Indien schwarz-weiß gemalt

Der Debütroman von Aravind Adiga erzählt die Geschichte des amerikanischen Traums vom Tellerwäscher zum Millionär als indische Variante. Mit der Hauptfigur werden uns weniger der Glanz als vielmehr die Schattenseiten des modernen Indiens vor Augen geführt. Das Buch des Journalisten Adiga wurde bislang in 16 Sprachen übersetzt.
Der Weiße Tiger – das ist der Spitzname von Balram Halwai, seines Zeichens Ich-Erzähler und Hauptfigur im gleichnamigen Debütroman von Aravind Adiga. Denn so, wie der weiße Tiger eine Ausnahmeerscheinung ist, hat auch Balram das Unmögliche geschafft. Geboren als Sohn eines tuberkulösen Rikschafahrers in einem kleinen indischen Dorf im finsteren und unterentwickelten Bihar, gelingt es ihm, ganz nach oben aufzusteigen: Erst wird er der Fahrer eines reichen Mannes, in dessen Diensten er das Leben in Delhi kennen lernt, dann wird er selbst zu einem gewieften Unternehmer in Bangalore, dem Herzen des globalisierten ‚leuchtenden’ Indiens. Von diesem Aufstieg – der Befreiung eines Geknechteten, die übrigens nicht ohne Blutvergießen abläuft – handelt der Roman; geschildert in einem langen Brief, den Balram in sieben Nächten an den chinesischen Ministerpräsidenten verfasst.

Dieser ist nicht ohne Grund der Adressat. Denn laut Halwais Philosophie ist das 21. Jahrhundert – in dem sowohl China als auch Indien sich in machtvolle "global player" verwandelt haben – nicht nur das Jahrhundert des braunen und gelben Mannes. China repräsentiert für Balram zudem eine freie Nation: frei, weil sie bis dato keinem Herrn als sich selbst gehorcht hat. Und davon kann Indien, das ist die eigentliche Stoßrichtung des Romans, noch immer nur träumen. Denn mit Balram werden uns weniger der Glanz des modernen und in der globalisierten Welt verankerten Indiens vor Augen geführt als vielmehr dessen Schattenseiten: Korruption statt Demokratie, Ausbeutung der Armen statt Wohlstand für alle. Indiens neuer Reichtum, so Balram alias Adiga, wurzelt im Elend der Vielen, die fraglos dienen. Ein großer Hühnerkäfig, lautet Balrams Befund, aus dem niemand flieht, weil die Hackordnung von oben nach unten seit der britischen Kolonialzeit in die Herzen und Seelen eingebrannt ist.

Das ist thematisch starker Tobak, den Aravind Adiga, der für diesen mittlerweile in 16 Sprachen übersetzten Roman in Indien einen Rekordvorschuss von 35.000 Dollar erzielte, jedoch in literarisch eher leichte Kost umwandelt. Denn Adiga, 1974 in Madras geboren und von Haus aus Journalist u.a. für "Time Magazine" und "Financial Times", setzt weniger auf literarische Finesse denn auf den kräftigen Effekt der Unterhaltsamkeit: Sein Indien ist bewusst schwarz-weiß gemalt; zugleich könnte diese Geschichte an jedem Ort der globalisierten dritten Welt spielen, seine Figuren schwanken zwischen gekonnter Karikatur und fragwürdiger Stereotypie, sein Ton zwischen Satire und naivem Schulaufsatz. Und so ist auch sein Roman letztlich Sinnbild genau des globalen Indiens gegen das Aravind Adiga literarisch zu Felde zu ziehen vorgibt. Allein das schon macht den Roman auf seine Weise lesenswert.

Rezensiert von Claudia Kramatschek

Aravind Adiga: Der weiße Tiger. Roman.
Aus dem Englischen von Ingo Herzke.
C.H. Beck Verlag 2008. 320 S., 19,90 €