Indiens berühmtester Fuß

Bei der Anprobe einer Prothese
Bei der Anprobe einer Prothese © picture alliance / dpa
Von Sandra Petersmann · 09.05.2012
Prothesen aus Europa und Nordamerika sind zwar hochmodern, aber sie sind viel zu teuer für amputierte Menschen in Indien. Deswegen haben ein Orthopäde und ein Handwerksmeister in Jaipur eine Bein-Prothese entwickelt, die auf die Verhältnisse in Entwicklungsländern zugeschnitten ist.
Die Mechaniker im Innenhof der Orthopädie-Werkstatt schneiden, fräsen, erhitzen, biegen und hämmern, während der 32-jährige Ramesh unsicher auf den Stumpf seines linken Unterschenkels schaut.

"Ich bin vom Zug gefallen. Ich wollte aus Neu Delhi zurück in mein Dorf, um meine Familie zu besuchen. Der Zug war voll. Ich habe mich von außen festgeklammert, aber ich bin runtergestoßen worden. Dabei habe ich mein Bein verloren."

Ramesh ist ein mittelloser Wanderarbeiter, der vom Land in die Stadt gezogen ist, um seine Familie durchzubringen. Wenn es vor seinem Unfall gut lief, verdiente der Tagelöhner bis zu zwei Euro am Tag. Aber seit er sein Bein verloren hat, kann er keine schweren Lasten mehr tragen und ist damit so gut wie arbeitsunfähig. Er humpelt mit alten Holzkrücken durchs Leben.

Neben ihm sitzt ein Bauer aus dem indischen Teil des Kaschmir-Tals, den es noch schlimmer getroffen hat. Mohammed Sadiq hat nur noch einen kleinen Oberschenkelstumpf. Alles begann mit Schmerzen in der rechten Hüfte und Lähmungserscheinungen im Bein. Der 37-jährige Bauer vertraute sich einem Quacksalber an, der einen Nerv durchtrennte, um die Schmerzen zu beenden. Der Patient bezahlte den Eingriff mit einer schlimmen Entzündung und dem Verlust seines Beines.

"Am Anfang konnte ich das Haus nicht verlassen und auch nicht draußen zur Toilette gehen. Ich komme aus einem kleinen Dorf in den Bergen. Bei uns gibt es keinen Strom. Unser Licht kommt aus Öllampen, da gibt es nirgendwo Hilfe für behinderte Menschen. Wir leben von unserer Büffelherde. Aber ich kann nicht mehr arbeiten."

Die beiden amputierten Männer hoffen auf den Jaipur-Fuß. Sie haben gehört, dass sie ihn hier in diesem unscheinbaren Hinterhof mitten in der indischen Hauptstadt umsonst bekommen. Der Orthopäde Sanjeev Kumar leitet die Werkstattklinik und berichtet stolz, dass sein Team in der Lage ist, bis zu 30 maßgeschneiderte Jaipur-Prothesen am Tag zu bauen.

"Unsere Patienten sind Dauerpatienten. Unsere Aufgabe ist es, ihnen ein möglichst normales Leben zu schenken , in dem wir sie mit Prothesen, Stützen und anderen Hilfsmitteln versorgen. Im Zentrum unserer Arbeit steht natürlich die Technologie des Jaipur-Fußes. Das heißt praktisch: Du kommst am Morgen, wir untersuchen und vermessen Dich, und am Abend kannst du mit deiner neuen Prothese nach Hause gehen."

Der Orthopäde arbeitet für die indische Hilfsorganisation Bhagwan Mahaveer Viklang, die den Jaipur-Fuß kostenlos produziert für bedürftige Patienten in Indien, aber auch für Landminen-Opfer in Afghanistan, Kambodscha, Sri Lanka oder Uganda. Jaipur-Prothesen bestehen vor allem aus Gummi, Plastik, Holz, Aluminium und Leder, also aus Materialien, die fast überall leicht zu beschaffen sind.

"Das bedeutet aber nicht, dass unsere Prothesen schlecht sind und nicht den technologischen Möglichkeiten entsprechen. Wir wollen uns und unser Produkt jeden Tag verbessern."

Seit seiner Entwicklung vor inzwischen über 40 Jahren ist der Jaipur-Fuß leichter und noch flexibler geworden. Geblieben ist sein Markenzeichen: Im Gegensatz zu den meisten westlichen Prothesen können Menschen mit dem beweglichen Kunstfuß aus Indien problemlos barfuss laufen und in wässrigen Reisfeldern arbeiten.

Je nach Bedarf bekommt der Patient eine maßgeschneiderte Ober- oder Unterschenkelprothese dazu. Das Gesamtpaket ist bei guter Pflege rund drei Jahre haltbar. Das alles für umgerechnet 35 Euro. Für die Kosten kommen der indische Staat und internationale Spender auf.

Ein neues Produkt der indischen Prothesen-Schmiede ist das sogenannte Jaipur-Knie, das in Zusammenarbeit mit der US-Elite-Uni Stanford entstanden ist. Das künstliche Knie besteht im wesentlichen aus ölgefülltem Nylon, vier Hart-Plastikteilen sowie fünf Schrauben und Muttern.

Das 15-Euro-Knie soll die Beweglichkeit von Oberschenkelprothesen erhöhen und das bodennahe Leben erleichtern, wie es in Asien üblich ist. Obwohl das neue Produkt noch im Test ist, hat das "TIME Magazine" das Jaipur-Knie bereits zu den 50 wichtigsten Erfindungen der letzten Jahre gewählt. Selbstverständlich glaubt auch Orthopäde Sanjeev Kumar an den Erfolg.

"Die einfache Jaipur-Technologie ist die Nummer eins in der Welt. Nirgendwo sonst kriegst du in einer Stunde eine Unterschenkelprothese und in vier Stunden eine Oberschenkelprothese. Unsere Prothesen sind funktional und billig und auf die Verhältnisse im ländlichen Indien zugeschnitten. Unsere Prothesen passen sich dem Leben in Entwicklungsländern an."

Inzwischen gibt es neben dem Hauptquartier in Jaipur in über 20 indischen Städten Prothesenzentren. Das in der Hauptstadt Neu Delhi gehört zu den größten. Jaipur-Teams reisen auch regelmäßig ins Ausland, um ihr Wissen weiterzugeben. Die Technologie ist ganz bewusst nicht patentiert. Sie soll Nachahmer finden, auch auf die Gefahr hin, dass schwarze Schafe das Produkt missbrauchen.
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