Indien

Demokratie ohne Gerechtigkeit

Ein Junge erhält die Kinderlähmung-Schluckimpfung und sperrt den Mund auf.
Viel zu wenige Kinder in Indien erhalten Schutzimpfungen. © dpa
Von Barbara Wahlster · 06.02.2015
Obwohl sich Indien in den vergangenen Jahrzehnten wirtschaftlich und politisch entwickelt hat, ist die Unterschicht noch immer von großem Elend geprägt. In ihrem Buch erklären die Ökonomen Jean Drèze und Amartya Sen, woher diese Ungleichheit kommt.
Spricht man mit indischen Intellektuellen über Verwerfungen und Entwicklungen in ihrem Land, lautet eine der gängigen Erklärungen, dass jeder Satz über indische Wirklichkeiten nicht ohne sein genaues Gegenteil gelten könne. Und sie scheuen nicht davor zurück, Klasse, Kaste und Geschlecht zu den alles entscheidenden Kriterien für Ungleichheit und Fehlentwicklungen in der Gesellschaft zu erklären.
Dass genau sie gesellschaftliche Normen und Wertesysteme bis heute prägen und die Entwicklungen hin zu mehr sozialer Gerechtigkeit verhindern, zeigen letztlich auch der indische Philosoph und Wirtschaftsnobelpreisträger Amartya Sen sowie der belgisch-indische Entwicklungsökonom Jean Drèze in ihrer materialreichen und immer wieder verblüffenden Studie. Auf den unterschiedlichsten Feldern gehen sie der Frage nach, warum trotz des zeitweise rasanten Wirtschaftswachstums "die Mehrheit der indischen Bevölkerung bei der Verbesserung des Lebensstandards abgehängt (bleibt)" und warum die "kaum fassbare Disparität zwischen den Privilegierten und dem Rest" weiterbesteht. Dabei machen sie deutlich, dass sowohl die indischen Mainstream-Medien als auch die Mittelschichten (und damit auch die Politik) geradezu blind sind angesichts katastrophaler Lebensverhältnisse der Mehrheit: mangelnde Hygiene (bis hin zu fehlenden Toiletten), ungenügende Gesundheitsversorgung, Bildungsdefizite ohnegleichen, Hunger, Armut.
Kindersterblichkeit höher als in Afghanistan
Als gute Wirtschaftswissenschaftler arbeiten die Autoren mit einer Fülle von Statistiken (erstellt von Weltbank, Unicef, indischem Zensus und anderen) und versuchen im Vergleich mit anderen Ländern, die Situation in Indien genauer zu erfassen. So wird deutlich, dass selbst in der Gruppe der ärmsten Nationen mit niedrigerem Bruttonationaleinkommen pro Kopf - unter anderem Afghanistan, Bangladesh, Haiti, Jemen – Indien schlechter dasteht, was etwa Kindersterblichkeit, Alphabetisierungsgrad, Schutzimpfungen und Untergewicht bei Kindern angeht. Selbst Vietnam oder Nepal schneiden besser ab. Mithilfe des Vergleiches, so die Autoren, ließe sich genauer verstehen, was zur Stagnation in Indien beitrage. Für Bangladeschs sozialen Fortschritt machen sie höhere Alphabetisierung unter Frauen, höhere Erwerbstätigkeit und bessere Vertretung in den politischen Gremien verantwortlich, wohingegen "die geschlechterbezogenen Verzerrungen, die Benachteiligung von Mädchen, fortbestehen" in Indien. Dazu gehört, dass sie als Opfer (etwa von Vergewaltigung) keine Unterstützung erfahren, Polizei, Justiz und Gesellschaft weitgehend gleichgültig sind. Ähnliches gilt für Dalits, Mitglieder unterster Kasten, sowie für indigene Volksgruppen, die Adivasi.
Dass es erfolgreiche Strategien gegen die "elitäre Einseitigkeit der staatlichen Politik" gibt, beweisen nicht zuletzt die drei Staaten Himachal Pradesh, Tamil Nadu und Kerala mit ihren Maßnahmen. In ihrem "Plädoyer für Ungeduld" liefern die Autoren Argumente zum aufgeklärten öffentlichen Vernunftgebrauch, um mit einem Wahrnehmungs- und Politikwandel dem Versagen der Demokratie Einhalt zu gebieten.

Jean Drèze, Amartya Sen: Indien. Ein Land und seine Widersprüche
Aus dem Englischen von Thomas Atzert und Andreas Wirthensohn
C.H.Beck Verlag, München 2014
376 Seiten, 29,95 Euro

Mehr zum Thema