Indien

Rechtsruck, aber keine nationalistische Charta

Christian Wagner im Gespräch mit Marietta Schwarz · 07.04.2014
Bei den Parlamentswahlen in Indien könne die rechtskonservative BJP als stärkste Kraft hervorgehen. Eine massive Unterdrückung religiöser Minderheiten sei dennoch nicht zu befürchten, glaubt der Asien-Experte Christian Wagner. Die Partei werde nicht mehr als 30 Prozent der Stimmen erlangen.
Marietta Schwarz: Über 800 Millionen Inder sind ab heute zur Parlamentswahl aufgerufen – ab heute, denn diese Wahl in der größten Demokratie der Welt dauert knapp sechs Wochen. Am 16. Mai wird mit dem Ergebnis gerechnet. Was diese Wahl vielleicht spannender macht als die vorigen ist die Tatsache, dass die regierende Kongresspartei erstmals nach Jahrzehnten ihre Mehrheit im Parlament zu verlieren droht. Glaubt man den Umfragen, liegt die BJP, die Indische Volkspartei, mit ihrem Spitzenkandidaten Narendra Modi vorne – eine Partei, die an vielen Gewaltaktionen gegen religiöse Minderheiten in der Vergangenheit beteiligt war. Worum geht es in diesen Wahlen und woher kommt die Wechselstimmung in Indien? Fragen dazu an Christian Wagner. Er ist Forschungsgruppenleiter Asien bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). Herzlich willkommen im Studio, Herr Wagner!
Christian Wagner: Guten Morgen!
Schwarz: Was würden Sie sagen, Herr Wagner, Sie waren jetzt gerade in Indien, wie ist dieser Wahlkampf verlaufen, wie hat man sich das überhaupt vorzustellen?
Wagner: Ja, der Wahlkampf war natürlich sehr stark von den Personen der Spitzenkandidaten geprägt. Es gibt eigentlich einen, ja, man könnte sagen einen Dreikampf zwischen drei Kandidaten: Auf der einen Seite Narendra Modi, der Herausforderer der BJP, auf der anderen Seite Rahul Gandhi, der nicht als Spitzenkandidat dann von der Kongresspartei in den Vordergrund geschoben wurde, weil vermutlich Sonia Gandhi, seine Mutter, die Parteiführerin, deutlich gesehen hat, er wird diese Wahl nicht gewinnen, er war auch bislang kein erfolgreicher Politiker. Und als dritte Person Arvind Kejriwal, der Parteivorsitzende der Aam Aadmi Partei, der Partei des kleinen Mannes, der natürlich durch seine kurze Regierungszeit an der Landesregierung in Delhi hier national für sehr stark Furore gesorgt hat. Also man wird abwarten, wie das Rennen hier ausgeht. Die Umfragen zeigen natürlich ganz deutlich ein Übergewicht für Herrn Modi.
Schwarz: Aber wie gewinnt man eigentlich Stimmen in Indien?
Stimmenkauf, Bestechung, Korruption "relativ effektiv" bekämpft
Wagner: Ja, es ist natürlich sehr schwer, weil sehr viel hängt dann doch an den Personen, an den Abgeordneten. Wir haben ja ein einfaches Mehrheitswahlrecht, das heißt, es werden einfach die Abgeordneten gewählt, 543 mittlerweile. Es gab natürlich in der Vergangenheit immer wieder Stimmenkauf, Bestechungsversuche, Korruptionsvorwürfe. Hier versucht die Wahlkommission mittlerweile solchen Praktiken eigentlich relativ effektiv einen Riegel vorzuschieben. Die Wahlkommission gilt als vergleichsweise unabhängig und neutral, hat angekündigt, dass man in diesem Wahlkampf noch mal verstärkt auf den Einfluss von Schwarzgeld achten wird. Ansonsten hängt natürlich viel von den jeweiligen lokalen Persönlichkeiten, von den Abgeordneten ab. Und natürlich gibt es auch immer eine Reihe von Wahlversprechungen. Es steht eben ganz klar im Vordergrund die wirtschaftliche Entwicklung, und hier soll es den Wählern natürlich nach der nächsten Wahl deutlich besser gehen.
Schwarz: Die BJP, die gilt ja in dieser Wahl als Favorit, die Indische Volkspartei, eine Partei der extremistischen Hindus sagen viele. Warum hat eine Partei Chancen auf den Sieg, die, ja, das Kastenwesen manifestiert und viele dunkle Flecken in ihrer jüngeren Geschichte hat?
Wagner: Ja, die BJP ist vielleicht nicht ganz eine Partei der Extremisten. Sagen wir, sie steht sicherlich rechts von der Mitte, ja. Sie wird aber natürlich von extremistischen Gruppen unterstützt. Das ist ein Vor- und ein Nachteil für die Partei. Es ist ein Vorteil, weil natürlich eine Reihe von rechtsextremistischen Gruppen einfach die Wahlkampforganisation für die BJP-Kandidaten übernehmen in den Wahlkreisen. Es ist natürlich ein Nachteil für die Partei, weil sie auf diese Art und Weise immer wieder mit den extremen Formen von Hindu- und Nationalismus sich auseinandersetzen muss. Hier wird man auch sehen, wie es Herrn Modi gelingen wird, dieses Spannungsverhältnis auszubalancieren. Wenn er die Wahl gewinnen sollte, wird er sicherlich keine absolute Mehrheit bekommen.
