Indische Kampfkunst Kalaripayattu

Mit Hilfe der Götter kämpfen

06:35 Minuten
Zwei Kalaripayattu Kämpfer mit langen Säbeln und runden Schildern in Aktion
Die südindische Kampfkunst Kalaripayattu mit langen Säbeln und runden Schildern ist gerade sehr angesagt. © laif / Christophe Boisvieux
Von Antje Stiebitz · 01.03.2020
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Im Hinduismus gibt es nicht nur sanftes Yoga und entspannendes Ayurveda, sondern auch eine uralte Form der Kampfkunst: "Kalaripayattu".
Die Anweisungen des Trainers Shinto Mathew tönen über den überdachten Sportplatz. Die Trainierenden verharren in der Pferde-Haltung der Kampfkunst Kalaripayattu, die meistens einfach nur kurz "Kalari" genannt wird. Shinto Mathew geht umher und korrigiert mit der Hand krumme Rücken. Drückt die schwitzenden Körper tiefer in Pose. Treibt an. Zwölf Schüler trainieren heute in der "Kalari Kendram", einer Kampfkunst-Schule in Neu-Delhi. Die südindische Kampfkunst erobert die nordindische Metropole.

Ursprünge im Mythos

Kalari gilt als die älteste Kampfkunst Indiens. Ihre Ursprünge können bis ins 3. Jahrhundert v. Chr. zurückverfolgt werden. Seitdem unterlag Kalari zahlreichen Einflüssen und wandelte sich ständig. Seine heutige Form entstand vermutlich im 11. Jahrhundert, wie Forscher anhand von Quellen rekonstruiert haben. Der Kalari-Guru Shinto Mathew erklärt den mythologischen Ursprung: "Die Geschichte des Kalaripayattu liegt in den Hindu-Religionen begründet. Es waren der Gott Parashurama und der Heilige Agastya, die diese Kampfkunst erdachten."
Parashurama bedeutet übersetzt "Rama mit der Axt". Er wird als die sechste Inkarnation des populären Gottes Vishnu angesehen. Parashurama soll seine Axt und die Kampfkunst Kalari von Gott Shiva empfangen haben. Der Mythos erzählt, dass er den Kampfstil aus dem nördlichen Kerala gründete. Dieser ist vor allem für den Einsatz von Waffen bekannt, beispielsweise Stock, Schwert oder Dolch.
Junge Männer in Sportsachen in einer Reihe: Sie machen einen Ausfallschritt und stützen sich dabei mit den Händen auf den Lehmboden, die Blicke aufmerksam geradeaus gerichtet.
Junge Kalari-Praktizierende beim Training: Viele der Positionen orientieren sich an Tierarten.© Antje Stiebitz
Der Weise Agastya hingegen gründete den Kalari-Stil aus dem südlichen Kerala. Der Asket soll im Wald umhergewandert sein, wo er sich gegen wilde Tiere behaupten musste. Also entwickelte er einen Kampfstil, der diese Tiere nachahmte. Deshalb kennt Kalari heute acht Tier-Positionen, beispielsweise den Eber, den Elefanten oder die Schlange.
Agastya gilt nicht nur als ausgezeichneter Krieger, sondern wird auch als Experte für Medizin verehrt. Shinto Mathew erklärt: "Kalaripayattu hat ein medizinisches Behandlungssystem, das auf Ayurveda beruht. Bei Ayurveda handelt es sich natürlich um ein großes Feld. Mit den Methoden des Kalari behandelt man normalerweise Menschen mit Sportverletzungen."

Kampfkunst mit spiritueller Tiefe

Kajol sitzt auf einer Holzbank auf dem Kalari-Trainingsplatz. Die 26-jährige gehört zu den fortgeschrittenen Schülern des Guru Shinto Mathew. Sie hat die Grundausbildung durchlaufen und lernt jetzt, wie man mit Waffen umgeht. Vor Kalari hatte sie bereits Unterricht in den Kampfsport-Arten Aicondo und Karate, in denen sie den Grad des braunen Gürtels erreicht hat. Doch Kalari, sagt die junge Frau, sei etwas Besonderes: "Nichts ist mit Kalari vergleichbar. Die anderen Kampfkünste sind viel oberflächlicher. Ich sage nicht, dass sie schlecht sind, aber sie berühren einen nicht so tief. In Kalari gibt es auch einen spirituellen Aspekt. Es geht um deinen Fokus und um das Leben."
Es ist ruhig auf dem Trainingsplatz. Nur zwei Sechsjährige tollen über den Lehmboden. Rund 20 Minuten dauert es noch bis zum Trainingsbeginn. Kajol übernimmt heute den Unterricht. Die junge Frau hockt vor einem stufig gemauerten Schrein in der vorderen, linken Ecke des Trainingsplatzes. Konzentriert, versunken, beinahe entrückt, inmitten der lärmenden Stadt. Sie füllt zwei Lampen mit Öl und entzündet sie. Sie berührt den Schrein mit der Hand und führt diese zur Stirn. Diese Geste wiederholt sie an zwei kleineren Schreinen, die sich gleich neben dem großen befinden.
Eine junge Frau in Sportkleidung kniet vor einem Schrein in Form einer runden Pyramide und entzündet eine Kerze.
Kajol, 26, gehört zu den fortgeschrittensten Kalari-Schülerinnen von Shinto Mathew.© Antje Stiebitz
Guru Shinto Mathew erklärt später, was es damit auf sich hat: "Diese Art des Tempels gibt es in allen Kalaripayattu-Zentren. Vor diesem Schrein bekunden wir unseren Respekt. Die heiligen Verse beschreiben, dass wir dort Blumen niederlegen." Dann wirft er einen Blick auf die beiden kleinen Altäre, neben dem großen, und fährt fort: "Diese gelten dem Elefanten-Gott Ganesha, dem Schlangengott Naga und den vorangegangenen Gurus. Wir stellen uns vor, dass wir ihren Segen bekommen während wir trainieren."

Die Götter segnen Selbstverteidigung, nicht Gewalt

Ohne die rituelle Präsenz der Götter ist die Praxis des Kalari nicht denkbar. Die Götter sind in den Trainings-Alltag, in den Jahreszyklus und in die verschiedenen Lernstufen der Kampfkunst eingebunden. Geben die Götter auch ihren Segen für die Ausübung von Gewalt? Jede Kampfkunst, antwortet Shinto Mathew, sei auf Selbstverteidigung ausgerichtet: "Echte Kampfkunst ist nie aggressiv, es geht nicht ums Töten. Ein Kämpfer wird das immer vermeiden und seine Fähigkeiten nur einsetzen, wenn es wirklich notwendig ist."
Er mache immer wieder die Erfahrung, dass aggressive Schüler durch das Training ausgeglichener und zurückhaltende Schüler selbstbewusster werden. Dann klatscht er in die Hände und wendet sich wieder seinen Schülern zu. Diese stellen sich nach der kurzen Pause für die nächste Übung auf.
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