weiter durchsetzen wollen. Der Militärrat hat jetzt erst einmal aufgefordert, alle Unterlagen zurückzugeben, und das auch ganz modern mit Massen-SMS an jeden Bürger Ägyptens versandt … Die Aktivisten haben es auch gemacht …

Pokatzky: … aber teilweise haben sie auch schon Sachen ins Internet gestellt …

Ziehm: … ja, sie waren natürlich so klug und haben es vorher kopiert, was sie zurückgegeben haben, und haben es jetzt ins Internet gesetzt. Also insofern ist die Situation vollkommen anders, die Informationen sind schon breit gestreut. Aber man muss prüfen, inwieweit sind es wirklich echte Informationen?

Pokatzky: Wie haben denn die Behörden auf Ihre Reise – Sie sind eingeladen worden von der Konrad-Adenauer-Stiftung in Kairo –, wie haben die Behörden darauf reagiert, haben die mit Ihnen auch kooperiert, wollen auch die Behörden, also nicht nur die Aktivisten von Ihnen etwas wissen aus Ihrem Erfahrungsschatz?

Ziehm: Ja die Aktivisten wollten gerne, dass ich mit ihnen zusammen zum Innenministerium vordringen konnte. Und das ging lange hin und her und sozusagen in letzter Minute, am Montag Vormittag, kurz vor meiner Abreise bekamen wir doch dann noch einen gemeinsamen Termin im Innenministerium. Das war nicht nur ein reiner Höflichkeitstermin, sondern es ging dann schon um inhaltliche Fragen, um Fragen des Datenschutzes, auch wieder um die Frage, sollen wir nicht lieber vernichten. Auch da konnte ich nur sagen: Bevor Sie so einen Entschluss fassen, überlegen Sie erst mal, welche Informationen überhaupt vorhanden sind.

Pokatzky: Gibt es eigentlich so ein allgemeines Verhaltensmuster, wie sich Geheimdienstler beim Übergang von einer Diktatur zu demokratischen Verhältnissen zu retten versuchen und auch das, was sie so alles gesammelt haben im Laufe von Jahren und Jahrzehnten vielleicht, zur Seite bringen?

Ziehm: Ja, es gibt immer das gleiche Muster, dass man plötzlich als Geheimdienstmitarbeiter sozusagen den Rechtsstaat entdeckt und sagt, das ist ja alles rechtsstaatswidrig gesammeltes Material und wir raten, möglichst das rückstandsfrei zu vernichten und dann sozusagen ein neues System, einen neuen Staat aufzubauen. Das erleben wir sehr häufig und das führt einfach nur dazu, dass das Kopfwissen bleibt, aber man keine Möglichkeit hat, dieses Kopfwissen nachzuprüfen.

Pokatzky: So nach all den Gesprächen, die Sie jetzt in Ägypten geführt haben, wie hoch schätzen Sie die Chance ein, dass es auch nur eine mit der Stasi-Unterlagen-Behörde vergleichbare Institution in Ägypten geben könnte?

Ziehm: Das ist schwierig im Moment einzuschätzen, da wage ich einfach keine Prognose.

Pokatzky: Aber Sie sind nicht völlig hoffnungslos?

Ziehm: Nein, völlig hoffnungslos nicht! Ich baue doch auf die jungen Aktivisten vor Ort, die offensichtlich auch gewillt sind, das Thema nicht aus den Augen zu verlieren.

Pokatzky: Und Sie würden sie im Zweifelsfall, wenn eine Anfrage käme, dabei auch weiterhin unterstützen?

Ziehm: Ja, gerne!

Pokatzky: Herbert Ziehm sagt das von der Stasi-Unterlagen-Behörde über die Staatssicherheit in Ägypten und was mit den Akten dort nun geschehen könnte.
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