Das heißt, er ist auf jeden Fall angewiesen auf Regionalparteien, und die Regionalparteien sind natürlich sehr viel gemäßigter. Die Regionalparteien haben relativ viele oder vertreten in ihren Bundesstaaten immer wieder auch muslimische Minderheiten. Und Sie wissen natürlich, dass sie sich auf eine allzu hindunationalistische Charta nicht einlassen können. Also die BJP profitiert hier zum einen sicherlich von der Unzufriedenheit mit der Regierung, ja, von der Stärke ihres Kandidaten, ja. Aber es bleibt natürlich dann abzuwarten, wie viel Sitze Modi wirklich erringen wird, und ob er damit auch genug an Regionalparteien für eine künftige Koalitionsregierung gewinnen kann.
Schwarz: Welche Konsequenzen hätte denn ein Wahlsieg der BJP für die unteren Kasten, für die Dalits, aber auch für die Christen und Muslime?
Es kommt in jedem Fall zu einer Koalitionsregierung
Wagner: Ja, hier befürchtet man natürlich sicherlich, dass es zulasten vor allem der religiösen Minderheiten gehen wird. Es wird aber vermutlich nicht ganz so extrem eintreten, wie wir das vielleicht befürchten, weil es natürlich auf jeden Fall zu einer Koalitionsregierung kommt und diese Koalitionsparteien einfach einen, ja, dämpfenden Einfluss auf eine allzu starke hindunationalistische Agenda haben werden.
Ein zweiter Punkt: Selbst wenn Herr Modi gewinnt – und er wird sicherlich… oder die BJP wird sicherlich stärkste Partei werden –, dann wird sie auch den Auftrag zur Regierungsbildung erhalten, wird sie doch als Partei vermutlich nicht mehr als 30 Prozent der Stimmen erhalten. Das heißt, man muss sich immer klarmachen, 70 Prozent der Inder wählen Herrn Modi nicht. Er hat dieses Thema im Wahlkampf bewusst sehr niedrig gehalten. Er hat immer wieder auf die Erfolge seines eigenen Bundesstaates Gujarat hingewiesen. Er will eigentlich ganz Indien in ein, ja, in ein Modell Gujarat umwandeln – eben auch mit dem wirtschaftlichen Erfolg dieses Bundesstaates. Und deshalb wird man vielleicht auch davon ausgehen können, dass die hindunationalistische Prägung jetzt nach diesen Wahlen vielleicht weniger an Bedeutung hat, weil wir eben wie gesagt auch dämpfende Einflüsse vor allem dann über die Regionalparteien haben werden.
Schwarz: Was würden Sie sagen, Herr Wagner, ist die große politische Herausforderung für die Zukunft in Indien? Ist es größeres Wirtschaftswachstum?
Drängendste Aufgaben: Wirtschaftswachstum und Bekämpfung der Korruption
Wagner: Ja, das ist sicherlich eines der ganz zentralen Probleme. Man weiß seit der Liberalisierung Anfang der 90er-Jahre, dass es ohne ein Mehr an Wachstum nicht gehen wird. Man darf ja nicht vergessen, wenn wir zum Beispiel Indien im Kontext der Schwellenländer betrachten, im Kontext der BRIC-Staaten – also Brasilien, Russland, Indien, China –, dann ist Indien mit weitem Abstand das ärmste Land von allen Ländern, selbst China ist in allen Sozial- und Wirtschaftsindikatoren deutlich weiter. Also das ist ein ganz großes Thema. Man darf auch nicht übersehen: Circa 70 Prozent der indischen Bevölkerung leben immer noch von weniger als zwei Dollar am Tag. Das heißt, wir haben hier eigentlich in großen Bereichen der Bevölkerung kein wirklich nachhaltiges Wirtschaftswachstum oder keine Teilhabe am Wirtschaftswachstum der letzten Jahre gesehen.
Das zweite große Thema ist sicherlich der Kampf gegen die Korruption. Auch hier tritt Modi natürlich an und will natürlich eine bessere Regierungsführung, will natürlich Reformen durchsetzen, zumal eben auch die Partei des kleinen Mannes, die Aam Aadmi Party, dieses Thema massiv in den Wahlkampf eingeführt hat und damit natürlich sowohl gegen Modi und die BJP, aber natürlich vor allem auch gegen die regierende Kongresspartei sich hervorgetan hat.
Schwarz: Christian Wagner, Forschungsgruppenleiter Asien der Stiftung Wissenschaft und Politik. Herr Wagner, danke, dass Sie gekommen sind.
Wagner: Vielen Dank!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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