Indiana Jones der Friedhöfe
Krimis, in denen Gerichtsmediziner ermitteln, sind seit einiger Zeit recht beliebt. Nur sind die Geschichten ausgedacht – im Gegensatz zu denen des französischen Arztes Philippe Charlier. Er hat sich im echten Leben mit der Aufklärung kniffliger historischer Fälle einen Namen gemacht.
Im Seminarraum der Abteilung für Pathologische Anatomie sitzt ein gutes Dutzend Frauen und Männer um einen langen Konferenztisch. – Teilnehmer eines Uni-Seminars mit der gruseligen Überschrift „Verletzungen, Prozesse der Einbalsamierung und des Ausweidens“. Konzentriert lauschen sie dem Vortrag des großen schlanken Mannes, der mechanisch an der Längsseite des Tisches auf und ab geht.
Philippe Charlier – Gerichtsmediziner und Uni-Dozent, 34 Jahre, grau-blaue Augen, gestutzter Vollbart. In seinem knielangen weißen Kittel wirkt er ein bisschen wie ein verkleideter Student, der einen Professor mimt. Doch der Mann mit den feinen Gesichtszügen ist eine Koryphäe auf seinem Spezialgebiet. Er beschäftigt sich mit menschlichen Überresten längst vergangener Epochen, untersucht Mumien und Skelette mit den Mitteln der modernen Gerichtsmedizin. Paläopathologie nennt sich die junge Wissenschaft.
Charlier, der sich schon als Teenager für Geschichte und Archäologie interessiert, entdeckt die wissenschaftliche Disziplin während seines Medizinstudiums und sattelt um. Statt – wie sein Vater – Allgemeinarzt zu werden, entscheidet sich der Student für die Gerichtsmedizin.
„Ich wollte Wissen und Techniken der modernen Gerichtsmedizin für archäologische und anthropologische Recherchen nutzen. Als Anthropologe kann ich sagen, welches Geschlecht und Alter ein Skelett oder eine Mumie hat. Aber ich wollte darüber hinaus wissen, welche Krankheiten der Mensch eventuell in seinem Leben hatte und woran er gestorben ist.“
Philippe Charlier steckt seine blassen Hände in die Kitteltaschen, geht kerzengerade, fast steif hinüber zum Projektor in der Ecke des Raums. Er zeigt seinen Kursteilnehmern Aufnahmen vom aufgesägten Totenschädel König Ludwigs XI. Das Öffnen eines Schädels ist Teil der Vorbereitungen der Leiche für die Einbalsamierung, aber auch ein Klassiker der Autopsie, erfahren sie.
Plötzlich greift Charlier nach dem Kopf eines Studenten. Der fährt erschrocken zusammen, zieht die Schultern hoch. Aber Doktor Charlier lässt nicht locker.
„Keine Sorge!“ – Der sonst so unterkühlt wirkende Gerichtsmediziner grinst breit, dreht den Kopf des hilflosen Studenten hin und her, erklärt ausgiebig die ideale Sägetechnik. Er gibt sogar eine akustische Kostprobe: das finale Geräusch, wenn die Schädeldecke vom Halswirbel abgetrennt wird. Schwarzer Humor? Berufliche Deformierung? Charlier wiegelt ab.
„Ich mache keine Witze über meine Arbeit in der Gerichtsmedizin! Weil, ich habe nicht das Recht, mich über meine Patienten lustig zu machen. Im Gegenzug versuche ich in meinen Uni-Kursen die Atmosphäre zu entspannen, Tabus im Zusammenhang mit dem Tod etwas zu lockern.“
„Indiana Jones der Friedhöfe“ wird Charlier häufig genannt. Der Gerichtsmediziner widmet sich mit Vorliebe den großen Stars der französischen Geschichte. Unter anderem hat er die Reliquien der heiligen Johanna von Orleans als Fälschung enttarnt. Er hat auch herausgefunden, dass Agnès Sorel – Mätresse Karls VII. – keines natürlichen Todes gestorben ist. Die blonde Schönheit, die sich bei Hofe gern barbusig zeigte, wurde mit Quecksilber vergiftet.
„Ganz gleich, ob ich an einem kürzlich verstorbenen Menschen aus der Gerichtsmedizin arbeite, einem archäologischen Leichenfund oder historischen Fall – ich habe jedes Mal das Gefühl, einen Ausschnitt des Lebens vor mir zu haben, das Leben einer Persönlichkeit zu erforschen, die Umstände ihres Todes. Ich mag das Abtauchen in die ‚Menschliche Komödie‘“
Sein bisher spektakulärster Fall, veröffentlicht im angesehenen Wissenschaftsmagazin Nature: die Identifizierung des Kopfes von Heinrich IV. Seit der französischen Revolution galt das königliche Haupt des Königs als verschollen. Bis 2010 zwei Journalisten an die Tür Philippe Charliers klopfen. Sie setzen ihm einen mumifizierten Männerkopf vor, der 1919 bei einer Pariser Auktion für drei Franc versteigert wurde – als Kopf des „guten“ König Heinrichs.
Begleitet von Fernsehkameras recherchieren Experte Charlier und die Journalisten die Identität des geheimnisvollen Kopfes. Der Gerichtsmediziner entnimmt DNA-Proben, scannt, röntgt, analysiert Gewebe mit Isotopenuntersuchungen. Charlier bestellt sogar zwei sogenannte „Nasen“ renommierter Pariser Parfümhäuser. Die sollen die Gerüche des ledernen Kopfes erschnüffeln, um der rätselhaften Einbalsamierungsmethode auf die Spur zu kommen, die ebenfalls wichtige Rückschlüsse auf die Identität des Kopfes erlaubt.
„Ein Jahr haben die Recherchen gedauert. 23 wissenschaftliche Argumente haben wir zusammenbekommen, die belegen, dass es sich um den Kopf Heinrichs IV. handelt. Wir sind also absolut sicher, dass es der richtige Kopf ist.“
Der ehrgeizige Gerichtsmediziner arbeitet nicht im Elfenbeinturm. Er mag und sucht die Öffentlichkeit. Als wolle er sich des unheimlichen Images seines Berufes entledigen. Deswegen hat Charlier auch nichts gegen die populären Krimiserien, in denen Gerichtsmediziner statt Polizisten ermitteln, Kameras unaufhörlich bläuliche Leichen mit geöffneten Brustkörben fokussieren.
„Die Leute begreifen, dass die Arbeit eines Gerichtsmediziners überhaupt nicht minderwertig, dreckig oder unangenehm ist, sondern eine echte intellektuelle Herausforderung. Sie sind oft fasziniert, finden die Gerichtsmedizin attraktiv. Aber natürlich haben die Fernsehserien wenig mit unserem Alltag zu tun. Studenten, die zu uns kommen, weil sie die Serien gesehen haben, sind in der Regel eher enttäuscht. Wir sind längst nicht so sexy, unsere Räume, unsere Kittel nicht so schick. Alles weniger perfekt. Ich persönlich finde es aber besser als im Fernsehen.“
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Charlier, der sich schon als Teenager für Geschichte und Archäologie interessiert, entdeckt die wissenschaftliche Disziplin während seines Medizinstudiums und sattelt um. Statt – wie sein Vater – Allgemeinarzt zu werden, entscheidet sich der Student für die Gerichtsmedizin.
„Ich wollte Wissen und Techniken der modernen Gerichtsmedizin für archäologische und anthropologische Recherchen nutzen. Als Anthropologe kann ich sagen, welches Geschlecht und Alter ein Skelett oder eine Mumie hat. Aber ich wollte darüber hinaus wissen, welche Krankheiten der Mensch eventuell in seinem Leben hatte und woran er gestorben ist.“
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„Keine Sorge!“ – Der sonst so unterkühlt wirkende Gerichtsmediziner grinst breit, dreht den Kopf des hilflosen Studenten hin und her, erklärt ausgiebig die ideale Sägetechnik. Er gibt sogar eine akustische Kostprobe: das finale Geräusch, wenn die Schädeldecke vom Halswirbel abgetrennt wird. Schwarzer Humor? Berufliche Deformierung? Charlier wiegelt ab.
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Begleitet von Fernsehkameras recherchieren Experte Charlier und die Journalisten die Identität des geheimnisvollen Kopfes. Der Gerichtsmediziner entnimmt DNA-Proben, scannt, röntgt, analysiert Gewebe mit Isotopenuntersuchungen. Charlier bestellt sogar zwei sogenannte „Nasen“ renommierter Pariser Parfümhäuser. Die sollen die Gerüche des ledernen Kopfes erschnüffeln, um der rätselhaften Einbalsamierungsmethode auf die Spur zu kommen, die ebenfalls wichtige Rückschlüsse auf die Identität des Kopfes erlaubt.
„Ein Jahr haben die Recherchen gedauert. 23 wissenschaftliche Argumente haben wir zusammenbekommen, die belegen, dass es sich um den Kopf Heinrichs IV. handelt. Wir sind also absolut sicher, dass es der richtige Kopf ist.“
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